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Steinmeier räumt Fehler in Russland-Politik ein

Lesezeit 6 Minuten

Berlin – Wenigstens eine gute Nachricht für den Hausherrn im Schloss Bellevue zum Wochenanfang: Frank-Walter Steinmeier hat seine Corona-Infektion überwunden, der PCR-Test ist nach knapp zwei Wochen wieder negativ.

Der Bundespräsident braucht seine volle Arbeitskraft in diesen Tagen auch. Denn schon im ersten Monat seiner zweiten Amtszeit steht der 66-Jährige in einer Weise in der Kritik, wie er dies in den ersten fünf Jahren nicht erlebt hat. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wirft Schatten bis in seinen Amtssitz.

Verantwortlich dafür ist zum einen der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk. Beginnend mit dem Boykott eines Konzerts für sein Land im Schloss Bellevue ließ er kaum eine Gelegenheit aus, um in Interviews, Talkshows und per Twitter gegen Steinmeier - aber auch gegen die Bundesregierung oder den Bundestag - zu wettern. Im „Spiegel” warf er Steinmeier vor, die deutsch-russischen Beziehungen seien für ihn offenbar das „goldene Kalb”. Und dem „Tagesspiegel” sagte er: „Für Steinmeier war und bleibt das Verhältnis zu Russland etwas Fundamentales, ja Heiliges, egal was geschieht. Auch der Angriffskrieg spielt da keine große Rolle.”

Melnyk ignoriert, dass Steinmeier eine ganz klare Sprache gegenüber Moskau spricht. Unmittelbar nach seiner Wiederwahl appellierte der Bundespräsident an Kreml-Chef Wladimir Putin: „Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine! Suchen Sie mit uns einen Weg, der Frieden in Europa bewahrt.” Das war elf Tage vor Kriegsbeginn. Als am Sonntag die erschütternden Bilder von den Toten in den Straßen von Butscha um die Welt gingen, erklärte Steinmeier: „Die von Russland verübten Kriegsverbrechen sind vor den Augen der Welt sichtbar.”

Russland-Politik in der Vergangenheit

Scharfe Abgrenzung heute - aber wie sah das früher aus? Steinmeier war von 1999 bis 2005 Kanzleramtschef unter Gerhard Schröder (SPD) gewesen, dann von 2005 bis 2009 und von 2013 bis 2017 Außenminister im Kabinett von Angela Merkel (CDU). In diesen Ämtern formulierte er die deutsche Russland-Politik jahrelang mit. Spätestens mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine war klar: Wie viele andere Politiker saß auch Steinmeier Fehleinschätzungen und Irrtümern auf. Dass er sich dazu noch nicht bekannt hat, wurde ihm in den vergangenen Tagen in Kommentarspalten immer wieder vorgeworfen.

Kaum von seiner Corona-Infektion genesen bemühte sich Steinmeier am Montag, seinen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Verantwortung für den Krieg liege bei Putin, sagte er vor Journalisten in Berlin. „Die sollten wir nicht auf uns ziehen. Das heißt aber nicht, dass wir nicht einiges zu überdenken haben, wo es unsererseits Fehler gegeben hat.” Und Steinmeier wurde konkret: „Mein Festhalten an Nord Stream 2, das war eindeutig ein Fehler. Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben.”

Steinmeier: „Wir sind gescheitert”

Bitter ist aus Sicht des Bundespräsidenten auch, dass sich sein stets gegenüber Russland verfolgter politischer Ansatz als Irrtum erwiesen hat. „Wir sind gescheitert mit der Errichtung eines gemeinsamen europäischen Hauses, in das Russland einbezogen wird. Wir sind gescheitert mit dem Ansatz, Russland in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur einzubinden.”

Auch in Putin hat sich Steinmeier getäuscht, wie er jetzt einräumte. „Meine Einschätzung war, dass Wladimir Putin nicht den kompletten wirtschaftlichen, politischen und moralischen Ruin seines Landes für seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen würde. Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt.”

„Wie andere auch” - davon könnte sich die frühere Kanzlerin Merkel angesprochen fühlen, die 16 Jahre lang die Geschicke des Landes gelenkt hat. Ihr wird von vielen Seiten vorgeworfen, den Angriff Putins auf die Ukraine mit ihrer Russland-Politik erst möglich gemacht und die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas verschuldet zu haben. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hielt ihr soeben vor, seit Beginn des Ukraine-Krieges zu schweigen. „Dabei hat gerade die Politik Deutschlands während der vergangenen zehn, fünfzehn Jahre dazu geführt, dass Russland heute eine Stärke hat, die auf dem Monopol des Verkaufs von Rohstoffen basiert.”

Merkel übt keine Selbstkritik

Merkel äußert sich seit Ende ihrer Amtszeit in der Regel zu solchen Themen nicht mehr. Am Montag macht sie eine Ausnahme - und bekräftigt die Entscheidung aus dem Jahr 2008, die Ukraine nicht in die Nato aufzunehmen. „Bundeskanzlerin a.D. Dr. Angela Merkel steht zu ihren Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Nato-Gipfel 2008 in Bukarest”, teilt eine Sprecherin auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur in Berlin mit. Selbstkritik? Fehlanzeige.

Selenskyj kritisiert Merkel erneut

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel erneut vor, einen Beitritt der Ukraine zur Nato verhindert zu haben. Bei den Entscheidungen auf dem Nato-Gipfel 2008 in Bukarest hätten Merkel und der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy sich von Russland beeinflussen lassen. Das sagte Selenskyj am Montag in Butscha.

Bei dem Gipfel in Bukarest hätten viele Nato-Mitglieder die Ukraine als mögliches neues Mitglied gesehen. Andere Staats- und Regierungschefs - „und ich glaube, dass Angela zu diesen Führern gehörte” - seien dagegen gewesen, sagte Selenskyj. Damit habe sie in Russland das Gefühl bestärkt, Einfluss auf die Europäische Union nehmen zu können.

Die Nato beschloss damals, der Ukraine - wie auch Georgien - generell eine Mitgliedschaft anzubieten, aber keinen Beitrittsprozess einzuleiten.Am Vortag hatte Selenskyj Merkel zu einem Besuch in Butscha aufgefordert, um sich das Unheil mit eigenen Augen anzusehen. „Ich denke, sie hat mein Signal sehr gut verstanden”, sagte Selenskyj nun.

Und Kanzler Scholz?

Und wie steht es damit bei Kanzler Olaf Scholz? In der ARD-Sendung „Anne Will” machte es sich der SPD-Mann kürzlich bei der Frage, ob ihn die Russland-Politik der SPD der vergangenen Jahre beschäme, zunächst leicht: „Ich glaube, ich erinnere mich richtig, dass die letzten 16 Jahre eine CDU-Kanzlerin das Land regiert hat.” Scholz war jedoch fast sechs Jahre Teil der Regierung Merkel, zuletzt als Vizekanzler und Finanzminister, gehörte jahrelang der SPD-Führung an.

Scholz verteidigte Merkels Energiepolitik über deren Amtszeit hinaus. Kurz nach seinem Amtsantritt bezeichnete er die Pipeline Nord Stream 2 noch als „privatwirtschaftliches Vorhaben”. Über deren Inbetriebnahme entscheide „ganz unpolitisch” eine Behörde. Immerhin räumte Scholz inzwischen ein, dass man sich bei der Energieversorgung zu lange an den günstigen russischen Preisen orientiert habe: „Sicher ist es ein Fehler gewesen, dass wir zu sehr auf marktwirtschaftliche Modelle in diesem Zusammenhang gesetzt haben.” Wobei Scholz ergänzte, dass er sich früh für Flüssiggasterminals in Norddeutschland eingesetzt habe. Nach einem persönlichen Fehlereingeständnis klingt das nicht.

© dpa-infocom, dpa:220404-99-794963/5 (dpa)