Eine Wintermüdigkeit legt sich über den Westen, die für die Ukraine gefährlich werden und Russland zu einem Sieg verhelfen könnte.
Kein Ende des Krieges in SichtUkraine kämpft gegen Müdigkeit des Westens – geht Putins Kalkül auf?
„2023 wird das Jahr unseres Sieges“, versprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Februar am ersten Jahrestag des Krieges. Schon bald würden die Ukrainer wieder auf ihrer geliebten Halbinsel Krim Urlaub machen, sagte sein Geheimdienstchef.
Nach mehr als 21 Monaten brutaler Kämpfe ist ein Ende des Krieges jedoch nicht in Sicht. Immer wieder gab es die Hoffnung, der ukrainischen Armee gelänge schon bald ein Durchbruch an der Front. Den Russen würde die Munition ausgehen, die Soldaten wären unfähig oder kurz vor der Flucht. Doch die ukrainische Gegenoffensive blieb deutlich hinter den Erwartungen der Verbündeten zurück, die der Ukraine schwere Nato-Waffen im Milliardenwert überlassen und in Niedersachsen und Bayern Tausende Soldaten ausgebildet hatten.
Während immer klarer wurde, dass die Ukraine keinen schnellen Sieg erringen kann, entbrannte im Nahen Osten ein weiterer Krieg, der die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zog. Jetzt kämpft die Ukraine gegen einen weiteren Feind: die sogenannte Kriegsmüdigkeit des Westens. Wann ist der Krieg vorbei, fragt man sich immer häufiger in Washington und anderen westlichen Hauptstädten.
Hilfen für die Ukraine um 87 Prozent eingebrochen
Im Kreml freut man sich über diese Entwicklung. „Wir haben immer wieder schon früher gesagt, dass nach unseren Prognosen eine Müdigkeit bei diesem Konflikt eintreten wird“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Putins Plan, die Ukraine und ihre Verbündeten über die Zeit in die Knie zwingen zu können, scheint aufzugehen. Eine neue Analyse des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW Kiel) zeigt, dass die Unterstützung zuletzt deutlich gesunken ist. „Wir sehen einen Rückgang der neuen Hilfszusagen um 87 Prozent“, sagt IfW-Experte Pietro Bomprezzi über die Auswertung der Monate August bis Oktober.
Das ist der niedrigste Stand seit Beginn des Krieges 2022. Statt 16 Milliarden im vergangenen Jahr, beliefen sich die zugesagten Hilfen im gleichen Zeitraum 2023 nur auf 2 Milliarden Euro. Die Daten, die dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vorab vorliegen, belegen erstmals, dass der Westen „kriegsmüde“ geworden ist.
Demnach wurden der Ukraine weniger Waffen zugesichert, aber auch weniger finanzielle und humanitäre Hilfe. „Aber den größte Rückgang beobachten wir bei der militärischen Hilfe“, sagt Bomprezzi. Der Grund dafür sei das Ausbleiben neuer Hilfspakete aus den USA, wo ein innenpolitischer Streit größere Militärhilfen blockiert. Doch auch andere Länder machten weniger Zusagen. Von den 42 Staaten, die zu den Unterstützern der Ukraine zählen, hat weniger als die Hälfte in den letzten Monaten neue Hilfspakete angekündigt. Die Ukraine ist zunehmend von einigen wenigen Kerngebern anhängig, neben den USA und Deutschland sind dies nord- und osteuropäische Länder.
„Die Situation ist ernst“, sagt Grünen-Politiker Anton Hofreiter dem RND. „Putin setzt darauf, sich langfristig auf dem Schlachtfeld durchzusetzen.“ Dass die US-Hilfen für die Ukraine schon jetzt abgenommen haben, sieht er mit Sorge. „Jetzt kommt es umso mehr auf Europa an.“ Hofreiter warnt davor, Putin Verhandlungsbereitschaft zu unterstellen, obwohl keine erkennbar sei. Der Westen müsse jetzt „schnell und umfangreich die Waffensysteme bei der Rüstungsindustrie bestellen, die wir und die Ukraine brauchen, um uns zu verteidigen“.
Inzwischen haben die EU-Mitglieder und EU-Institutionen der Ukraine mehr Hilfe zugesagt als die USA. Dabei handelt es sich vor allem um mehrjährige finanzielle Unterstützung. Deutschland, Norwegen und Dänemark haben ebenfalls Hilfsprogramme mit einer langen Laufzeit aufgesetzt, doch nur wenige Staaten folgten diesem Beispiel.
Selenskyj kämpft gegen Kriegsmüdigkeit
Die Welt dürfe angesichts dieses Krieges nicht müde wirken, warnt Selensky und kämpft gegen den Eindruck, der militärische Konflikt habe sich in eine Sackgasse manövriert und ein ukrainischer Sieg sei in weiter Ferne. Denn wer unterstützt schon mit milliardenschweren Waffenpaketen eine Armee, die keine Chance zu haben scheint? „Wir sind zuversichtlich und kämpfen für das, was uns gehört“, bekräftigte der Präsident noch vor wenigen Tagen.
Trotzdem bröckelt in Europa und den USA die Bereitschaft, die Ukraine auch in Zukunft militärisch zu unterstützen. „Der Krieg im Gazastreifen ist dafür bloß eine Ausrede“, sagt Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations. Denn Israel und die Ukraine hätten nur wenige gemeinsame Güter, die sie beide für ihre militärischen Operationen benötigen. „Israel benötigt viel mehr Luft-Boden-Munition, die Ukraine in erster Linie Artilleriemunition“, sagt Gressel dem RND. Die in Osteuropa produzierte Munition für die Ukraine habe zudem sowjetische Kaliber und sei für Israel quasi nutzlos. „Militärisch gibt es keinen Grund, dass sich die Unterstützung Israels und der Ukraine ausschließen“, stellt Gressel klar. Für die Republikaner in den USA sei der Krieg in Nahost ein willkommener Vorwand, um die Unterstützung der Ukraine zu reduzieren.
Seit Beginn des Krieges in Nahost verzeichnet die Ukraine nach eigenen Angaben einen Rückgang der US-Munitionslieferungen, die für die Gefechte entscheidend ist. Es gab sogar Pläne, für die Ukraine bestimmte Artilleriemunition nach Israel zu schicken. Dass sich der Rückgang der Unterstützung seit der Eskalation in Nahost womöglich beschleunigt, lässt sich aus den IfW-Daten nicht ablesen – noch nicht.
Der Ukraine mangelt es an allem – vor allem aber an Munition
Immer häufiger melden ukrainische Truppen Munitionsengpässe entlang der Front, selbst in den am stärksten umkämpften Gebieten im Osten und Süden des Landes. Dabei haben die USA der Ukraine bereits mehr als zwei Millionen Patronen geliefert. Russland schieße 20- bis 30-mal so viel, beklagen ukrainische Soldaten an der heißesten Front bei Awdijiwka. Dort zeigt sich gerade, dass die Russen noch immer zu großen Angriffen in der Lage sind.
Auf ukrainischer Seite mangele es an allem, so Beobachter, doch vor allem an Munition für eine weitere Offensive im kommenden Jahr. Im Sommer feuerten die ukrainischen Streitkräfte etwa 240.000 Geschosse pro Monat ab, zuletzt nur noch 90.000. Selbst dies ist etwa doppelt so viel, wie die EU und USA derzeit zusammen produzieren. Die Rüstungsindustrie ist überfordert von der Nachfrage, und die Munitionsdepots der USA und EU-Staaten leeren sich schneller, als sie wieder aufgefüllt werden können.
Eine Million Schuss hatte die EU der Ukraine bis März 2024 zugesagt, bisher sind aber lediglich etwas mehr als 300.000 übergeben worden. „Die EU-Staaten können der Ukraine nicht so viel Munition liefern wie versprochen, und die Munitionskapazitäten werden nicht ausreichend ausgebaut“, sagt Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. „Europa tut viel, aber nicht genug, um die Ukraine zum Erfolg zu führen.“
Es geht nicht nur um Munition, die vor Monaten versprochen, aber bisher nicht geliefert wurde, sondern auch um Kampf- und Schützenpanzer, Haubitzen, Drohnen und F-16-Kampfjets. „Die Lücke zwischen den versprochenen und den tatsächlich gelieferten Waffen ist sehr groß“, sagt IfW-Experte Bomprezzi. 37 Prozent der zugesagten Panzer seien geliefert worden, 76 Prozent der Haubitzen und 44 Prozent der Flugabwehrsysteme.
Ukraine setzt vermehrt auf Eigenproduktion
Die Unzuverlässigkeit westlicher Militärhilfen hat die Ukraine nun dazu veranlasst, die eigene Rüstungsindustrie trotz anhaltenden Beschusses wieder hochzufahren. Eigenproduktionen sollen die Abhängigkeit vom Westen verringern. „Schon jetzt produziert die ukrainische Rüstungsindustrie mehr Schützenpanzer, als in ganz Europa gebaut werden“, sagt Gressel. Doch die Mengen sind trotzdem gering und eine Ausweitung der Produktion schwierig, da Russland die ukrainische Rüstungsindustrie an den ersten Kriegstagen dem Erdboden gleichgemacht hat.
Damit überhaupt Panzer vom Band rollen können, hat die Ukraine einzelne Werke dezentral in westliche Landesteile verlegt und neue Lieferketten aufgebaut. Die Munitionsproduktion läuft auch in ukrainischen Fabriken auf Hochtouren. Jede fünfte Granate stellt die Ukraine inzwischen selbst her. Doch auch das reicht nicht für die benötigten Mengen an der Front. „Und für komplexe Munition, den Bau von Kampfflugzeugen und Luftverteidigungsmittel wie Iris-T und Patriot wird die Ukraine auch in Zukunft auf westliche Partner angewiesen sein“, so Gressel.
In den vergangenen Wochen wurden immer mehr Stimmen laut, die massive Investitionen in die europäische Rüstungsindustrie forderten. „Der Krieg steht vor unserer Türpforte, nun ist Eile geboten“, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel und erwägt, für die Investitionen auch neue Schulden aufzunehmen. Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas schlug solchen milliardenschweren Militärfonds vor. Dass sich Europa ausgerechnet jetzt um seine Verteidigungsindustrie sorgt, liegt auch an einem möglichen Wahlsieg Donald Trumps im nächsten Jahr.
Hat Europa den Ernst der Lage erkannt?
„Europa muss die Zeit bis zu den US-Wahlen nutzen, um sich auf ein Szenario vorzubereiten, in dem die Amerikaner ihre Unterstützung für die Ukraine drastisch reduzieren“, sagt deshalb Experte Mölling. Der estnische Vorschlag eines EU-Militärfonds sei ein Schritt in die richtige Richtung. Die EU müsse jetzt beweisen, dass sie auf eigenen Beinen stehen könne. Derzeit tue Europa noch zu wenig, um sich selbst und die Ukraine ausreichend aufzurüsten und auszustatten. „Gelingt es Europa nicht, eigenständig zu werden, wird dies schwerwiegende Folgen für die künftige Sicherheit haben“, warnt Mölling.
Das Umdenken in Europa geht allerdings nur langsam voran. „Während Russland auf Kriegswirtschaft umgestellt hat, ist die europäische Rüstungsproduktion nicht mal ganz ausgelastet“, kritisiert der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth (SPD). „Wir brauchen ein deutliches Signal, dass Europa endlich aufgewacht ist und massiv seine Rüstungsproduktion hochfährt.“
Die Kämpfe in der Ukraine werden wohl noch lange andauern, da Moskau und Kiew nicht daran interessiert sind, über ein Ende des Krieges zu verhandeln oder sich mit einem eingefrorenen Konflikt zufrieden zu geben. „Natürlich ist die Gegenoffensive hinter den Erwartungen zurückgeblieben, aber der Krieg ist für die Ukraine nicht verloren“, sagt Außenpolitiker Roth.
Putin stellt Russland auf jahrelangen Krieg ein
Putin hat bereits die Weichen für einen jahrelangen Krieg gestellt. Das kürzlich verabschiedete Verteidigungsbudget ist das größte in der jüngeren Geschichte Russlands und übersteigt erstmals die Sozialausgaben. Der Kreml wies an, die Zahl der Soldaten um 170.00 auf mehr als 1,3 Millionen zu erhöhen. Europa ist alarmiert: „Die finnische Grenze ist geschlossen weil Putin Migranten als politische Waffe einsetzt, im Baltikum sehen wir täglich Cyberangriffe aus Russland heraus und in der Slowakei haben Fake News aus Putins Reich die politische Stimmung gedreht“, sagt EVP-Fraktionschef Manfred Weber dem RND. „Wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, wird es keinen Frieden geben, Putin wird uns weiter attackieren“, warnt der CSU-Politiker.
Der ukrainische Auslandsgeheimdienst geht davon aus, dass Russland auf eine langfristige Strategie zur Rückgewinnung von historisch russischen Gebieten setzt und eine „globale Neuverteilung“ in den nächsten 15 Jahren anstrebt.
Obwohl die Ukraine bereits Hunderte Milliarden Euro Militärhilfe erhalten hat, dürfte die Fortsetzung der Unterstützung für den Westen günstiger als ein russischer Sieg sein. Putin würde ermutigt von seinem Triumph die nächsten Länder ins Visier nehmen. Die Ukraine erhält genug Hilfe aus dem Westen, um nicht zu kapitulieren, aber zu wenig, um den Krieg zu gewinnen. Der Westen muss sich entscheiden, ob die Ukraine überleben soll oder nicht. (rnd)