AboAbonnieren

Verdrängende Architektur„Die Armen werden aus dem öffentlichen Raum vertrieben“

Lesezeit 8 Minuten
mülheim-kirche-verdrängende-architektur-eku

Köln – Fabio sitzt im Schneidersitz vor einem Discounter in Köln. Angestrengt zählt er die Münzen in seiner Hand. Er scheint weggetreten. „Heute Morgen warst du wacher, oder?“, fragt ihn Franco Clemens, Sozialarbeiter und Streetworker beim Verein „Heimatlos in Köln“. Fabio ist wohl keine 30 Jahre alt. Er zupft an seinem grauen Pullover. Den trage er nun seit einer Woche, der habe schon überall Flecken, sagt er. Die graue Hose hat er aus der Schmutzwäsche gezogen. Seit einer Woche hat Fabio nicht gewaschen.

Eine freundlich lächelnde Frau wirft etwas Geld in den Pappbecher, der zu Fabios Füßen steht. Passanten werden annehmen, Fabio sei obdachlos. Doch das stimmt nicht. Er hat ein Zimmer mit Bad. Im Haus gibt es auch eine Waschmaschine. Aber er kann seit Tagen das Geld für Waschmittel nicht aufbringen. „Das ist teuer“, sagt er. Vor anderen Supermärkten wäre er vertrieben worden. Hier duldet man ihn gerade.

„Es gibt definitiv vielerorts eine Verdrängungsarchitektur“

Nach Angaben des Sozialdezernats gibt es aktuell 300 Obdachlose in Köln und 7200 wohnungslose Menschen. Das bedeutet, dass sie bei Freunden und in wechselnden Unterkünften unterkommen, aber keine eigene feste Wohnung haben. Fabio zählt also zu keiner dieser beiden Gruppen. Trotzdem spielt sich sein Leben auf der Straße ab.

Alles zum Thema Wiener Platz

Wenn man sich die Frage stellt, wie Köln mit seinen Obdachlosen umgeht, schließt das auch ihn mit ein. Wo Köln seine Obdachlosen haben möchte, und wo nicht, ist an der Architektur der Stadt abzulesen. An Gittern vor Geschäften, vor Kirchen und Mietshäusern. An Steinplatten, die versperren, was früher als Schlafplatz diente. An Bänken, durch die Gitter verlaufen – oder die ganz abmontiert wurden.

tunisstraße-parkhaus-eku

Tunisstraße

mülheim-verdrängende-architektur-eku

Architektur

„Es gibt definitiv vielerorts eine Verdrängungsarchitektur“, sagt Paul Neupert von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (BAGW). „Kommunen, Städte und Stadtteile stehen in einer gewissen Konkurrenz zueinander, um Touristen, Investoren, finanzkräftige Einwohner und Menschen, die Einnahmen generieren. Darum wollen sie ihre Attraktivität steigern und dafür Personen entfernen, die das schöne Bild stören“. Dazu würden beispielsweise Skater, Jugendliche, Punks, Trinker oder Obdachlose gehören.

Grünschnitt und Gitter verhindern, dass Obdach- und Wohnungslose Schlafplätze finden

Verdrängung ist subtil. Der Rückbau von öffentlichen Toiletten, Trinkbrunnen, Tischen, Überdachungen an Bushaltestellen. Das Stutzen von Hecken, das Abladen von Steinen unter Brücken, monotone Musik in Bahnhöfen. „Wer eine Wohnung hat und nicht auf diese Orte angewiesen ist, dem fallen diese Dinge häufig gar nicht auf“, sagt Neupert. Doch für einen Obdachlosen fällt eine Schlafstelle weg, ein regengeschützter Platz, ein Ort zum Erholen.

dom-sarkophage-verdrängende-architektur-eku

Dom Sarkophage

Peter hat seinen Schlafsack neben einem Sarkophag in der Nähe des Kölner Doms ausgebreitet. Früher waren diese Sarkophage offen und ein beliebter Schlafplatz bei Obdachlosen. Überdacht und versteckt vor Blicken. Heute liegen auf den Sarkophagen große sandfarbene Steine. Die Stadt, so erzählen es die Streetworkerinnen Friederike Bender und Petra Hastenteufel, wollte nicht, dass Touristen die aus dem Hauptbahnhof kommen, sofort dieses Bild sehen: Obdachlose, die am Morgen wie Mumien aus den Sarkophagen auferstehen. Peter hat sich zwischen zwei der großen Quader eingerichtet. Um sechs Uhr morgens zieht der Wachdienst vorbei und weckt ihn. Bevor die Pendler, Touristen und Angestellten kommen.

Peter fällt auf, dass es immer weniger Sitzbänke in der Stadt gibt. An den Ringen oder der Haltestelle Eifelstraße/Ulrepforte habe es früher Sichtschutz durch Grünzeug gegeben, sagen Bender und Hastenteufel. Jetzt sei dort alles kahl. Für Peter bedeutet das: Kaum Chance auf Privatsphäre.

Stadt Köln: Angebot an Sitzbänken wurde ausgeweitet

Verdrängung lässt sich nicht beziffern. Wieso eine Bank abmontiert, eine Hecke entfernt oder ein Zugang versperrt wird, wo die Verdrängung beginnt und wo andere Gründe vorrangig waren – kaum nachvollziehbar. Den Rückbau von Bänken dementiert die Stadt Köln: „Der Vorwurf, dass in der Innenstadt vielfach die Bänke zurückgebaut wurden oder werden, trifft so nicht zu. Grundsätzlich ist genau das Gegenteil seit etwa den letzten fünf Jahren der Fall“, so eine Sprecherin. Durch das Bankprogramm der privaten Grün-Stiftung habe sich die Situation sogar verbessert. Das Angebot, im öffentlichen Raum ohne Konsumzwang sitzen zu können, sei massiv ausgeweitet worden.

heumarkt-gitterbänke-eku

Heumarkt Gitterbänke

Seit Jahren werden vor allem Bänke mit Bügeln zwischen den Sitzplätzen neu installiert. Grund dafür sei die Inklusion, sagte die Stadt 2019 dem „Express“. Für ältere Menschen sei es hilfreich, wenn sie von beiden Seiten Armlehnen hätten. „Das sind in erster Linie Verdrängungsmöbel“, sagt hingegen Neupert. „Häufig sind diese Bänke angewinkelt, aus einem kalten Metallgitterkonstrukt, so dass es gar nicht angenehm ist, darauf länger zu sitzen. Auch nicht für Ältere. Ich glaube nicht, dass das jemand so aktiv eingefordert hat“.

Obdach- und Wohnungslose wünschen sich sichere und saubere Räume

Keine drei Meter legt Franco Clemens am Wiener Platz zurück, ohne dass ihn jemand grüßt. Sein Gesicht kennt hier jeder. „Die Straßenszene ist sehr gemischt. Viele sind gut sortiert, nicht alle bildungsarm. Aber sie kommen systemisch nicht mehr rein. Obdach- und Wohnungslose sind die letzten Menschen, denen Vermieter eine Bleibe geben“, sagt Clemens. Er beschwichtigt, ermahnt, bietet Hilfe an. Ob die Polizei öfter vorbeikomme, fragt er Enzo, der sich an einem Bahnhof eingerichtet hat. Ja, schon. Es macht ihm aber nichts aus. Er fühlt sich dann sicherer.

mülheim-clemens-verdrängende-architektur-eku

Franco Clemens

Im April 2019 ergab eine Untersuchung der Hochschule Düsseldorf in Kooperation mit fiftyfifty, ein Verein, der das gleichnamige Straßenmagazin herausgibt, dass Obdach- und Wohnungslose die gleichen Sicherheitsbedürfnisse haben, wie Menschen, die in Wohnungen leben. An Plätzen wie Bahnhöfen verbringen viele wohnungs- und obdachlose Menschen nur gezwungenermaßen viel Zeit. Um an etwas Geld zu kommen. Sie fühlen sich dort den Blicken von Passanten und Ordnungskräften ausgesetzt. Wie Ulrike und Rainer: „Wir haben mit Drogen nichts am Hut. Aber dann kommen die vorbei und vertreiben uns alle. Obwohl wir gar nichts bei uns haben“, sagt Ulrike. Der kleinen schmalen Frau um die 50 ist das wichtig: Sie nimmt keine Drogen und macht keinen Ärger, sie möchte nur in Frieden gelassen werden.

Menschen ziehen von einem Hotspot zum nächsten - Neumarkt, Ebertplatz, Wiener Platz

Aktuell werden die Menschen in Köln von einem Ort zum nächsten getrieben, erzählt Franco Clemens. Ebertplatz, Neumarkt, Wiener Platz. Bis zur nächsten Maßnahme der Stadt. „Der Platz für die Vetriebenen wird damit immer kleiner. Das steigert den Stress untereinander. Und solche Vertreibungen sind ein Angriff auf die demokratische Verfasstheit des öffentlichen Raumes: Denn dieser ist für alle da“, sagt Neupert.

Er kritisiert, dass in vielen deutschen Städten die Menschen die städtischen Notschlafstellen morgens verlassen müssen und erst abends wieder zurückkommen können. So fördere man tagsüber den Nutzungskonflikt zwischen verschiedenen Gruppen: Jenen, die sich durch Obdachlose gestört fühlen. Und jenen, die sich dort aufhalten müssen, weil es keinen anderen Raum für sie gibt. „Wenn ich möchte, dass sich ein Treffpunkt auflöst, muss ich Alternativen schaffen. Menschen an anderer Stelle überdachte Bänke und Tische anbieten. Fragen, was kann ich für euch tun? Verbote und Vertreibungen sind nicht nur unsozial, sie lösen das Problem auch nicht. Sie verschärfen es eher“, sagt Neupert.

Installierung öffentlicher Toilette am Wiener Platz ist gescheitert

Franco Clemens, Linda Rennings, Gründerin von „Heimatlos in Köln“ und der Gastronom und Vorsitzende der Bürgervereinigung Köln-Mülheim Helmut Zoch engagieren sich seit Jahren in Mülheim, um die Zustände am Wiener Platz zu verbessern. „Wie bekloppt“ laufe man seit Jahren dem Thema öffentliche Toiletten hinterher, sagte Helmut Zoch im Juli. Der Container, der aktuell auf dem Platz steht, ist sein Eigentum. Die Kosten tragen noch bis Ende des Jahres Zoch und das Sozialamt. Dann muss eine andere Lösung her. „Die Stadt hat jetzt ihre Arbeit zu machen und muss einen Weg finden“, sagt der Gastronom. Im August hieß es von deren Seite, ohne Drogenkonzept sei eine öffentliche Toilette am Wiener Platz nicht finanzierbar. Die Kosten für eine bewirtschaftete öffentliche Toilette lägen jährlich bei 250.000 Euro. Das sei finanziell nicht zu stemmen. „Wenn ich sag: Piss nicht in die Ecke, muss ich auch eine Toilette anbieten“, sagt Franco Clemens.

mülheim-franco-clemens-zoch-eku

Clemens

Die AWB meldet auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“, dass die Zahl der öffentlichen Toiletten in Köln von 2018 bis 2020 um 15 Standorte erweitert wurde. Auf einer Übersichtskarte der AWB sind davon für den Innenstadtbereich 24 Toiletten als 24 h geöffnet und kostenlos ausgewiesen. Dass aber Obdachlose in den Gebäuden des WDR oder des Rautenstrauch-Joest- Museum unbedarft die Toilette nutzen, darf bezweifelt werden. „Früher gab es viel mehr kostenlose öffentliche Toiletten. Jetzt gibt es eben welche, die man bezahlen muss. Auf die Toilette gehen, ist zur Ware geworden“, sagt Paul Neupert.

Kommunen haben gesetzliche Pflicht zur Unterbringung

Kommunen sind verpflichtet, allen die danach fragen, eine Unterkunft zu stellen. Die bisherigen Übernachtungsangebote der Stadt seien aber „deutlich zu hochschwellig“, sagte Franco Clemens Anfang September dem Kölner Stadt-Anzeiger. In die städtischen Notschlafstellen dürften beispielsweise keine Hunde und es herrsche Alkoholverbot.

Bundesweit entsprächen viele Notschlafstellen keinen guten, menschenwürdigen Standards, sagt auch Paul Neupert. „Wenn Menschen trotz ihrem Anspruch auf Unterbringung lieber auf der Straße bleiben, als die Stellen aufzusuchen, sagt das schon viel“. Die Lösung der Probleme liegt für Paul Neupert und Franco Clemens auf der Hand: Wohnraum schaffen. Solchen, der auch mit niedrigem Einkommen oder Hartz IV bezahlt werden kann.

Bis es soweit ist, wünschen sich Franco Clemens und Helmut Zoch für Mülheim eine Anlaufstelle für Obdach- und Wohnungslose. Clemens hat dazu schon Gespräche geführt, es gab Besichtigungen mit der Stadt. Ein leerstehender Imbiss am Wiener Platz kommt in Frage. Nach einer Begehung hat sich der Wunsch zerschlagen. An der Decke lagen Rohre frei, das widerspreche den Sicherheitsstandards, hieß es von der Stadt. (Eva Kunkel)