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„Alles hat Grenzen“Wie die deutsche Politik auf die Absage an Steinmeier reagiert

Lesezeit 5 Minuten
Steinmeier Polen dpa 130422

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Polen

Köln/Berlin – Nach der ukrainischen Ablehnung eines Besuchs von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich alle demokratischen Parteien aufgerufen, das Staatsoberhaupt „vor ungerechtfertigten Angriffen“ zu schützen. „Die Erklärung der ukrainischen Regierung, dass ein Besuch des Bundespräsidenten in Kiew derzeit unerwünscht ist, ist bedauerlich und wird den engen und gewachsenen Beziehungen zwischen unseren Ländern nicht gerecht“, sagte Mützenich am Mittwoch in Berlin.

Er warnte die Ukraine gleichzeitig vor einer Einmischung in die deutsche Innenpolitik. „Bei allem Verständnis für die existenzielle Bedrohung der Ukraine durch den russischen Einmarsch erwarte ich, dass sich ukrainische Repräsentanten an ein Mindestmaß diplomatischer Gepflogenheiten halten und sich nicht ungebührlich in die Innenpolitik unseres Landes einmischen“, sagte er.

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hatte Steinmeier für seine Russland-Politik in der Vergangenheit, aber auch die Bundesregierung für ihre Zurückhaltung bei Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferung mehrfach in ungewöhnlich scharfer Form kritisiert.

Kritik an Kiew aus der SPD

Auch der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Miersch nannte die ukrainische Entscheidung irritierend. „Präsident Selenskyj sollte seine Entscheidung überdenken, wenn er der Diplomatie eine Chance geben will“, sagte er für den Vorstand der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion. Gleichzeitig mahnte er zur Besonnenheit bei den Waffenlieferungen an die Ukraine: „Im Übrigen ist es richtig, dass die Bundesregierung bei der Frage der Waffenlieferungen sehr sorgfältig abwägt, um nicht einen Flächenbrand auszulösen, der in einem Dritten Weltkrieg münden kann.“

Selenskyj Johnson dpa 130422

Der Premierminister Großbritanniens war willkommen: Wolodymyr Selensykj mit Boris Johnson in Kiew (Archivbild)

„Das ist mehr als ärgerlich. Wir sind befreundete Länder und es wäre ein gutes Zeichen gewesen, wenn zusammen mit den anderen Regierungschefs auch Steinmeier nach Kiew gereist wäre“, sagte SPD-Außenpolitiker Nils Schmid zuvor bereits am Mittwoch im Deutschlandfunk. Die Entscheidung Kiews stoße „bei vielen in Deutschland auf völliges Unverständnis“. Schmid vertrat die Ansicht, dass die Absage von den tatsächlichen Fragen nur ablenke. „Die Europäer und die Nato wollen die Ukraine weiter unterstützen. Und dann braucht man aber auch einen angemessenen Umgang untereinander unter befreundeten Nationen und auch selbstverständlich mit unserem Staatsoberhaupt“, sagte Schmid.

CDU-Politiker äußert Verständnis für ukrainische Entscheidung

Der Unions-Außenpolitikexperte Jürgen Hardt (CDU) hat die Ablehnung eines Besuchs von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durch die Ukraine unterdessen als eine „schwere Belastung“ des Verhältnisses beider Länder bezeichnet. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) müsse noch heute mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj telefonieren, forderte Hardt am Mittwoch im „Morgenmagazin“ der ARD.

Scholz sollte mit Selensky „unter zwei Ohren die Dinge besprechen, auch alle Beschwernisse auf beiden Seiten auf den Tisch legen“, sagte der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er gehe davon aus, dass dadurch auch eine „neue Basis“ für die deutsch-ukrainischen Beziehungen gefunden werden könne. „Früher oder später muss Scholz auch selbst das direkte Gespräch mit Selenskyj in der Region suchen, idealerweise in Kiew“, fügte er an.

Kubicki schließt Kiew-Reise von Scholz vorerst aus

Hardt äußerte jedoch Verständnis für die ukrainische Entscheidung gegen einen Besuch Steinmeiers. Dieser habe als Kanzleramtsminister unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Erdgaspipeline Nordstream 1 „mit möglich gemacht“ und als Außenminister bei den Verhandlungen über das Minsker Abkommen eine Rolle gespielt, wobei die Ukraine den damaligen Prozess lediglich als „Hinhaltetaktik“ des russischen Präsidenten Wladimir Putin betrachte. Die ukrainische Regierung werfe Deutschland vor, das „zu lange toleriert zu haben“, sagte Hardt.

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Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki schließt eine Fahrt von Bundeskanzler Olaf Scholz nach Kiew als Reaktion auf die Absage an Steinmeier vorerst aus. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Kanzler einer von der FDP mitgetragenen Regierung in ein Land reist, das das Staatsoberhaupt unseres Landes zur unerwünschten Person erklärt“, sagte Kubicki der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Kubicki erklärte dazu, er habe jedes Verständnis für die politische Führung der Ukraine. Das Land kämpfe um sein Überleben. „Aber alles hat auch Grenzen. Ich glaube nicht, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gut beraten war, das Angebot eines solchen Besuchs nicht nur aus Deutschland zurückzuweisen.“

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat die Absage der ukrainischen Regierung an eine Reise von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Kiew unterdessen bedauert. „Wir haben gemeinsam über diese Reise gesprochen und ich hätte sie für sinnvoll gehalten“, sagte die Grünen-Politikerin am Mittwoch am Rande eines Besuches in der malischen Hauptstadt Bamako. „Der Bundespräsident hat bereits deutlich gemacht, dass er bedauert, dass er nicht reisen konnte. Ich bedauere das auch.“ Zugleich betonte Baerbock: „Es ist klar: Wir stehen voll und ganz an der Seite der Ukraine. Unterstützen die Ukraine bei ihrer Verteidigung vor Ort, sind in voller Solidarität.“

Ukraine verteidigt Entscheidung

Auf ukrainischer Seite wurde die Entscheidung von Präsident Selenskyj am Mittwoch derweil verteidigt. Der ukrainische Präsidentenberater Olexeij Arestowytsch warb um Verständnis für die Absage. Er kenne die Gründe nicht, doch die Politik und die Entscheidungen von Präsident Selenskyj seien sehr ausgewogen, sagte Arestowytsch am Mittwoch im ARD-„Morgenmagazin“ laut Übersetzung. „Unser Präsident erwartet den Bundeskanzler, damit er unmittelbar praktische Entscheidungen treffen könnte auch inklusive der Lieferung der Waffen.“ Zuvor hatte sich bereits der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, für einen Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in der Ukraine ausgesprochen. Es sei wichtig, „dass der Regierungschef nach Kiew kommt“, sagte Melnyk in einem am Dienstagabend auf ProSieben und Sat.1 ausgestrahlten Interview.

Beschwichtigend geäußert hat sich derweil auch Ex-Profi-Boxer Wladimir Klitschko. „Ich hoffe, dass der Besuch des Bundespräsidenten in Kiew nur aufgeschoben ist und in den kommenden Wochen nachgeholt werden kann“, sagte der Bruder des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko am Dienstagabend der „Bild“-Zeitung. „Ich halte es für dringend erforderlich, dass wir als Ukraine weiterhin Brücken nach Deutschland bauen“, betonte Klitschko.

Die ukrainische Führung hatte am Dienstag einen Besuch Steinmeiers abgelehnt, der gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Polen und den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen nach Kiew reisen wollte. Steinmeier befand sich zu diesem Zeitpunkt gerade bei einem Besuch in Polen. Die Entscheidung der Ukraine gilt als ungewöhnlicher diplomatischer Affront und Zeichen dafür, wie tief die Unzufriedenheit mit der deutschen Politik in der Ukraine ist. (das/dpa/afp)