Drei große Krisen beherrschen gegenwärtig die Diskussionen und bestimmen die Gefühle.
Unser Kolumnist Stephan Grünewald ist Psychologe und Experte für die Stimmungslagen der Deutschen.
Im Interview erklärt er, nach welchen unterschiedlichen Logiken Menschen auf Corona, Klimawandel und Krieg reagieren.
Köln – Herr Grünewald, gemäß einer alten Fußballer-Weisheit konnte man zum gesellschaftlichen Umgang mit Krisen fast immer sagen: Nach der Krise ist vor der Krise. Doch zurzeit gibt es kein Nacheinander: Klimawandel, Corona und jetzt auch noch der Krieg – alles geschieht zeitgleich. Wie kann man das eigentlich noch bewältigen?Stephan Grünewald: Im Alltag der Menschen fällt auf, dass viele Gespräche und Diskussionen den Krieg eher meiden. Stattdessen ist und bleibt oft die Corona-Krise das Thema der Wahl.
Woran liegt das?
Die drei genannten Krisen haben eine sehr unterschiedliche Seelenlogik. Der Krieg konfrontiert uns einer Eskalationslogik. Bildhaft gesprochen, genügt ein Knopfdruck, und unsere gesamte Zivilisation wird vernichtet. Diese Logik hat eine unfassbare Schockwirkung. Die meisten Menschen sind erst einmal gelähmt, gehen inzwischen aber dazu über, den Gedanken an eine Ausweitung des Kriegs bis hin zum atomaren Erstschlag auszublenden. Die Wahrnehmung der Corona-Krise funktioniert im Gegensatz dazu nach einer exponentiellen Logik. Sinnbild dafür ist die Ansteckungskurve, die erst sanft ansteigt und dann durch die immer größeren Verdoppelungsraten steil nach oben weist.
Die Pandemie stellt zwar ein bedrohliches Angstszenario dar, aber die Menschen haben dennoch das Gefühl, die damit verbundene Gefahr bannen zu können durch klare Positionierungen: Masken, Lockdown, Impfpflicht oder ähnliches. Unter anderem das hat zu der schnellen gesellschaftlichen Polarisierung geführt und zu den fast als Glaubenskrieg ausgetragenen Konflikten zwischen „Übervorsichtigen“ und „Verharmlosern“ geführt. Alle hatten ihre eigenen Gewissheiten und ihre Patentrezepte, wie man die Exponentialität der Krise in den Griff kriegen könnte.
Und welche Logik hat die Klimakrise?
Sie steht für eine lineare Logik. Die langsame, aber stetige Erderwärmung etwa lässt sich als eine nur ganz allmählich ansteigende Linie abtragen. Daraus ergibt sich in der Wahrnehmung der Menschen ein langfristiges Bedrohungs-Szenario, mit dem die Fiktion der Berechenbarkeit verbunden ist.
Aber das ist doch ein Trugschluss, weil die Folgen– wie wir inzwischen wissen – von katastrophaler Dimension sind.
Ökologisch und ökonomisch mag das stimmen, aber psychologisch wirkt die Linearität beschwichtigend. Die lineare Logik wird oft erst als bedrohlich empfunden, wenn starke Unwetter oder Naturkatastrophen punktuell die Folgen eines schleichenden Prozesses vor Augen führen. Die Menschen reagieren sinnbildlich wie der Frosch. Wird er ins kochende Wasser geworfen, springt er panisch aus dem Topf. Wird er ins warme Wasser gesetzt, lässt er sich langsam verkochen.
Die Warner vor dem Klimawandel und die Klima-Skeptiker stehen einander aber auch recht unversöhnlich gegenüber.
Aber längst nicht so massiv wie in der Corona-Krise. In der Klima-Krise dringen die einen auf schnelleres Handeln. Die anderen gehen davon aus, dass doch noch ein bisschen Zeit ist. Sie setzen deshalb in der Linearitäts-Logik der Klimakrise auf technischen Fortschritt, mit dem man dem Klimawandel noch rechtzeitig begegnen könne. Die exponentielle Logik der Corona-Krise hingegen führte zu einer ungleich größeren Polarisierung. Man könnte sagen: Auch die Erregungskurve verhält sich hier exponentiell.
Warum ist das dann nicht der Fall beim Krieg mit seiner – wie Sie es nennen – Eskalationslogik?
Die Menschen spüren eine tiefe Ohnmacht und eine Ambivalenz zwischen Friedenssehnsucht und dem Willen, Putins Aggression militärisch zu begegnen. Das führt dann dazu, dass sie irgendetwas tun wollen. Das können Spenden sein, Hilfen für Ukraine-Flüchtlinge, aber auch der Ruf nach Waffenlieferungen an die Ukraine. Dabei geraten aber viele in eine doppelte Schuldfalle: Sie fühlen sich erstens schuldig, weil sie die Möglichkeit eines Kriegs in Europa zu lange ausgeblendet, verharmlost oder für nicht existent erklärt haben. Aus dieser Haltung heraus wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Der Ruf nach höheren Rüstungsausgaben galt als spinnerter Gedanke, auf den allenfalls Typen wie Donald Trump kommen konnten.
Gilt der Erkenntnis, dass das momentan vielleicht stärkste Druckmittel gegen Putin – der komplette Boykott russischer Energielieferungen – den eigenen Lebenskomfort mutmaßlich sehr stark beeinträchtigen würde und Einbußen in vielerlei Hinsicht zur Folge hätte. Die Lieferung schwerer Waffen hat da fast die kompensatorische Qualität eines Ablasshandels, sie befeuert aber umgekehrt wieder die Sorge vor der Eskalationslogik des Kriegs.
Klingt nach einer komplizierten Gemengelage.
Politisch wie psychologisch, ja. Das vorherrschende Gefühl ist eine große Ambivalenz. Die meisten Menschen spüren, dass es bei der Frage nach Waffenlieferungen oder einem Gasboykott kein eindeutiges Richtig oder Falsch gibt. Was man auch tut oder lässt, man macht sich unweigerlich schuldig. Ausdruck davon sind das zerknirschte Ringen von Vizekanzler Robert Habeck um einen verantwortungsvollen Weg bei der Energieversorgung oder auch das Zaudern und Zögern von Kanzler Olaf Scholz. Diese schuldig-ratlose Ambivalenz erklärt auch, wieso wir derzeit keine fundamentale Polarisierung in der Debatte erleben und wieso sich die Menschen die Gedanken an den Krieg möglichst verbannen wollen.
Stephan Grünewald ist Geschäftsführer des Kölner „rheingold“-Instituts. Er spricht auf ksta.de aus psychologischer Sicht über gesellschaftlich relevante Themen.