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Steinmeier erinnert an Rostock-Lichtenhagen

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Rostock – Einen Moment lang hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier inne, dann stellte er eine Sonnenblume in die Vase. Ein kurzer Blick ging nach oben zum riesigen Blumenmosaik an der Fassade des Hochhauses, das 1992 im Zentrum der rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen stand.

Vor 30 Jahren sei das Sonnenblumenhaus ein Ort schlimmster ausländerfeindlicher Übergriffe geworden, sagte Steinmeier bei seinem Besuch aus Anlass des Jahrestages. „Es ist ein Mahnmal, und es erinnert uns an Tage der Schande in unserem Land.” Der Bundespräsident warnte in Rostock vor der Gefahr einer neuen Radikalisierung in Deutschland.

„Das Risiko, dass die Spur der Gewalt nicht endet, ist hoch”, sagte er am Abend bei einer Gedenkveranstaltung im Rathaus der Stadt. „Gerade jetzt, in einer Zeit, die uns herausfordert wie keines der letzten Jahrzehnte, einer Zeit, die uns viel abverlangt, in der Gewohntes in Frage steht und Einschränkungen drohen.”

Eine besonders wichtige Lehre aus Lichtenhagen für die Gegenwart sei: „Wenn eine Gesellschaft unter Veränderungsdruck steht, dann ist der Weg der Radikalisierung noch kürzer, weil er vermeintlich einfache Lösungen anbietet, ich würde sagen, vorgaukelt.” Die einfachste aller Lösungen sei die Suche nach einem vermeintlich Schuldigen. „Die Konfrontation mit einer ungewissen Zukunft scheint diesen Reflex zu bestärken.”

Steinmeier hatte dabei offensichtlich die Folgen des Ukraine-Krieges wie stark steigende Energie- und Lebensmittelpreise im Blick, die viele Menschen in Deutschland besorgen und verunsichern. AfD und Linke haben bereits zu Protesten aufgerufen. Die Sicherheitsbehörden warnen vor einer möglichen Unterwanderung durch Rechtsextreme.

„Eine Katastrophe mit Ansage”

Zahlreiche Menschen flohen in Todesangst über das Dach. Wie durch ein Wunder gab es keine Toten. Die Ausschreitungen gelten als die bis dahin schlimmsten rassistischen Übergriffe der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Bilder gingen um die Welt. Teile des Sonnenblumenhauses wurden unter Denkmalschutz gestellt, darunter auch das 400 Quadratmeter große Blumenmosaik an der Fassade.

Die Ausschreitungen waren aus Sicht Steinmeiers auch „eine Katastrophe mit Ansage”. „Die Ausschreitungen dieser Tage gediehen auf dem Boden einer teils hasserfüllten Debatte. Der Staat hätte gewarnt sein müssen.” Schon im November 1990 hätten Neonazis in Eberswalde den jungen angolanischen Vertragsarbeiter Amadeu Antonio zu Tode gehetzt. Ein Jahr später habe ein Mob vietnamesische Vertragsarbeiter in Hoyerswerda attackiert.

Bei seinem Stadtteilbesuch in Lichtenhagen sprach Steinmeier auch mit Schülern und Anwohnern und besuchte einen buddhistisch-vietnamesischen Tempel. Schändlich seien damals nicht nur die Angreifer gewesen, die mit Molotowcocktails und Brechstangen gegen die in dem Haus lebenden Menschen vorgegangen seien, sagt er. „Schändlich auch, dass viele diesem Tun nicht nur zugeschaut haben, sondern applaudiert und ermutigt haben.”

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) bezeichnete die Ausschreitungen von 1992 als ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Stadt und des Bundeslandes. „Diese Bilder haben die Wahrnehmung von Rostock und Mecklenburg-Vorpommern auf Jahre geprägt. Der Schock, dass so etwas in unserem Land passieren konnte, begleitet uns seitdem. Es ist gut und wichtig, dass wir uns immer wieder daran erinnern.”

Anlässlich des Jahrestages ist am Samstag in Lichtenhagen eine Demonstration geplant. Das Motto lautet „Damals wie heute: Erinnern heißt verändern.”

© dpa-infocom, dpa:220823-99-492958/9 (dpa)