Die Corona-Krise macht auch vor der Kirche nicht halt und stellt sie vor große Herausforderungen.
Dem Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer geht vor allem die Situation in Italien nahe.
Doch er sieht das Virus und die Krise nicht als Strafe Gottes. Vielmehr ruft er auf, jetzt erst recht den Kontakt zu Gott zu suchen.
Köln/Hildesheim – Herr Bischof, wie hat die Corona-Krise Sie verändert?
Was mir mein ehemaliger Sekretär, der aus Bergamo stammt, über die Situation in Italien berichtet, ist entsetzlich. Der dortige Bischof hat alle Trauerzeremonien ausgesetzt, weil sie wegen der großen Zahl der Toten gar nicht mehr hinterherkommen. Ein alter Franziskanerpater, Fra Aquilino, legt vor der Verbrennung der Leichen sein Smartphone auf die Särge und verbindet es mit den Angehörigen, damit diese wenigstens auf diese Weise Abschied nehmen können. Erst später, wenn alles vorüber ist, sagt der Bischof, solle es dann ein gemeinsames Requiem für alle Toten des Bistums geben. Das ist herzzerreißend und geht mir sehr nahe.
Das geht sicher allen so, die ein Herz haben. Was treibt Sie als glaubenden Menschen um?
Ich frage mich schon: Inwieweit trägt der Glaube, die Kirche, trägt auch unsere Theologie?
Was davon verliert an Tragkraft?
Auf dem Prüfstand stehen die Aussagen der Kirche über die Gegenwart Gottes. Das Zweite Vatikanische Konzil lehrt, Gott sei in verschiedenen Zusammenhängen gegenwärtig: vor allem in der Messfeier, in den Sakramenten, dann auch im Wort der Schrift und schließlich dort, „wo zwei oder drei in Jesu Namen versammelt sind“. Ich merke, wir haben uns sehr auf die Messe und die Sakramente konzentriert. Jetzt, da die Kirchen geschlossen sind, rücken die Bibel und die kleinen Gemeinschaften von Gläubigen als „Hauskirchen“ stärker in den Blick.
Mit Versammlungen von dreien wird es schon schwierig.
Aber zwei sind erlaubt. Und auch alleine kann ich die Schrift lesen und aus ihr leben. Das ist viel. Es kommt jetzt die große Frage Martin Luthers neu ins Spiel: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Nicht nur irgendwie vermittelt durch die Kirche, sondern ganz direkt in einem unmittelbaren Kontakt.
Zur Person
Heiner Wilmer, geboren 1961 in Schapen (Emsland), ist seit 2018 Bischof von Hildesheim. Der Geistliche absolvierte nach seinem Theologiestudium in Freiburg und Rom auch ein Lehramtsstudium, war Lehrer unter anderem in der New Yorker Bronx und leitete später das Gymnasium der „Herz-Jesu-Priester“, auf dem er Abitur gemacht hatte. Dieser katholischen Ordensgemeinschaft trat Wilmer 1980 bei. 2007 wurde er Provinzoberer, 2015 Generaloberer seiner weltweit tätigen Gemeinschaft. 2013 veröffentlichte er das Buch „Gott ist nicht nett“ (Herder-Verlag). (jf)
Und da komme ich noch einmal zurück auf die vom Zweiten Vatikanischen Konzil aufgegriffene Zusage Jesu: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Mein Leitmotiv für diese Zeit lautet: Die Gottesdienstausfälle halten uns an, uns auch auf andere Formen des Miteinanders zu besinnen, die in der christlichen Tradition durchaus vorhanden sind. Die Messfeier, die Eucharistie, ist sehr wichtig. Aber jetzt setzt euch hin! Lest in der Bibel! Sprecht darüber, zu zweit, zu dritt, per Telefonkonferenz, über Skype, wie auch immer! Vor allem: sprecht mit Gott!
Und vielleicht auch: Brecht das Brot und teilt es miteinander, wie die ersten Christen, ohne Priester?
Das ginge mir zu weit. Ich würde es umdrehen und sagen: Das Wort der Bibel ist auch eine nahrhafte Speise.
Muss die Frage nach Gottes Gegenwart nicht noch viel grundsätzlicher gestellt werden: Wo ist Gott angesichts eines unsichtbaren Feinds, der sich über die ganze Welt ausbreitet und tötet?
Ich schätze die protestantische Theologin Dorothee Sölle sehr, die ja lange in Köln gelebt hat – eine umstrittene, aber großartige Frau, die unseren Blick unerbittlich und kompromisslos auf das Leiden lenkt. Leiden, sagt Sölle, ist aus christlicher Sicht nicht ein Schicksal, das die Menschen zu ertragen hätten. Das Leiden führt zum Aufschrei, zum Protest – zur existenziellen Erschütterung: Wie konnte uns als Weltgesellschaft so etwas im 21. Jahrhundert widerfahren? In Italien erinnern sich die Menschen an Alessandro Manzonis berühmten Roman „Die Verlobten“, in dem es um das Wüten der Pest während des Dreißigjährigen Krieges geht – übrigens just in der Region Bergamo.
Womit die Frage nach Gott doch nur noch schärfer gestellt ist, weil sich die Spur des Leids und des Todes unauslöschlich und endlos durch die Jahrhunderte zieht.
Wir können das Leid nicht besiegen. Die Coronakrise vielleicht, hoffentlich. Aber nicht das Leid an sich. Das ist auch Dorothee Sölles dramatische Erkenntnis. Also geht es darum, wie wir mit dem Leid umgehen. Es ist, sagt Sölle, ein Modus der Veränderung. Aber ohne Verharmlosung, ohne Vertröstung. Das neu zu heben, könnte heute Aufgabe der Kirchen sein.
Und davon zu sprechen, dass Gott in den Leidenden selbst gegenwärtig ist: in den Coronapatienten, in den Kranken, die – wie in Bergamo – gar nicht selbst infiziert sind, aber wegen der knappen Ressourcen dennoch nicht mehr behandelt werden und ohne schmerzlindernde Mittel qualvoll sterben müssen. Und ich bin überzeugt, dass Gott natürlich auch in den Helfern gegenwärtig ist, die all diesen Menschen beistehen, so gut es geht.
Nein. Ich halte mich an einen Vers aus dem Neuen Testament: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ Trotzdem schüttelt diese Krise mich durch und zeigt mir: Gott ist noch einmal ganz anders, als du ihn dir vorgestellt hast.
Manchen kommt das Bild vom strafenden Gott in den Sinn: Die Menschheit bekommt die Quittung für ihre Überheblichkeit …
Dieser Gedanke ist fürchterlich und auch vollkommen unchristlich. Die Coronakrise ist keine Strafe Gottes. Sie ist eine Naturkatastrophe.
Sie sprachen von der Aufgabe der Kirchen. Finden Sie nicht, dass die Kirchen in der Krise gerade ziemlich abgemeldet sind? Die Kirchen wurden geschlossen, Gottesdienste abgesagt. Alles sang- und klanglos. Dabei gab es so etwas noch nicht einmal in Kriegszeiten.
Wir halten im Bistum Hildesheim die Kirchen geöffnet. Mit der klaren Auflage: nicht für Ansammlungen von Menschen, nur für das persönliche Gebet und als Ort des Rückzugs, des Verweilens. Wer möchte, soll hier zur Ruhe kommen, eine Kerze anstecken dürfen. Das wird auch wahrgenommen.
Ich habe von meinem Arbeitszimmer aus den Blick auf den Dom, und ich sehe immer wieder, wie das Portal auf- und zugeht. Menschen kommen und gehen. Aber verhalten. Es kommt mir wirklich so vor, als wäre der Stadt und dem Land eine Zeit der Kontemplation auferlegt – eine Art kollektiver Schweige-Exerzitien. Was die öffentliche Präsenz der Kirchen betrifft: Es stimmt schon. Im Moment gucken alle auf die Wissenschaftler und auf die Politiker. Wir warten auf Erkenntnisse über Impfstoffe oder Medikamente. Wir warten auf Entscheidungen, die Arbeitsplätze sichern und die Gesellschaft zusammenhalten. Die Kirchen kommen da auf den ersten Blick nicht vor. Ich merke aber durchaus, dass wir jetzt gefragt sind – auf eine Art, die man vorher vielleicht nicht vermutet hätte.
Gefragt wofür?
Als Anwältin, die einspringt. Die mit Zusagen kommt, nicht mit Ansagen, mit Zuspruch, nicht mit Ansprüchen. Ich finde, das kommt jetzt klar zum Tragen. Es drängt sich doch gerade die Frage auf: Was geschieht, wenn die „fugendichte Normalität“, wie es der Theologe Johann Baptist Metz einmal gesagt hat, einen Riss bekommt? Wenn das, was wir für sicher hielten, plötzlich nicht mehr hält? Wenn die Fundamente, auf die wir unser Leben gründen, zu zerbröseln drohen? Rationales Kalkül kommt an die Grenze, und wir spüren, dass es etwas braucht, das dahinter liegt. Wussten Sie, dass Jesus einen Beinamen hat?
Ich muss überlegen. Welchen meinen Sie?
Der Heiland. Das lässt aufhorchen. Jesus ist der Arzt. Alle kommen zu ihm und wollen, dass er sie gesund macht – körperlich und seelisch, und er verstand es, in einer schon damals fragmentarischen Existenz die Bruchstücke zusammenzufügen. Daran muss sich die christliche Religion, muss sich die Kirche messen lassen.
Das heißt?
Wir werden als Kirche durch die Coronakrise gezwungen, uns neu zu fragen, wie wir Jesus, dem Heiler, gerecht werden. Konkret: durch die Nähe zu den Menschen. Keine Nähe tötet. In diesen Tagen bedeutet es natürlich eine Nähe mit körperlichem Abstand. Die Krise ist ein Schlüsselerlebnis für uns: Die Kirche ist nicht für sich da, sondern für die Gesellschaft.
Innerkirchliche Reformdebatten sind für den Moment hinfällig. Für manche der Beleg, dass die Selbstbeschäftigung ohnehin irrelevant ist.
Im Gegenteil. Die Krise zeigt mir, dass Reformen notwendig sind, aber nicht hinreichend. Wir brauchen mehr. Wir haben eine Kirchenkrise, aber auch eine Krise des Glaubens in dem Sinne, dass uns nicht klar ist, wie das Beziehungsgeflecht zwischen dem Menschen und Gott, dem großen, unergründlichen Geheimnis, funktioniert.
Sie waren oberster Vertreter einer international tätigen Ordensgemeinschaft. Gerade erleben wir, wie Grenzpfähle heruntergehen und die Länder erst einmal auf Selbstschutz bedacht sind. Ist Corona das Ende der Idee von der Völkergemeinschaft?
Das wäre schlimm. Natürlich müssen wir uns auch als Gemeinschaft schützen, Regeln beachten, auf Abstand gehen. Aber es wäre die noch größere Katastrophe, wenn wir uns abschotteten und die anderen nicht mehr sähen. Rette sich, wer kann – das ist ein fatales Motto, für den Einzelnen wie für ein Volk. Aber ich bin zuversichtlich, dass der Egoismus nicht siegt, und ich nehme da auch viel Ermutigendes war.
Was zum Beispiel?
Erinnern Sie sich, als in den ersten Tagen der akuten Krise ständig von den systemrelevanten Berufen die Rede war? Da ging es um Ärzte, Wissenschaftler, Politiker und – Journalisten, nicht zu vergessen. Bis dann plötzlich klar wurde: Wahnsinnig systemrelevant ist die junge Frau mit Migrationshintergrund, die kaum Deutsch spricht, aber im Supermarkt an der Kasse sitzt oder die Regale nachfüllt.
Haben Sie Ostern 2020 schon abgesagt?
Wir haben diese Woche – zum ersten Mal in der Geschichte des Bistums Hildesheim – unsere Leitungskonferenz als Videoschalte abgehalten und festgelegt, dass die Gottesdienste am Gründonnerstag, Karfreitag und auch die Auferstehungsfeier in der Osternacht im Dom stattfinden. Mit einem winzigen Kreis von Mitwirkenden. Am Ostersonntag habe ich einen Radiogottesdienst im NDR und im WDR. Der Segen der digitalen Revolution – und ich sage hier bewusst „Segen“ – wird jetzt deutlich. Die Menschen können sich nicht nur für Sitzungen und Konferenzen virtuell verbinden, sondern auch für Gebet und Gottesdienst. Das ist sehr hilfreich.
Und trotzdem: Ostern als das höchste Fest der Christenheit in einem leeren Dom, ohne feiernde Gemeinde begehen – kommt Ihnen das nicht widersprüchlich vor?
Es ist zumindest eine sehr, sehr eigenartige Vorstellung. Aber vielleicht entspricht es der Ursprungssituation von Ostern: Wir schauen in das leere Grab und fragen: „Wo ist nun der Herr?“