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Weg in den Überwachungsstaat?Massive Bedenken gegen geplantes NRW-Polizeigesetz

Lesezeit 6 Minuten
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Eine Verkehrskontrolle der Polizei

  1. Michael Bertrams schreibt für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ als Gastautor
  2. Die geplanten erweiterten behördlichen Befugnisse im Polizeigesetz geben dieser Zeitung Anlass zu einer Debatte über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit.

Am 26. April hat der Düsseldorfer Landtag in erster Lesung über einen Gesetzentwurf der Landesregierung zur Änderung des Polizeigesetzes beraten. Mit diesem Entwurf soll die von CDU und FDP in ihrem Koalitionsvertrag getroffene Vereinbarung umgesetzt werden, in der Sicherheitspolitik „neu zu starten“ und im Rahmen einer „Null-Toleranz-Politik“ durch „gezielte und konsequente Maßnahmen“ dem islamistischen Terror sowie der Alltagskriminalität entgegenzutreten, ohne dabei „die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit“ aus dem Auge zu verlieren.

Verdachtsunabhängige Stichkontrollen

Davon ausgehend, sieht der Entwurf zahlreiche Verschärfungen des geltenden Polizeirechts vor. So soll es um den Begriff der „drohenden Gefahr“„ und der „drohenden terroristischen Gefahr“ erweitert werden. Danach soll ein polizeiliches Einschreiten bereits dann zulässig sein, „wenn im Einzelfall hinsichtlich einer Person bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person innerhalb eines absehbaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierte Weise eine Straftat von erheblicher Bedeutung begehen wird“.

Vorgesehen sind ferner „Strategische Fahndungen“. Darunter sind anlassbezogene, aber verdachtsunabhängige Anhalte- und Sichtkontrollen im öffentlichen Verkehrsraum zu verstehen. Außerdem soll künftig eine Videobeobachtung auch an Orten zulässig sein, an denen tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass dort Straftaten von erheblicher Bedeutung verabredet, vorbereitet oder begangen werden. Darüber hinaus ist eine „präventiv-polizeiliche Telekommunikationsüberwachung (TKÜ)“ beabsichtigt.

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Sie erlaubt es der Polizei, ohne Wissen der betroffenen Person deren Telekommunikation zu überwachen und aufzuzeichnen sowie auf verschlüsselte Telekommunikationsinhalte zuzugreifen – wie etwa Internet-Telefonate oder WhatsApp-Chats (sogenannte Quellen-TKÜ).

Vorgesehen sind schließlich präventiv-polizeiliche orts- und gebietsbezogene Aufenthaltsanordnungen oder Kontaktverbote gegen mutmaßliche Gefährder, die Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung (sogenannte Fußfessel), die Ingewahrsamnahme in Fällen drohender (terroristischer) Gefahr sowie eine Verlängerung des Gewahrsams zur Gefahrenabwehr bis zu sieben Tagen, bei drohender terroristischer Gefahr bis zu einem Monat.

Der Gastautor

Michael Bertrams, geboren 1947, war von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen. Als Kolumnist des „Kölner Stadt-Anzeiger“ schreibt er in seiner Reihe „Alles, was Recht ist“ regelmäßig über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.

Diese Verschärfungen sollen angesichts der anhaltenden Bedrohungen durch islamistischen Terror und wachsende Organisierte Kriminalität dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung Rechnung tragen und die Wehrhaftigkeit des freiheitlichen Staates unter Beweis stellen. Gegen diese Zielsetzung ist nichts einzuwenden, gehört es doch zu den primären Aufgaben des Staates, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Doch wie weit darf der Gesetzgeber in einem Rechtsstaat gehen, um dieses Ziel zu erreichen?

Glaubt man Sicherheitsexperten, muss der Staat mit Blick auf die genannten Bedrohungen bei seiner Gefahren- und Risikovorsorge in größerem Umfang als bisher präventiv tätig werden und die Eingriffsschwelle vorverlegen. Er muss mit anderen Worten versuchen, durch eine möglichst breitflächige Überwachung im Vorfeld konkreter Gefahrenlagen ein Mehr an Sicherheit zu gewinnen.

Eingriffe in die Grundrechte der Bürger

Doch damit sind – wie die vorgesehenen Verschärfungen unschwer erkennen lassen – zwangsläufig Eingriffe in die Grundrechte der Bürger und Einbußen an Freiheit verbunden. Eben diese Grundrechte und die Freiheit der Bürger zu schützen, ist aber neben der Gewährleistung von Sicherheit gleichfalls eine Kernaufgabe des freiheitlichen Staates. Angesichts dessen stellt schon die Verfassung den Gesetzgeber vor die schwierige Aufgabe, zwischen Sicherheit und Freiheit jene „angemessene Balance“ herzustellen. Innenminister Herbert Reul (CDU) ist der Auffassung, der Entwurf der Landesregierung zur Reform des Polizeigesetzes halte diese Balance. Ich habe daran erhebliche Zweifel.

Die „drohende Gefahr“

Dreh- und Angelpunkt meiner Bedenken ist die den Entwurf prägende Neuschöpfung einer „drohenden Gefahr“. Sie verändert das geltende Polizeirecht im Kern und senkt die Schwelle für ein polizeiliches Eingreifen erheblich. Das geltende Polizeirecht unterscheidet zwischen abstrakten und konkreten Gefahren, und es erlaubt Eingriffe in die Grundrechte der Bürger grundsätzlich nur bei einer „konkreten“ Gefahr.

Eine solche liegt dann vor, wenn in einer konkreten Situation mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit dem Eintritt eines Schadens zu rechnen ist. Ein Beispiel für eine konkrete Gefahr: Ein Raucher hält sich mit brennender Zigarette in der Nähe einer Zapfsäule auf. Es besteht die konkrete Gefahr, dass sich aufgrund des offenen Feuers das Benzin in der Zapfsäule entzündet und es dadurch zu einem Brand kommt. Demgegenüber soll es nunmehr bereits genügen, wenn das individuelle Verhalten einer Person die Annahme rechtfertigt, von ihr werde in absehbarer Zeit eine Gefahr ausgehen.

„Drohendende Gefahr“ klingt zwar gefährlicher als „konkrete Gefahr“, gemeint ist damit aber ganz im Gegenteil eine Situation, in der es an einer konkreten Gefahr gerade fehlt. Die „drohende Gefahr“ liegt also vielmehr auf der Ebene einer „abstrakten Gefahr“, bei der lediglich anzunehmen ist, dass sich aus einer Sachlage nach allgemeiner Lebenserfahrung eine konkrete Gefahr ergeben kann. Auch hierzu ein Beispiel: Das Rauchen in der Nähe von Zapfsäulen ist dazu geeignet, Benzin zu entzünden und einen Brand zu verursachen. Von Autofahrern, die an Tankstellen rauchen, geht deshalb eine abstrakte Gefahr aus.

Die Begründung geht an Karlsruhe vorbei

Solche abstrakten Gefahren genügen aber grundsätzlich nicht, um polizeiliche Eingriffe in die Grundrechte der Bürger zu legitimieren. Die Ermächtigung zum polizeilichen Eingreifen bei „drohender Gefahr“ führt mithin in der Balance von Freiheit und Sicherheit zu einer gravierenden Veränderung zulasten der Freiheit und damit zur Preisgabe einer rechtsstaatlichen Errungenschaft.

In der Gesetzesbegründung wird darauf verwiesen, die Einführung einer „drohenden Gefahr“ orientiere sich an den Grundsätzen, die das Bundesverfassungsgericht 2016 zum Bundeskriminalamtsgesetz aufgestellt hat. Dieser Hinweis geht jedoch fehl. Karlsruhe hat in seinen Ausführungen zur Absenkung der Gefahrenlediglich auf terroristische Straftaten bezogen. Der Entwurf der Landesregierung hingegen umfasst ausdrücklich auch den Bereich der allgemeinen Kriminalität.

Welche weitreichenden Auswirkungen die Senkung der polizeilichen Eingriffsschwelle hat, macht die vorgesehene Verschärfung der Präventivhaft besonders deutlich. Danach genügt künftig allein schon eine „drohende Gefahr“, um vorbeugend in Haft genommen zu werden. Dies ist mit dem Freiheitsgrundrecht aus Artikel 2 des Grundgesetzes (GG) nicht vereinbar. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Freiheitsentziehung einer richterlichen Kontrolle unterliegt. Eine Präventivhaft aufgrund „drohender Gefahr“ verstößt überdies gegen Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Nach der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) kommt eine Präventivhaft nur ausnahmsweise unter der Voraussetzung in Betracht, dass Ort und Zeitpunkt der bevorstehenden Straftat sowie ihre potenziellen Opfer hinreichend konkretisiert wurden. Dies ist bei einer lediglich „drohenden Gefahr“ ersichtlich nicht der Fall, da bei ihr weder Ort noch Zeitpunkt noch potenzielle Opfer hinreichend konkretisiert sind. Die EMRK hat zwar lediglich den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch die Anforderungen der Konvention in seine eigene Rechtsprechung übernommen. Dementsprechend sind alle staatlichen Stellen an die restriktiven Vorgaben des EGMR für Präventivhaft gebunden, auch der nordrhein-westfälische Gesetzgeber.

Ein Eingriff in die private Lebensgestaltung

Erhebliche Bedenken habe ich auch gegen einen präventiven Zugriff auf verschlüsselte Telekommunikationsinhalte (Quellen-TKÜ). Auf Bundesebene wurde eine solche Möglichkeit 2017 in die Strafprozessordnung aufgenommen. Ich sehe darin einen mit der Menschenwürdegarantie (Artikel 1 GG) und dem Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10 GG) nicht vereinbaren Eingriff in den Kernbereich privater Lebensgestaltung. Man darf gespannt sein, wie sich Karlsruhe hier positionieren wird. Klagen gegen die bundesrechtliche Regelung haben das höchste deutsche Gericht bereits erreicht.

Der Entwurf der Landesregierung liegt nunmehr den Fachausschüssen des Landtags zur Beratung vor. Es bleibt zu hoffen, dass es zu Korrekturen kommt. In seiner jetzigen Fassung unterhöhlt der Entwurf den Rechtsstaat und führt unser Land auf den Weg in den Überwachungsstaat.