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GastbeitragDas Drama vergewaltigter Frauen und ihrer „Kinder des Krieges“

Lesezeit 5 Minuten
Anfang April 2022: Eine Frau umarmt einen Soldaten nach dem Massaker durch russische Soldaten in der ukrainischen Kleinstadt Butscha.

Anfang April 2022: Eine Frau umarmt einen Soldaten nach dem Massaker durch russische Soldaten in der ukrainischen Kleinstadt Butscha. Während der Bluttaten soll es auch zu vielen Vergewaltigungen gekommen sein.

Nach systematischen Vergewaltigungen durch russische Soldaten werden ungezählte ukrainische Frauen jetzt Mütter. Die „Kinder des Krieges“ müssen eine Vielzahl von Problemen gewärtigen, um die man sich schon jetzt kümmern sollte.

Im Frühsommer 2022 erschienen in westlichen Medien erstmals Berichte über Vergewaltigungen ukrainischer Frauen und Mädchen, verübt von russischen Soldaten im Zuge des Angriffskriegs. Das war vor fast neun Monaten.

In diesen Tagen nun kommen Kinder zur Welt, die aus diesen Vergewaltigungen entstanden sind. Nicht nur die Ukraine, sondern auch Länder wie Polen oder Deutschland, in die ukrainische Frauen geflüchtet sind, aber auch die UN mit ihren Hilfsorganisationen müssen sich dieser Kinder annehmen. Sie brauchen gesonderte psychologische Versorgung, ökonomische Unterstützung und eine Perspektive in der Ukraine ohne Ausgrenzung wegen des Umstands, dass sie im Zuge des russischen Angriffskriegs geboren wurden. Auch die Berichterstattung sollte diese Kinder mitbedenken, damit sie nicht vergessen werden in all den schrecklichen Wirren dieses Krieges.

Laut UN wurden russische Soldaten für Vergewaltigungen mit Viagra ausgerüstet

Eine unabhängige Kommission des UN-Menschenrechtsrats untersucht die Verbrechen der russischen Armee in der Ukraine seit dem Einmarsch. Schon in einem ersten Bericht, veröffentlicht im Oktober, ist von einem Muster von Vergewaltigungen und anderer sexueller Gewalt durch russische Streitkräfte die Rede. Der Bericht enthält von den UN verifizierte Beweise für sexuelle Gewalt, die für spätere Gerichtsverfahren von wesentlicher Bedeutung sein können.

Der Bericht dokumentiert Vorfälle sexueller Gewalt gegen Kinder, Männer, Frauen und ältere Menschen. Dazu gehören Gruppenvergewaltigungen, sexuelle Gewalt als eine Form der Folter und sexuelle Demütigungen wie erzwungene Nacktheit. Einige Frauen wurden in kleinen Gruppen in Wohnungen verschleppt und dort vergewaltigt, andere mehrere Tage lang in von russischen Soldaten kontrollierten Wohnungen festgehalten. Viele dieser Verbrechen waren begleitet von Drohungen mit vorgehaltener Waffe oder Drohungen gegenüber Familienmitgliedern.

Nach Aussage der UN-Sonderbeauftragten Pramila Patten wurden russische Soldaten mit Viagra ausgerüstet, um Mehrfachvergewaltigungen zu erleichtern. Die ukrainische Ombudsfrau für Menschenrechte, Lyudmyla Denisova, berichtete zudem über mehrtägige Vergewaltigungen in der ukrainischen Stadt Bucha. Denisova zufolge sagten die russischen Soldaten den Opfern, sie würden sie so lange vergewaltigen, bis sie zu keinem sexuellen Kontakt mit einem anderen Mann mehr fähig wären. Neun der Opfer wurden Berichten zufolge schwanger.

Schwangerschaften und die später geborenen Kinder bislang unberücksichtigt

Der UN-Bericht stellt fest, dass „die Überlebenden und ihre Familien durch die Tortur, die sie erlitten haben, tief traumatisiert“ sind. Ein Opfer sagte der Kommission: „Diese Erfahrung ist sehr beschämend für mich, und ich bin extrem verängstigt und eingeschüchtert.“ Einige Betroffene hätten, so die Kommission, an Selbstmord gedacht.

Was der Bericht kaum in den Blick nimmt: dass Kinder aus Vergewaltigungen entstehen können. Die wenigen Erwähnungen von Schwangerschaften in der internationalen Berichterstattung zur Ukraine beziehen sich in der Regel auf den mangelnden Zugang zu Abtreibungen auf der Flucht. Die Schwangerschaften selbst und somit auch die später geborenen Kinder - in der Wissenschaft inzwischen als „Children Born of War“ oder „Kinder des Krieges“ bezeichnet - bleiben unberücksichtigt.

Dies ist ein eklatantes Versäumnis. Inzwischen gibt es eine stetig wachsende Forschungsbasis zu „Kindern des Krieges“, die überall auf der Welt geboren worden sind. In Europa beispielsweise während des Zweiten Weltkriegs und in der Besatzungszeit danach, später im 20. Jahrhundert auch im Zuge des Bürgerkriegs in Bosnien. Außerhalb Europas gibt es wissenschaftliche Untersuchungen zum Vietnamkrieg, zum Völkermord in Ruanda, sowie den Bürgerkriegen in der Demokratischen Republik Kongo, in Uganda und Kolumbien.

„Kinder des Krieges“ sind vielen Gefahren ausgesetzt bis hin zur Tötung

Trotz der Unterschiede dieser Konflikte und der verschiedenen Hintergründe für Zeugungen deuten sämtliche Forschungsergebnisse daraufhin, dass diese Kinder besonderen Herausforderungen und Gefahren ausgesetzt sind – im schlimmsten Fall der Tötung. Für die Überlebenden reichen die Probleme von fehlender Staatsbürgerschaft und damit fehlendem Zugang zu vielen staatlichen Leistungen über Stigmatisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung als „Kind des Feindes“ sowohl durch die Familie als auch durch das direkte soziale Umfeld und Gesellschaft. Dies hat für die betroffenen Kinder oft ein langes, manchmal lebenslanges Nachspiel.

Dies gilt zum Beispiel auch für die kürzlich vom Bundestag als Völkermord eingestuften Verbrechen an den Jesiden durch die IS-Terrormiliz. Den versklavten und geschwängerten Jesidinnen wird bei ihrer Rückkehr aus der IS-Gefangenschaft in die Gemeinschaft das Mitbringen ihrer Kinder verwehrt. Viele von ihnen landen deshalb in Heimen in Irak, oft ohne Wissen und Einwilligung der Mütter. Andere wurden bei den Kämpfern des IS zurückgelassen. Ihre Zukunft ist ungewiss.

Gerade den Deutschen ist das Phänomen „Kinder des Krieges“ aus der Geschichte nur zu vertraut

Es gibt kaum einen Konflikt ohne „Kinder des Krieges“. Dennoch wird noch viel zu selten darüber berichtet. Die Stiftung „Children Born of War Project“ arbeitet kontinuierlich daran, die Daten- und Wissensbasis zu erweitern. Sie fördert Projekte, die die Rechte dieser Kinder umsetzen, und weist auf laufende Konflikte hin, bei denen anzunehmen ist, dass weitere „Kinder des Krieges“ geboren werden, wie eben zurzeit in der Ukraine, aber auch in Kamerun und im Süd-Sudan.

Es wird Zeit, dass diese unschuldigen Kinder größere Aufmerksamkeit erhalten. Gerade den Deutschen ist das Phänomen der „Kinder des Krieges“ aus der Geschichte vertraut. Die Drangsalierungen, Diskriminierungen und die Gewalt, die „Kinder des Krieges“ heute erleben müssen, erfuhren auch viele sogenannte Russenkinder in Deutschland, gezeugt von sowjetischen Soldaten und geboren von deutschen Müttern am Ende des Zweiten Weltkriegs.

In vielen Fällen wurden die „Kinder des Krieges“ wegen ihrer Väter ausgegrenzt

Diese Gruppe ist zurzeit Gegenstand des Forschungsprojektes „EuroWARchild“. Hunderttausende Frauen wurden von sowjetischen Soldaten vergewaltigt, und eine unbekannte Zahl von Kindern wurde von ihnen geboren. In vielen Fällen wurden diese Kinder wegen ihrer Väter - Russen, Kriegsverbrecher – ausgegrenzt.

Eines dieser „Russenkinder“ verfasste ein Gedicht. Unter dem Pseudonym Anton gab der Autor es vor seinem Tod in hohem Alter zur Veröffentlichung in dem von Betroffenen geschriebenen Band „Distelblüten – Russenkinder in Deutschland“ frei, herausgegeben von einer gleichnamigen Interessensgruppe:

„Eigentlich habe ich sieben Väter. So viele waren es, die über meine Mutter herfielen.(…)'Eigentlich möchte ich Hilfe haben.'Vielleicht rede ich noch. Bevor ich sterbe.Vielleicht…“

Im Projekt EuroWARchild (gefördert durch den Europäischen Forschungsrat ERC) untersucht eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen des GESIS-Leibniz Instituts für Sozialwissenschaften, der Universität Oslo und des Peace Research Institute Oslo in Norwegen drei Generationen von „Kindern des Krieges“ aus Norwegen, Dänemark, Deutschland und Bosnien.

Die Autorinnen:

Lina Stotz promoviert am Centre for Gender Research und der Juristischen Fakultät der Universität Oslo in Norwegen

Ingvill Constanze Ødegaard ist Professorin am Center for Gender Research der Universität Oslo und wissenschaftliche Mitarbeiterin beim GESIS-Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Köln