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Kommentar

Scholz und Co.
Rhetorisch werden in Deutschland kleine Brötchen gebacken

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Lesezeit 7 Minuten
Olaf Scholz (SPD) spricht auf einer Sommerreise in seinem Wahlkreis Potsdam bei einer Begegnung mit Bürgerinnen und Bürgern.

Olaf Scholz (SPD) spricht auf einer Sommerreise in seinem Wahlkreis Potsdam bei einer Begegnung mit Bürgerinnen und Bürgern.

Profi-Redenschreiber Peter Sprong erklärt den Erfolg der Populisten. Höcke und Co. profitieren vom rhetorischen Mittelmaß.

Kennen Sie das? Sie investieren erhebliche mentale Mühe und halten sich streng an Ihren Diätplan. Das geht wochenlang gut. Aber dann, eines Abends, schaffen Sie es einfach nicht mehr, auf dem Heimweg an der Imbissbude vorbei zu gehen. Sie bestellen eine doppelte Portion Fritten mit Mayo und Ketchup. Dazu eine kapitale Currywurst. Und es schmeckt wunderbar!

Genauso ist es mit den rhetorischen Erfolgen von Björn Höcke, Sahra Wagenknecht und anderen Populisten. Sie beruhen auf einer Art Imbissbudenzauber. Sie liefern einer rhetorisch auf Diät gesetzten Menge vermeintlich das, wonach sie hungert.

Angela Merkel hat einen neuen Ton angeschlagen

Wo das eigentlich angefangen hat, ist schwer zu sagen. Sicher ist: Spätestens seit Beginn der Kanzlerschaft von Angela Merkel ist Deutschland auf Rhetorik-Diät. Merkel hat einen damals neuen Ton des politischen Managements angeschlagen, den man zwar auch mögen konnte. Uneitel, sachlich, unaufgeregt. Aber irgendetwas fehlte halt immer.

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Etwas, das die Wählerinnen und Wähler dann am Aschermittwoch im Bierzelt nachbestellten, dem wichtigsten Tag im politischen Karneval. Da durften Rednerinnen und Redner mal über die Stränge schlagen, um gleich am nächsten Tag wieder zurück zu finden in die Sprache der Sachstandsvermerke und der politischen Phrasendreschmaschinen. Das aber stillt den Hunger des inneren Schweinehunds längst nicht mehr.

Olaf Scholz praktiziert rhetorisches Voodoo

Merkels Nachfolger - ein Kanzler, der auf TikTok lieber seine Aktentasche sprechen lässt, als selber zu reden, und sich auch schon mal mit einem schlichten „Nö“ der Aufforderung zum Reden entzieht – hat die Diätschrauben noch weiter angezogen. Wenn Olaf Scholz Zuversicht verbreiten will, dann sagt er: „Wir dürfen zuversichtlich sein.“ Das geht schon in Richtung rhetorische Magersucht.

Mindestens ist es rhetorisches Voodoo: der Glaube, durch Aufruf eines Begriffes werde sich die ersehnte Wirkung einstellen. Das passiert aber nicht. Stattdessen macht sich ein diffus unangenehmes Gefühl breit: etwas Hohles, Abgestandenes, Unpersönliches. Das, was allen Begriffen anhaftet: etwas Unbegreifliches und deshalb Totes.

So entsteht weder Zuversicht noch sonst etwas, das Bindung schafft und Menschen in Bewegung setzt. Dafür müsste etwas berührt werden beim anderen. Und zwar nicht nur im Kopf. Um Wirkung zu entfalten, müssen Emotionen ins Spiel kommen. Es muss ein Weg gefunden werden, wie Zuhörerinnen und Zuhörer das Gesagte nicht nur mitdenken, sondern auch mitfühlen. Und dafür müssen sie spüren: Der dort steht und spricht, ist ein Mensch. So wie ich. Wenn er aus seiner Welt erzählt, dann kommt mir das bekannt vor.

Wann der Funke zünden kann

Reden heißt erzählen. Anschaulich. Und glaubwürdig. Ausschlaggebend dafür ist laut Aristoteles, einem der größten Theoretiker der Rhetorik, vor allem der Redner selbst, sein Charakter. Dafür nutzte der Philosoph den Begriff Ethos - im Altgriechischen ursprünglich ein Wort für Abstammung und Herkunft. Also dafür, wo jemand herkommt; welche Haltung er oder sie vermittelt. Und zwar nicht allein durch Worte, sondern auch durch Stimme, Gestik, Mimik und andere Mittel der eigenen Inszenierung von der Kleidung bis hin zur Bühnengestaltung.

Erst wenn alles stimmig zusammenklingt, kann der rhetorische Funke zünden. Und wie wahr das alles ist, auch rund 2000 Jahre nach Aristoteles, das konnte man jüngst beim demokratischen Parteitag in den USA erleben: Ob Kamala Harris, Tim Walz oder die Obamas - was die Leute, nicht nur in der Veranstaltungshalle, aus den Sitzen holte, was die Stimmung drehte und am Ende womöglich die wichtigste Demokratie der Welt in letzter Minute vor dem Ruin retten wird, das war: hohe Redekunst. Getragen von der unerschütterlichen Überzeugung, dass es in der Demokratie nicht nur darauf ankommt, das Richtige zu tun, sondern auch die richtigen Worte zu finden.

Joseph Goebbels' langer Schatten

In Deutschland hingegen werden Rednerinnen und Redner – nicht erst seit Merkel und Scholz – von einer anderen Überzeugung getragen. Und die heißt: Bodenständigkeit. Ganz gleich, ob in der Politik oder in der Wirtschaft, das Credo lautet: Nur keine Inszenierung! Nur nicht auffallen! Nur nicht in den Verdacht der Selbstdarstellung geraten! Auch rhetorisch werden in Deutschland kleine Brötchen gebacken.

Die Gründe dafür wurden oft besprochen: Joseph Goebbels‘ langer Schatten spielt eine Rolle, aber auch eine Geistestradition mit der Melange aus religiös motivierter Sorge vor sündhafter Eitelkeit und aufklärerischer Skepsis gegenüber allem Gefühligem. Und selbst wer sich von derlei philosophischen Vorbelastungen gänzlich frei wähnt, ob als Techniker, Ingenieur oder Unternehmer (ja, vor allem sind es hier die Männer), hält sich doch am liebsten an den alt-schwäbischen Grundsatz „Schaffe, net schwätze“ oder das bodenständige „Mehr Sein als Schein“.

Daran ist vieles ehren- und liebenswert. Aber: Die nächste blaue Imbissbude wartet schon. Und halb entsetzt, halb beleidigt, fragen die bodenständigen Rednerinnen und Redner: Ja, sollen wir den Leuten jetzt etwa auch Currywurst mit Fritten servieren? Wer aber so fragt, sitzt einem fatalen Missverständnis auf und verwechselt Rhetorik mit Propaganda. Dabei ist eigentlich klar: Die Rollenvorbilder für gute Rhetorik sind keine Nazis – weder alte noch neue.

Auch Deutsche können Rhetorik

Es gibt sie auch nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland: „Die Freiheit und das Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ (Otto Wels) „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt.“ (Ernst Reuter) „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein – nach innen und nach außen.“ (Willy Brandt) „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Wir dürfen ihn nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ (Richard von Weizsäcker) „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ (Willy Brandt)

Die Reden, aus denen diese Sätze stammen, beweisen zweierlei: Auch Deutsche können Rhetorik. Und: Nicht zwangsläufig ist rhetorischer Erfolg ein Nullsummenspiel, bei dem die einen nur gewinnen, wenn die anderen verlieren.

Auch der Sterne-Koch muss nicht auf Messer verzichten, weil ruchlose Attentäter damit mordend auf andere einstechen. Im Gegenteil: Je anspruchsvoller die Küche, umso schärfer sollten die Messer sein. Noch wichtiger aber: Es gibt Messer, die leisten Großartiges etwa im Umgang mit Tomatenschalen oder knusprigen Brotkrusten, und die gehören nicht gerade zu den bevorzugten Mordinstrumenten. Sprich: Bei der Wahl und der Beurteilung der geeigneten Mittel kommt es auf die Zwecke an. Und beim Messer wie in der Rhetorik auch auf den Schliff.

Nichts mehr „auf den Weg bringen“ und „die Menschen mitnehmen“

In der Rhetorik gibt es Argumentations- und Stilformen, Narrative und Dramaturgien, mit denen Redende ihre eigene Wirkung erhöhen, ohne andere zu erniedrigen; mit denen sie das Gewollte als das Bessere erkennbar machen, ohne das Andere gleich ausrotten zu wollen; die auf die Strahlkraft der Vision mehr vertrauen als auf den Sog von Hass und Eigennutz.

Was muss in Deutschland geschehen, damit Rednerinnen und Redner sich dieser Zutaten bedienen anstatt die nächste Imbissbude anzusteuern? Viel wäre schon gewonnen, wenn sie aufhörten, etwas „auf den Weg“ zu bringen und dabei „die Menschen mitzunehmen.“ Wenn endlich nicht mehr „konsequent umgesetzt“ würde; wenn Schluss wäre mit „operativer Exzellenz“ und „Workflow-Optimierung“, aber auch mit Dauerbrennern wie den „neuen Maßstäben“, den ewigen „Herausforderungen“ oder den „Maßnahmen in ganz unterschiedlichen Bereichen“.

Professionelle Redenschreiberinnen und Redenschreiber in Unternehmen, Ministerien und Pressestellen kämpfen gegen derlei Nonsens-Sprech oft vergebens. Alles, was anders klingt als der jeweils übliche Sound, wird häufig reflexartig abgelehnt – und zwar nicht in erster Linie von Rednerinnen oder Rednern selbst, sondern von ihren Fachabteilungen, Stabsstellen, Referaten und anderen Heimstätten der rhetorischen Beharrung. Die Fachkompetenz der Sprachkundigen fällt demgegenüber meist nicht ins Gewicht. Warum nicht? Weil es bei denen ja vermeintlich nur um Kosmetik geht.

Wie fatal dieser Irrtum ist, zeigt sich jedes Mal, wenn die auf Rhetorik-Diät gesetzten Wähler an den Urnen „einmal Currywurst“ wählen, „mit Pommes und Mayo, bitte!“.