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Horror und Wut auf Putin an der Front„Körper, Körper, Körper – so weit das Auge schauen kann nur Tote“

Lesezeit 6 Minuten
Die russische Armee erleidet in der Ukraine erneut enorme Verluste. Der Oktober sei der „tödlichste Monat“ seit Kriegsbeginn gewesen, heiß es. Soldaten schildern bei Telegram den Horror an der Front. (Archivbild)

Die russische Armee erleidet in der Ukraine erneut enorme Verluste. Der Oktober sei der „tödlichste Monat“ seit Kriegsbeginn gewesen, heiß es. Soldaten schildern bei Telegram den Horror an der Front. (Archivbild)

Immer wieder schickt der Kreml seine Soldaten in den „Fleischwolf“. Die Verluste bei der Truppe sind extrem – die Wut auf Putin wächst.

Seit dem 24. Februar 2022 herrscht Krieg in Europa. Bis heute greift Russland unerbittlich die Ukraine an. Ganze 138 unterschiedliche Kampfhandlungen meldete der Generalstab der ukrainischen Armee am Donnerstag entlang des gesamten Frontverlaufs. Ob Wohnhäuser, Infrastruktur oder militärische Ziele – das Grauen kennt kein Ende, die Angriffe schon lange keine Regeln mehr und der Kreml kein Erbarmen.

Das kostet viele Menschenleben, vor allem auf russischer Seite. Vom „tödlichsten Monat“ seit Kriegsbeginn war zuletzt die Rede. Noch nie habe Russland so viele Soldaten verloren wie im Oktober, hieß es aus Kiew und von westlichen Diensten unisono. Mehr als 700.000 Russen sollen seit Kriegsbeginn getötet oder verwundet worden sein. Es sind erschütternde Zahlen.

Berichte: „Tödlichster Monat“ seit Kriegsbeginn für Russlands Armee

Schon früh machten Berichte über die schlechte Ausstattung und Ausbildung der russischen Soldaten die Runde. Ebenso die Schilderungen von menschenverachtenden Kommandeuren, die tausende Menschenleben für geringe Fortschritte verheizten. Aufgehört hat das nicht: Derzeit versucht Putins Armee in der Grenzregion Kursk die von der Ukraine besetzten Gebiete zurückzuerobern. Auch im Donbass und rund um Charkiw gibt es weiter gnadenlose Gefechte – und viele Tote.

Russische Soldaten im November in der Grenzregion Kursk. Die Ukraine hält dort Gebiete besetzt. (Archivbild)

Russische Soldaten im November in der Grenzregion Kursk. Die Ukraine hält dort Gebiete besetzt. (Archivbild)

Dass die Welt überhaupt etwas über die Front erfährt, liegt seit Kriegsbeginn auch an den redseligen russischen Kriegsbloggern. In ihren Telegram-Kanälen berichten sie mal mehr und mal weniger schonungslos von der Front und gehen dabei auch oftmals mit dem Kreml hart ins Gericht. Auch deshalb weiß man von der russischen „Fleischwolf“-Taktik, bei der massenweise Infanterie in den Kugelhagel geschickt wird.

Grenzregion Kursk: Putins nächster „Fleischwolf“?

In Bachmut hat es das gegeben. In Awdijiwka ebenfalls. Und nun scheint sich auch in Kursk wieder ein „Fleischwolf“ zu entwickeln. Rund 50.000 Soldaten hat Moskau dort für eine Gegenoffensive versammelt, darunter auch Truppen aus Nordkorea, heißt es. Größere Geländegewinne sind den Kreml-Truppen bisher jedoch nicht gelungen – stattdessen gibt es Berichte über enorme Verluste, Hinterhalte und eben den berüchtigten „Fleischwolf“.

Und wie bereits zuvor, wenn die Lage für die russischen Truppen prekär wurde, kommen wieder eindringliche Schilderungen von der Front. Mit scharfer Kritik am Kreml geizen die russischen Kriegsblogger dabei nicht. Die aktuellen Berichte, die nicht unabhängig überprüft werden können, deuten auf eine grausame Lage an der Front hin.

„Seit acht Tagen verstecke ich mich unter Trümmern“

„Körper, Körper, Körper unserer Soldaten. Sie liegen überall. So weit das Auge schauen kann, sieht man nur Tote“, schilderte nun ein russischer Soldat in einer reichweitenstarken Telegram-Gruppe den Horror, den er an der Front rund um Wowtschansk erlebt hat. „Seit acht Tagen verstecke ich mich unter Trümmern. Ein Scharfschütze hat mein Bein erwischt. Das Loch ist ziemlich groß – man kann den Finger hindurchstecken“, berichtete der Soldat.

Ein Foto des russischen Verteidigungsministeriums soll einen Raketenangriff in Kursk zeigen. Berichten zufolge, kommt es auch dort mittlerweile wieder zu einem „Fleischwolf“. (Archivbild)

Ein Foto des russischen Verteidigungsministeriums soll einen Raketenangriff in Kursk zeigen. Berichten zufolge, kommt es auch dort mittlerweile wieder zu einem „Fleischwolf“. (Archivbild)

Manche Kameraden kauerten noch länger in dem Versteck als er selbst. „Sie bräuchten eine Evakuierung, aber es gibt keine, und auch kein Zeichen, dass es eine geben wird.“ Zigaretten und Schmerzmittel – mehr werde von den verbündeten Drohnen nicht an sie geliefert. „Die Männer verrotten, aber der Sanitäter kann ihnen nicht helfen“, schreibt der Soldat.

Russen schildern Horror an der Front: „Die Drohne hat Igor erwischt“

Der Weg zu einer sicheren Position schien, so schildert er es, nahezu unüberwindbar – überall seien ukrainischen Drohnen und Sperrfeuer herumgeflogen. Irgendwann sei er das Risiko dennoch eingegangen, berichtete der Mann. Er schafft es, sein Kamerad jedoch nicht. „Ich hörte ein Summen. Dann eine Explosion. Die Kamikazedrohne hat Igor erwischt.“ Dann erreichte der Infanterist, so berichtet er, ein Versteck. „Ich hörte Mörserfeuer. Falls mir andere hinterhergelaufen sind, hatten sie nicht so viel Glück wie ich“, endet der Bericht.

Die Armeeführung habe „eine Offensive in der Region Charkiw begonnen, nur um erneut in einem ‚Fleischwolf‘ zu landen“, kommentierte der Kriegsblogger, der den Bericht öffentlich gemacht hatte, die Schilderung von der Front. „Ja, wir nehmen Territorium ein, aber wir bezahlen einen enormen Preis für völlig zerstörte Gebiete“, lautete sein Fazit.

Wut bei russischen Truppen: „Wie Kanonenfutter geschlachtet“

„Wir werden vor die befestigten Maschinengewehrbunker des Feindes geschickt, um wie Kanonenfutter geschlachtet zu werden“, berichten andere russische Soldaten in dieser Woche. Vier Gruppen von Marinesoldaten hätten bei den jüngsten Gefechten an der Front „schwere Verluste“ erlitten. Zwei weitere seien „vollständig zerstört“ worden, lediglich sieben Soldaten hätten es von der Front zurückgeschafft, so die Angaben.

Wo die Kampfhandlungen stattgefunden haben sollen, berichteten die Kämpfer nicht, die sich in einem Video zu Wort gemeldet haben, um auf ihre Lage hinzuweisen. Auch diese Aufnahme kann nicht unabhängig überprüft werden. Kritik an der Armeeführung dürfte von russischen Kriegsbloggern allerdings nicht grundlos veröffentlicht werden – einige der Berichterstatter zahlten bereits einen hohen Preis für derartige Veröffentlichungen.

Offene Kritik an Putin und am Kreml ist in Russland gefährlich

Offene Kritik am Kreml, der Armeeführung oder Präsident Wladimir Putin ist in Russland nicht gerne gesehen. Das Verteidigungsministerium in Moskau ist im Gegenteil stets darum bemüht, möglichst viele Details im Dunkeln zu lassen. Wie es ihren Söhnen an der Front ergeht, sollen die russischen Mütter nicht im Detail erfahren.

Und doch lässt sich die Wut nicht ganz verheimlichen, auch in der Heimat nicht. So machten in dieser Woche Berichte die Runde, dass eine Gruppe von Soldaten in ihrer Kaserne in Novosibirsk randaliert hätten, um eine erneute Entsendung in die Ukraine zu verhindern.

Wladimir Putin gnadenlos: „Er würde lieber neue Gräber bauen“

Mindestens 50.000 Soldaten habe Russland alleine in den bisherigen „Fleischwölfen“ verloren, berichtete die BBC bereits im April. Seitdem sind den jüngsten Berichten zufolge noch einmal zigtausende tote und verwundete Soldaten hinzugekommen. Von einem „entsetzlichen Meilenstein“ hatte der ehemalige britische Verteidigungsminister Grant Shapps im Frühjahr gesprochen.

Die russische Taktik beweise, dass „Putin sich nicht um sein Volk schert“, erklärte der Brite. „Er würde lieber neue Gräber bauen und sie mit Russlands Söhnen füllen, als zuzugeben, dass seine Invasion gescheitert ist.“ Wenige Monate später scheint Shapps mit der Prognose recht zu behalten. Russland startet die nächste Großoffensive, diesmal in Kursk – und erneut sind die Verluste hoch.

Weniger Geld für verwundete Soldaten: „Eine Sache der Fairness“

Und Putin? Der bleibt auch trotz der Wahl von Donald Trump in den USA auf Kriegskurs, sagen Analysten. Gleichzeitig unterstrich der Kremlchef in diesen Tagen erneut seine Erbarmungslosigkeit gegenüber den eigenen Truppen. Die Entschädigungen für im Militärdienst verwundete Soldaten sollen künftig neu gestaffelt werden, wurde in dieser Woche bekannt.

Wie etwa das Portal „Meduza“ unter Berufung auf ein von Putin am Mittwoch unterzeichnetes Dekret berichtet, bringt die Neuregelung wohl massive Kürzungen für die Betroffenen mit sich. In der geringsten Verletzungskategorie von 100.000 Rubel erhalten Soldaten demnach in Zukunft nur noch knapp 1.000 Euro, etwa ein Dreißigstel der bisher pauschal ausgezahlten Entschädigung. Die Neuregelung sei „eine Sache der Fairness“, hieß es dazu aus Moskau.