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ATACMS gegen Putins Festung„Wer auch immer die Krim kontrolliert, wird der Gewinner sein“

Lesezeit 5 Minuten
Abschuss einer ATACMS-Rakete bei einer Übung der US-Armee. Die Ukraine soll mehr als 100 Stück der weitreichenden Raketen erhalten haben. (Archivbild)

Abschuss einer ATACMS-Rakete bei einer Übung der US-Armee. Die Ukraine soll mehr als 100 Stück der weitreichenden Raketen erhalten haben. (Archivbild)

Russland meldet einen ATACMS-Angriff in der Nacht. Die könnten sich bald häufen – wird die US-Rakete zum Gamechanger im Kampf um die Krim?

Bereits bevor Washington einem neuen Hilfspaket für die Ukraine zugestimmt hatte, trafen die ersten ATAMCS-Raketen mit großer Reichweite heimlich in der Ukraine ein – und bieten Kiew nun neue Möglichkeiten. In der Nacht auf Dienstag sollen die ukrainischen Streitkräfte die weitreichenden Raketen prompt für einen Schlag auf einen russischen Flugplatz auf der Krim eingesetzt haben, das melden russische Medien.

Videos, die in den sozialen Netzwerken kursieren, zeigten einen rot leuchtenden Himmel über der Halbinsel. Anwohner schilderten zudem Explosionsgeräusche. Aus Kiew gibt es unterdessen noch keine Bestätigung für den nächtlichen Angriff. Auch die kursierenden Aufnahmen können derzeit nicht unabhängig überprüft werden. Russland behauptet derweil, die Attacke sei erfolgreich abgewehrt worden.

ATACMS-Lieferung: „Putins Festung“ auf der Krim im Fokus

Dass aber vor allem die ukrainische Halbinsel Krim, die Russlands Präsident Wladimir Putin seit der Annexion im Jahr 2014 in eine Festung ausbauen ließ, in Zukunft in den Fokus ukrainischer Raketenangriffe rücken wird, gilt seit der ATACMS-Lieferung als sicher.

„Die Lieferung von ATACMS ist ein großer Durchbruch. Sie könnte die Krim im Grunde genommen militärisch wertlos machen“, erklärte der US-Militäranalyst Philip Karber nun gegenüber „RFE“. Für ATACMS-Angriffe auf die Krim – inklusive Putins prestigeträchtiger Kertsch-Brücke – haben die Ukrainer nach langem Bitten endlich grünes Licht und die passenden Waffen bekommen. Und sogar für mehr?

Ein vielsagendes Grinsen: USA lassen Interpretationsspielraum

Bereits am Freitag wurde US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zur amerikanischen ATACMS-Lieferung befragt – auch dazu, ob die Ukraine die Raketen auf für Schläge auf russischem Territorium einsetzen könnte. Austin konnte sich ein Grinsen vor seiner Antwort nicht verkneifen, die nun als Videoclip in den sozialen Netzwerken kursiert: „Es ist die Entscheidung der Ukrainer, wie und wann sie das System einsetzen“, erklärte Austin – und ließ damit einigen Interpretationsspielraum. „Wir hoffen, dass ziemlich gute Ergebnisse erzielen werden.“

Mit guten Ergebnissen für die Ukraine rechnet auch der ehemalige Kommandeur der US-Streitkräfte in Europa, Ben Hodges. „Im Moment ist die Krim für die Russen wie ein unsinkbarer Flugzeugträger, der Drohnen und Flugzeuge abschießt und ihre Streitkräfte in der Südukraine logistisch unterstützt“, erläuterte Hodges gegenüber „RFE“ die aktuelle Lage auf der zu „Putins Festung“ hochgerüsteten Halbinsel.

Ukraine soll mehr als 100 ATACMS-Raketen erhalten haben

Doch bereits mit britischen und französischen Marschflugkörpern hätte die Ukraine bewiesen, „was eine Handvoll Präzisionswaffen gegen die Russen auf der Krim ausrichten kann“, erklärte Hodges. Mit den britisch-französischen Storm Shadows waren Kiew in der Vergangenheit empfindliche Schläge gegen russische Stellung gelungen. Auch das Hauptquartier der mittlerweile arg dezimierten russischen Schwarzmeerflotte fiel den Raketen zum Opfer.

Nun dürften weitere Angriffe mit ATACMS-Raketen folgen. Rund 100 Stück der weitreichenden Raketen habe die Ukraine erhalten, hatte die „New York Times“ zuvor berichtet. Die amerikanischen Raketen haben dabei entscheidende Vorteile gegenüber den Storm-Shadow-Marschflugkörpern, da sie mit deutlich höherer Geschwindigkeit fliegen und ihr Ziel somit in wenigen Minuten erreichen können. Somit sind sie laut Waffenexperten insbesondere für Angriffe auf bewegliche Ziele wie Flugabwehrsysteme, Raketenwerfer oder Flugzeuge, die nur kurz auf russischen Flugplätzen parken, besser geeignet als Storm Shadow.

ATACMS-Raketen könnten Krim-Brücke beschädigen

Auch für einen Angriff auf die Krim-Brücke könnte ATACMS demnach zum Einsatz kommen. Hierfür müsste allerdings eine große Zahl der Raketen gemeinsam abgefeuert werden. Und selbst dann könnte die Brücke mit den Raketen wohl nur beschädigt, nicht aber nachhaltig zerstört werden, so die Experten.

Ein Hubschrauber wirft Wasser ab, um ein Feuer auf der Krim-Brücke zu löschen. Die Ukraine hat das illegal errichtete Bauwerk bereits mehrfach attackiert, jedoch bisher nicht zerstört. (Archivbild)

Ein Hubschrauber wirft Wasser ab, um ein Feuer auf der Krim-Brücke zu löschen. Die Ukraine hat das illegal errichtete Bauwerk bereits mehrfach attackiert, jedoch bisher nicht zerstört. (Archivbild)

Für die Zerstörung der strategisch wichtigen Brücke seien deutsche Taurus-Marschflugkörper besser geeignet, erklärte der US-Analyst Colby Badhwar im sozialen Netzwerk X (vormals Twitter). Nach der ATACMS-Lieferung durch die USA stieg zuletzt erneut der Druck auf Olaf Scholz (SPD), das deutsche Waffensystem zu liefern – auch international. Der Bundeskanzler blieb jedoch bei seinem Nein, ungeachtet der Hoffnung auf ein Umdenken in Berlin, die aus Washington zu vernehmen war.

„Der erste Schritt zur Befreiung der Krim“

Während die Zerstörung der Kertsch-Brücke also nicht unmittelbar möglich erscheint, bieten sich den ukrainischen Truppen dennoch ausreichend neue Möglichkeiten, um die russischen Stellungen auf der Krim zu attackieren. „Der erste große Schritt zur Befreiung der Krim besteht darin, sie unhaltbar zu machen“, erklärt der pensionierte US-General Hodges.

„Langstrecken- und Präzisionsschläge geben der Ukraine die Möglichkeit, genau das zu tun.“ Um die Krim zu befreien, müsse man „nicht alle Russen töten“, führte Hodges aus. „Man muss nur dafür sorgen, dass sie keinen Treibstoff, keine Munition und keine Lebensmittel mehr haben.“

„Wer auch immer die Krim kontrolliert, wird der Gewinner sein“

Erfolgreiche Schläge gegen die Krim würden zudem „psychologische und logistische Auswirkungen“ auf das gesamte Kriegsgeschehen haben, erwartet der ehemalige US-Kommandeur. Für Kiew sei die Marschrichtung daher nun klar, so Hodges. Die Krim sei das „entscheidende Terrain“ im Krieg gegen Russlands völkerrechtswidrige Invasion. „Wer auch immer die Krim kontrolliert, wird der Gewinner sein“, so Hodges.

Dessen ist man sich auch in Kiew wohl bewusst. Bereits im März hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt, warum weitreichende Raketen für die Ukraine so wichtig sind. „Wenn Russland weiß, dass wir diese Jets zerstören können, werden sie von der Krim aus nicht angreifen“, erklärte Selenskyj mit Blick auf Angriffe auf russische Flugplätze auf der Halbinsel. „Es ist wie mit der Seeflotte. Wir haben sie aus unseren Hoheitsgewässern vertrieben. Jetzt werden wir sie von den Flughäfen der Krim vertreiben.“