Köln – Der Vorstoß von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur Einführung eines Pflichtdienstes für alle jungen Menschen in Deutschland polarisiert, vor allem bei Jüngeren stieß der Vorschlag Steinmeiers auf wenig Gegenliebe.
„Ich weiß, dass es nicht einfach werden wird, aber ich wünsche mir, dass wir eine Debatte über eine soziale Pflichtzeit führen“, hatte Steinmeier zuvor der „Bild am Sonntag“ gesagt. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), FDP und Linke lehnten den Vorschlag postwendend ab, Unterstützung kam derweil aus der CDU.
Wie lange ein solcher Dienst dauern soll, ließ Steinmeier offen. Es gehe um die Frage, „ob es unserem Land nicht gut tun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen.“ Geleistet werden sollte die Pflichtzeit nach Steinmeiers Vorstellung bei der Bundeswehr, bei der Betreuung von Senioren, in Behinderteneinrichtungen oder in Obdachlosenunterkünften.
Frank-Walter Steinmeier über Pflichtdienst: „Man kommt raus aus der eigenen Blase“
Mit der Pflichtzeit kann nach Einschätzung des Bundespräsidenten die Demokratie und der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden. „Man kommt raus aus der eigenen Blase, trifft ganz andere Menschen, hilft Bürgern in Notlagen. Das baut Vorurteile ab und stärkt den Gemeinsinn“, führte der Bundespräsident aus.
Die Reaktionen auf Steinmeiers Vorschlag folgten prompt. „Das geht besser, Bundespräsident Steinmeier“, twitterte die Grünen-Abgeordnete Emilia Fester. „Wir wollen ermöglichen statt verpflichten! Die Ampel hat sich da schon geeinigt: Zum Freiwilligendienst motivieren wir junge Leute mit höherem Taschengeld, Digitalisierung und Teilzeitmöglichkeit.“
Auch Luisa Neubauer kommentierte Steinmeiers Überlegungen kritisch. „Ich weiß nicht, ob man aktuell gut über ein (sic!) Pflichtdienst streiten kann“, schrieb die Klimaaktivistin bei Twitter. „Im Lichte von jugendpolitischem Versagen in der Pandemie und zukunftspolitischem Herumgetrampel in der Klimakrise ist es schlicht schwer zu glauben, dass man gerade kategorisch das Beste für die Jungen will.“
„Pflichtdienst zeugt von einem bevormundenden Menschenbild“
Gegenwind gab es für Steinmeier aber auch aus „eigenen“ Partei (während der Bundespräsidentschaft ruht die SPD-Mitgliedschaft Steinmeiers). „Die Idee eines Pflichtdienstes zeugt von einem bevormundenden Menschenbild, das von den Jungen einfordert, was man selbst nicht leisten will“, schrieb Juso Mattheus Berg. „Gesellschaftliche Teilhabe muss man sich nicht erst verdienen. Man hat ein Recht darauf. Solidarität funktioniert nicht durch Zwang.“
„Fakt ist: Alle Tätigkeiten, die junge Menschen im FSJ oder Pflichtdienst erfüllen sollen, sind jene Tätigkeiten die unsere Gesellschaft systematisch unterbezahlt“, kommentierte unterdessen Buchautor und Klimaaktivist Maurice Conrad Steinmeiers Vorstoß. „Ginge es tatsächlich um Wertschätzung oder Solidarität, würden diese Tätigkeiten anständig entlohnt werden (mind. 1500 Euro brutto). Stattdessen ist das Ziel aber genau das Gegenteil: Care-Arbeit zum Nulltarif und dabei junge Menschen unter dem Begriff ‚Solidarität‘ auszubeuten.“
Unterstützung bekamen die überwiegend jungen Gegner von Steinmeiers Vorschlag auch von Grünen-Urgestein Renate Künast. „Gut, dass Lisa Paus den Pflichtdienst ablehnt“, schrieb Künast. „Wie wäre es mit einer Pflichtaufgabe der Älteren pro Klimaschutz ausreichend aktiv zu werden?! Das wäre noch mehr als Zusammenhalt, das wäre Zukunft“, schlug die 66-jährige Bundestagsabgeordnete vor.
„Bitte bleibt mir fort mit dem Pflichtdienst“
Mit Tim Melkert meldete sich derweil auch ein Mensch mit Behinderung zu Wort, also jemand, der mit Pflichtdienstleistenden direkten Kontakt haben würde. „Bitte bleibt mir fort mit dem Pflichtdienst“, schrieb Melkert. „Menschen mit Behinderung sind nicht dazu da, eure Null-Bock-Kids zu erziehen bzw. ‚die Augen zu öffnen‘, um nach einem Jahr wieder vergessen zu werden.“
Unter der teilweise harsch vorgetragenen Kritik, die auch vor unhaltbaren Vergleichen mit „Zwangsarbeit“ und „Sklavenarbeit“ nicht scheute, fanden sich vereinzelt jedoch auch Fürsprecher. „Ich kenne viele Männer, die Zivildienst gemacht haben“, schrieb eine Twitter-Nutzerin. „Ausnahmslos alle empfanden diese Zeit als Bereicherung.“
Ein anderer Nutzer schrieb von seinen positiven Erinnerungen an den Zivildienst. „Mein Pflichtdienst in einer heilpädagogischen Schule machte für mich zum ersten Mal Behinderung so richtig sichtbar. Zeigte mir den Umgang mit Autismus, mit Down-Syndrom, ADHS und führte mich im Trainerteam zu den Special Olympics. Verpflichtende Erfahrungen, die mich prägen.“
Nancy Faeser: „Die Idee sollten wir ohne alte Reflexe diskutieren“
Die Debatte zu entschärfen, versuchten unterdessen die SPD-Politikerinnen Nancy Faeser und Sawsan Chebli. „Der Bundespräsident hat einen wichtigen Impuls für mehr Zusammenhalt gesetzt“, schrieb Bundesinnenministerin Faeser. „Die Idee, dass jeder eine Zeit lang für die Gesellschaft da ist, sollten wir ohne alte Reflexe diskutieren.“ Chebli verwies unterdessen darauf, dass Steinmeier sich explizit eine Debatte über das Thema gewünscht habe. „Ich wünsche mir, dass wir respektvoll diskutieren. Ohne Beleidigungen.“
Im Jahr 2011 wurde die Wehrpflicht und damit auch der Zivildienst in Deutschland ausgesetzt. Zuvor hatte sie seit 1956 für alle jungen Männer gegolten. Die Dauer betrug zunächst 18 Monate bei der Einführung der Wehrpflicht, kurz vor der Aussetzung betrug sie noch sechs Monate. (das)