Die Ukraine rückt in Kursk weiter vor – und gewährt Einblicke in ihre Pläne. Wladimir Putin schickt nun auch Wehrpflichtige in den Kampf.
Wut auf Kremlchef Putin wächstUkraine attackiert Brücken in Kursk – Russen plündern bei Landsleuten
Die ukrainische Gegenoffensive in der russischen Grenzregion Kursk dauert an – und soll nach Angaben eines ukrainischen Beamten nur die erste von „mehreren Etappen“ sein, mit denen die Ukraine den Kampf nach Moskau verlagern wolle. Das sagte Oleksii Drozdenko, Leiter der Militärverwaltung der nahe Kursk gelegenen ukrainischen Stadt Sumy am Sonntag (18. August) der britischen Zeitung „The Guardian“.
Mit dem bisherigen Verlauf der ukrainischen Überraschungsattacke zeigte sich Drozdenko zufrieden – und nannte enorm hohe Zahlen russischer Kriegsgefangener. „Manchmal sind es mehr als 100 oder 150 Kriegsgefangene am Tag.“ Zuvor hatte auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von vielen Gefangennahmen in Kursk berichtet.
Gegenoffensive in Kursk: Selenskyj will „Pufferzone“ in Russland
Am Sonntagabend äußerte sich Selenskyj unterdessen erstmals konkret zu einem der Ziele der Operation auf russischem Gebiet. Es solle eine „Pufferzone auf dem Territorium des Aggressors“ geschaffen werden, erklärte Selenskyj. Eine derartige Zone wollte vor der ukrainischen Offensive eigentlich Wladimir Putin in der Ukraine schaffen. Der Kremlchef forderte bereits vor Wochen die Schaffung einer „Sanitärzone“ in der Ukraine, um Angriffe auf Stützpunkte in Russland zu unterbinden.
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Nun befindet Putin sich angesichts des ukrainischen Vorstoßes plötzlich in der Defensive. Putin habe hier ein Problem, das ihn viele Monate beschäftigen werde, sagt der US-Militäranalyst Michael Kofman in einem Podcast der Denkfabrik Carnegie. Die „Bloßstellung“ der Armee Moskaus und Putins sei durch den Überraschungsangriff eindeutig gelungen, erklärte Kofman.
Ortschaften erobert, Brücken zerstört: Ukraine rückt in Kursk weiter vor
Die Erfolgsmeldungen der ukrainischen Truppen setzen sich unterdessen auch zu Wochenbeginn fort: Nach Angaben von Beobachtern konnten Kiews Soldaten weitere Ortschaften in Kursk unter ihre Kontrolle bringen. Der ukrainische Militärblog DeepState schrieb auf seiner Frontkarte am Montag die Orte Snagost und Apanassowka der ukrainischen Seite zu. Bei Olgowka seien die ukrainischen Truppen vorgerückt, hieß es.
Diese Dörfer liegen am westlichen Rand der Zone, die das ukrainische Militär bei seiner Offensive über die Grenze seit dem 6. August erobert hat. Rückhalt der russischen Truppen dort ist die Kreisstadt Korenjewo. Auch das US-Institut für Kriegsstudien (ISW) bestätigte in seinem Bericht vom Sonntagabend Kämpfe in genau dieser Region.
Gegenoffensive in Kursk: Gefechte am Sejm
Außerdem gab es Berichte über einen weiteren versuchten Vorstoß der Ukrainer über die russische Grenze in das Gebiet Kursk ein Stück weiter westlich. Dort können russische Truppen den Landkreis Gluschkowo nur über den Fluss Sejm hinweg verteidigen. Allerdings hat die ukrainische Luftwaffe nach eigenen Angaben von drei Brücken über den Fluss eine bereits zerstört und eine zweite zumindest stark beschädigt.
Für weitere inoffizielle Berichte über die Zerstörung auch der dritten Brücke gab es zunächst keine Bestätigung. Nach Angaben russischer und ukrainischer Militärblogger gab es Kämpfe bei der grenznahen Kleinstadt Tjotkino am Sejm. DeepState sah das Dörfchen Otruba auf dem anderen Flussufer unter Kontrolle ukrainischer Truppen.
Moskaus Schockstarre löst sich nur langsam
In Moskau scheint sich die Schockstarre derweil nur langsam zu lösen. Außerdem sieht sich der Kreml mittlerweile einiger Kritik im eigenen Land ausgesetzt. So bemängelten Bewohner der Region Kursk gegenüber Reportern der „Kyiv Post“ zuletzt, der Kremlchef habe sie „einfach zurückgelassen“.
Bei der Abwehr der ukrainischen Offensive scheint der Kreml unterdessen vermeiden zu wollen, zu viele kampferprobte Einheiten von der Front in der Ostukraine abzuziehen – und schickt laut einem Bericht der „Financial Times“ stattdessen viele Wehrpflichtige nach Kursk.
Putin schickt Wehrpflichtige nach Kursk: „Die Leute sind entsetzt“
„Die Leute sind entsetzt“, sagte Ivan Chuwilajew von einer NGO, die Russen dabei hilft, die Einberufung in die Armee zu verhindern. „Wir werden mit Anfragen überhäuft und kommen kaum hinterher“, fügte Chuwilajew im Gespräch mit der „Financial Times“ an. Der Schritt sorgt nicht nur für Ängste bei Wehrpflichtigen, sondern auch für Kritik am Kreml. „Können Rekruten die ukrainischen Truppen zurückdrängen? Ich habe da meine Zweifel“, sagte der russische Militäranalyst Yury Fedorow der „FT“ zufolge.
Gleichzeitig mehren sich die Berichte darüber, dass die russische Kriegsführung auf eigenem Gebiet genauso rücksichtslos und zerstörerisch ausfällt wie auch in der Ukraine. So berichteten Kriegsblogger zuletzt über Plünderungen von Häusern in Kursk – vor allem durch tschetschenische Truppen, die in der Region aktiv seien. Außerdem scheint die russische Armee, das legen die jüngsten Berichte ebenso nahe, bei der Abwehr des ukrainischen Angriffs auch die Städte in der Region unter massiven Beschuss zu nehmen.
„Wenn sie kämpfen, legen sie alles in Schutt und Asche“
„Nach all dem, was man weiß, muss man sagen, dass die russischen Streitkräfte sehr konsequent sind“, kommentierte Carlo Masala, Sicherheitsexperte von Bundeswehr-Universität, die Lage in Kursk. „Wenn sie kämpfen, legen sie alles in Schutt und Asche. Egal ob auf dem Territorium ihrer Opfer oder auf dem eigenen.“
Putins Armee stürme „russische Städte“ und werfe Bomben auf zivile Infrastruktur in Kursk, berichtete auch der Kiewer Präsidentenberater Mykhailo Podolyak am Montag. Zehntausende Russen seien deshalb zur Flucht gezwungen, während „russische Soldaten die Geschäfte und Häuser ihrer Nachbarn plündern“.
„Ihr könnt euch nicht länger abwenden, das werden wir nicht zulassen“
Podolyak wandte sich bei X auch an die russische Bevölkerung. In Russland sei man es gewohnt, den Krieg nur als „TV-Show“ zu sehen, erklärte der Selenskyj-Berater. „Jetzt erlebt ihr ihn aus nächster Nähe. Ihr könnt euch nicht länger abwenden, das werden wir nicht zulassen“, fügte Podolyak an. „Wenn ihr den Krieg nicht erleben wollt, müsst ihr eure ‚Führung‘ dazu zwingen, Frieden zu fairen Bedingungen zu schließen“, so der Rat aus Kiew.
Mit der seit zwei Wochen dauernden Offensive bei Kursk hat die Ukraine den Krieg gegen die russische Invasion erstmals auf das Gebiet des Gegners verlagert. Es ist auch das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass wieder ausländische Truppen auf russischem Staatsgebiet stehen.
Auf eigenem Gebiet stehen die ukrainischen Verteidiger unterdessen weiterhin schwer unter Druck. Der Generalstab in Kiew berichtete von 145 russischen Sturmangriffen entlang der Front am Sonntag. Davon hätten sich allein 45 Angriffe gegen den Frontabschnitt Pokrowsk im ostukrainischen Gebiet Donezk gerichtet. (mit dpa)