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Interview

Historiker Loew
Zwischen Putins und Hitlers Propaganda „gibt es viele Parallelen“

Lesezeit 4 Minuten
Beim Einmarsch deutscher Truppen in Polen reißen Soldaten der deutschen Wehrmacht einen rot-weißen Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze nieder. Am selben Tag verkündet Adolf Hitler vor dem Berliner Reichstag mit dem Ausspruch „Seit 4.45 Uhr wird zurückgeschossen“ den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. (Archivbild vom 01.09.1939)

Beim Einmarsch deutscher Truppen in Polen reißen Soldaten der deutschen Wehrmacht einen rot-weißen Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze nieder. Am selben Tag verkündet Adolf Hitler vor dem Berliner Reichstag mit dem Ausspruch „Seit 4.45 Uhr wird zurückgeschossen“ den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. (Archivbild vom 01.09.1939)

Am 1. September 1939 überfielen deutsche Truppen Polen. Polen-Experte Peter Oliver Loew zeigt im Interview die Parallelen zwischen Hitlers und Putins Rhetorik.

Vor 85 Jahren begann das Deutsche Reich mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Diktator Adolf Hitler rechtfertigte den Angriff mit polnischen Provokationen, wie den Überfall auf den Sender Gleiwitz am Vortag. Diesen hatten die Deutschen als Vorwand selbst inszeniert.

Am Sonntag werden Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und Kulturstaatsministerin Claudia Roth (beide Grüne) zusammen mit Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts eine Gedenktafel am Standort der ehemaligen Kroll-Oper in Berlin enthüllen.

85. Jahrestag des Überfalls auf Polen: Gedenktafel am Standort der ehemaligen Kroll-Oper enthüllt

Beide Organisationen arbeiten an der Errichtung eines Deutsch-Polnischen Hauses als neuem Gedenkort in Berlins Zentrum. Über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Parallelen zu Russlands Krieg in der Ukraine sprach RND-Reporter Jan Sternberg mit Peter Oliver Loew.

Sie werden am 1. September zum 85. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen eine Informationstafel am Standort der ehemaligen Kroll-Oper in Berlin enthüllen. Woran wird damit erinnert?

Peter Oliver Loew: In der Kroll-Oper, dem Sitz des Reichstags nach dem Brand von 1933, hat Hitler am 1. September 1939 den Überfall auf Polen unter anderem mit dem Satz „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“ propagandistisch begründet.

Die Tafel an diesem Ort in Sichtweite von Kanzleramt und Bundestag soll an die Geschichte des Gebäudes erinnern und zeigen, dass sich die Bundesrepublik zur Verantwortung und Erinnerung bekennt. Sie endet mit dem Satz: „Am 2. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Hauptstadt. An der verlustreichen Eroberung Berlins durch die Rote Armee waren auch polnische Einheiten beteiligt.“ Die Tafel ist auch das erste materielle Zeichen, das auf das geplante Deutsch-Polnische Haus verweist.

Seit Jahren fordert Polen einen Erinnerungsort für seine Opfer des Zweiten Weltkriegs. Das Deutsch-Polnische Haus soll dieser Ort sein. Wann ist es soweit?

Wir sind auf einem guten Weg. Das Bundeskabinett hat den Realisierungsentwurf beschlossen, im Spätherbst soll sich der Bundestag damit befassen. Wenn es einen Beschluss und einen Standort gibt, können wir loslegen. Das geplante Denkmal könnte vielleicht zum 90. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen enthüllt werden, das Ausstellungshaus wenige Jahre später. Eine Stabsstelle kümmert sich derzeit um die weitere Konzeption.

Warum braucht es noch einen Erinnerungsort in Berlin?

Das Ziel ist, stärker und besser über das Leid der Polinnen und Polen unter der fünfeinhalb Jahre währenden Besatzung zu informieren, die mit dem Überfall der Wehrmacht vor 85 Jahren begann. Da gibt es noch große Lücken. Und außerdem ist es ein Zeichen gegenüber Polen: Wir Deutsche wollen erinnern!

In Deutschland wird der Jahrestag des Kriegsbeginns 1939 dieses Jahr von den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen überlagert…

… wer auch immer es für eine gute Idee hielt, Wahlen am 1. September abzuhalten, hatte kein gutes Gespür für die Geschichte. Das kann zu sehr unguten Assoziationen führen, wenn in Dresden und Erfurt dann auch noch eine Partei gewinnt, deren Verhältnis zur NS-Zeit alles andere als eindeutig ist.

Warum spielt die Angst vor einem neuen Krieg in den Landtagswahlkämpfen im Osten eine so große Rolle? Warum sind in Sachsen, Thüringen und Brandenburg nicht nur AfD und BSW, sondern auch Teile von SPD und CDU bereit, für Frieden mit Russland die Ukraine zu opfern?

Da kommt vieles zusammen. Eine diffuse Russophilie, eine Faszination für das „große Russland“ oder die „ruhmreiche Sowjetunion“ in ihrer einstigen Machtentfaltung, Angst, ein latenter Antiamerikanismus und ein mangelndes Wissen über die Staaten Mittel- und Osteuropas sowie eine Langzeit-Nachwirkung der sowjetischen Propaganda, die schon in den Jahrzehnten nach dem Krieg Friedensbewegungen instrumentalisiert hat.

Polens Premier Donald Tusk warnt vor einem möglichen neuen großen europäischen Krieg. „Krieg ist kein Konzept mehr aus der Vergangenheit“, sagte er. „Am beunruhigendsten ist derzeit, dass buchstäblich jedes Szenario möglich ist. Eine solche Situation haben wir seit 1945 nicht mehr erlebt.“ Was bezweckt Tusk mit solchen Warnungen?

Polen hat 1939 die Erfahrung gemacht, dass seine beiden Nachbarländer Deutschland und die Sowjetunion das Land überfallen und geteilt haben. Daraus resultiert ein besonderes Gespür für Drohungen. Die russische Propaganda vor dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 lief nach einem ähnlichen Muster ab wie die NS-Propaganda 1939. Der Ukraine wurde etwa das Existenzrecht abgesprochen – da gab es viele Parallelen.

Tusk will die anderen Europäer warnen: Tut etwas, um eure Freiheit zu verteidigen. Es gibt in Deutschland und anderen Ländern genügend Menschen, die für einen Frieden mit Russland die Ukraine aufgeben würden. Aber Frieden kann es nur geben, wenn wir durch die Unterstützung der Ukraine auch die Freiheit für die östlichen Mitgliedsstaaten der EU verteidigen, die sonst die nächsten Opfer der expansiven und aggressiven Politik Putins würden.