Köln – Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDB) hat jetzt bekannt gegeben, dass das erste Gesetz, dass er bereits in Auftrag gegeben hat, die Streichung des so genannten Werbeverbots für Abtreibungen (Paragraf 219a) ist. Der Paragraf verbietet Ärztinnen und Ärzten auch im Netz über Abtreibungen zu informieren und fachlich qualifiziert zu beraten, da sie sonst mit einem Ermittlungsverfahren rechnen müssen. Mit der neuen Ampel-Regierung tut sich in Deutschland einiges. Neben der Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre und dem legalen Verkauf von Cannabis könnte damit auch die Debatte um den umstrittenen Paragrafen 218 wieder aufflammen. Grund genug für uns, noch einmal einen Blick auf die 150-jährige Geschichte der Abtreibungsregelungen in Deutschland zu werfen und die Situation für Frauen mit ungewollter Schwangerschaft zu beleuchten.
Als Wanda S. abtreibt, ist sie 17, liiert mit einem vier Jahre älteren Freund, der ihr in jeder Hinsicht überlegen ist. Und sie kurz zuvor gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr überrumpelt hat. Ohne zu verhüten – „Wir Männer haben uns im Griff.“ Wanda wächst in einem streng katholischen Elternhaus auf, die Pille ist für sie tabu. Die ungewollte Schwangerschaft bringt Wanda S. in einen existenziellen Konflikt, sie denkt an Selbstmord.
Ein Kind von dem – mittlerweile – Ex-Freund, der neben vielen anderen Gründen, die gegen ihn sprechen, die Vaterschaft strikt abstreitet? Kommt nicht in Frage! Ebenso wenig wie die Schwanger- geschweige denn die Mutterschaft, die sich weder Wanda – selbst noch mehr Kind als Erwachsene – und auch ihr Umfeld beim besten Willen nicht zutrauen. Abtreiben? Moralisch und ethisch undenkbar.
Doch mit Hilfe einer liberal eingestellten Frauenärztin und Pro Familia werden Wandas Suizidgedanken mühsam aus dem Weg geräumt. Wanda entscheidet sich für den Abbruch. Nichts anderes wäre für sie in Frage gekommen. Zu dieser Zeit. Im Jahr 1985, wenige Monate vor Wandas Abitur.
Ungewollt schwanger und Straftäterin
Zehn Jahre zuvor hat das Bundesverfassungsgericht eine jahrelang politisch erstrittene Fristenlösung gekappt, die einen Abbruch vor der zwölften Schwangerschaftswoche legitimiert – und Wanda bei ihrer Entscheidung geholfen hätte. So aber macht sie sich zur Straftäterin.
Wie alle ungewollt schwangeren Frauen, die abtrieben, weil sie den gesetzlich vorgeschriebenen Lebensschutz des ungeborenen Kindes missachten. Und den Schutzauftrag des Staates. Das ist auch heute noch so, allerdings gibt es mittlerweile eine Fristenlösung und mehrere Ausnahmeregelungen, die eine Abtreibung entkriminalisieren.
Das sagen §218 und §219a
Seit 150 Jahren regelt der Paragraf 218, dass Schwangerschaftsabbrüche als Tötungsdelikt gelten. Er hat zwar einige zaghafte Reformen durchlaufen, dennoch ist er bis heute Teil des Strafgesetzbuches (StGB) und damit im Kern unangetastet. Er besagt, dass, wer abtreibt, rechtswidrig handelt und mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren rechnen muss. Es sei denn, die Betroffene hat in einer staatlich anerkannten Beratungsstelle an einer Pflichtberatung teilgenommen, hat drei Tage Bedenk-Frist eingehalten und den Eingriff vor Ende der zwölften Schwangerschaftswoche vornehmen lassen. Straffrei ist der Abbruch auch dann, wenn die ungewollt Schwangere eine medizinische und/oder kriminologische Indikation hat, sie also vergewaltigt wurde oder eine Schwangerschaft ihre Gesundheit gefährden könnte.
Es ist allerdings gar nicht so einfach, eine fachkundige Person zu finden, die einen Abbruch vornimmt. In Paragraf 219a StGB heißt es verkürzt: Wer Werbung für eine Abtreibung macht, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe bestraft. De facto verbietet der Paragraf Ärztinnen und Ärzten also, öffentlich über Abtreibungen zu informieren. Er wurde vor allem durch Kristina Hänel bekannt: Die Gynäkologin hatte auf der Homepage ihrer Praxis darüber informiert, dass sie Abbrüche vornimmt, wie sie das tut und für wie viel Geld. Sie wurde angezeigt und zu einer Strafe von 2500 Euro verurteilt.
EU-Parlament fordert Entkriminalisierung
Mit der neuen Regierung könnte die ins Stocken geratene Diskussion um die Abtreibung wieder aufflammen. Die Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und FDP plant, das umstrittene Werbeverbot abzuschaffen. Der entsprechende, veraltete Paragraf 219a, der aus einer Zeit stammt, zu der es noch keine Beratungspflicht gab, wird gestrichen, heißt es im Koalitionsvertrag. SPD und Grüne sprechen sich zudem dafür aus, §218 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Druck kommt auch aus dem EU-Parlament, das fordert, Abtreibungen zu entkriminalisieren und Hindernisse für legale Abtreibungen zu beseitigen. Stattdessen sollte es flächendeckend niedrigschwellige Information und Aufklärung geben, einen kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln und die Möglichkeit, in allen öffentlich geförderten Krankenhäusern abtreiben zu können.
Das sagen die Parteien zur Abtreibung
SPD
Die SPD fordert eine Streichung der Paragrafen 218 und 219a, um Frauen, die sich in einer Konfliktsituation für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, ungestörten Zugang zu Informationen zu ermöglichen. Im Wahlprogramm heißt es dazu: „Schwangerschaftskonflikte gehören nicht ins Strafrecht.“
Die Grünen
Die Grünen plädieren für eine Überführung des Schwangerschaftsabbruchs aus dem Strafrecht sowie die Streichung des Paragrafen 219a, auch um ein Recht auf Beratung, keine grundsätzliche Kriminalisierung von Abbrüchen zu ermöglichen und einem Versorgungsnotstand entgegenzusteuern.
FDP
Die FDP möchte den Paragraf 219a streichen, an Paragraf 218 aber festhalten, argumentiert jedoch eher verfassungsrechtlich als ethisch. Außerdem fordert die Partei, dass das Wissen rund um Schwangerschaftsabbrüche und deren Nachsorge Bestandteil der medizinischen Ausbildung und Versorgung wird.
CDU/CSU
CDU/CSU wollen an beiden Paragrafen festhalten, mit dem Argument, dass ungeborenes Leben wie alle Menschen einen Anspruch auf Schutz habe.
Die Linke
Die Linke will die Paragrafen 218, 219 und 219a vollständig aus dem Strafgesetzbuch streichen. Abbrüche und ihre Nachsorge seien medizinische Leistungen, die als Teil der regulären Gesundheitsversorgung zu regeln seien.
AfD
Die AfD betont das Recht des „ungeborenen Kindes“ und spricht sich gegen alle Versuche aus, Abtreibungen zu bagatellisieren und staatlicherseits zu fördern.
Dahinter steht die Annahme, dass Abtreibungsverbote keine Abbrüche verhindern. Im Gegenteil. Trotz strenger Gesetze finden laut Amnesty International weltweit noch immer zu viele illegale Eingriffe statt. Unsachgemäße Schwangerschaftsabbrüche seien weltweit die Hauptursache für den Tod schwangerer Frauen. Umgekehrt würde eine Legalisierung die Zahl der Abtreibungen nicht erhöhen, wie viele Befürworter des Paragrafen 218 behaupten.
100.000 Abtreibungen in Deutschland
In Deutschland gab es 2020 nach Angaben des Statistischen Bundesamts knapp 100.000 Schwangerschaftsabbrüche. Die Zahl ist in den vergangenen Jahren stark rückläufig. Ein liberaleres Abtreibungsgesetz werde die Fallzahlen also nicht in die Höhe schnellen lassen, glauben die Gegner des Paragrafen 218. Denn ungewollt Schwangere handelten nicht leichtfertig, sondern befänden sich, wie auch Wanda S., in einer sehr konfliktreichen Situation, in der ihnen so wenig zusätzliche Hürden wie möglich im Weg stehen sollten.
Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: In vielen Regionen Deutschlands herrscht ein Versorgungsnotstand. Die Zahl der Praxen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, ist rein statistisch von 2050 im Jahr 2003 auf 1109 im Jahr 2020 gesunken – also um 46 Prozent. Ein großes Hindernis beim Zugang zu Abtreibungen ist die Verweigerung vieler Ärztinnen und Ärzte aufgrund persönlicher Überzeugungen. Denn Medizinern steht es frei, aus Gewissensgründen keine Abbrüche anzubieten. Hinzu kommt das in Paragraf 219a geregelte Werbeverbot.
150 Jahre anhaltender Disput um §218
Der 150 Jahre anhaltende Disput um den Paragrafen 218 besteht im Kern aus den sich diametral widersprechenden Argumenten derer, die sich für den Lebensschutz des ungeborenen Kindes stark machen und denen, die das Selbstbestimmungsrecht der Frau einfordern. Dazwischen spielen aber auch immer bevölkerungspolitische Erwägungen eine Rolle. Die bewegte Geschichte eines umstrittenen Paragrafen im Galopp zu erzählen, fällt schwer, ginge aber so – oder ähnlich:
Im Mai 1871 wird der Paragraf 218 ins Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs aufgenommen und stellt Abtreibungen unter Strafe, mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus. Schon früh nach seiner Einführung formiert sich Widerstand gegen den Paragrafen. 1909 fordert der Bund Deutscher Frauenvereine in einer Petition die Straffreiheit im Zusammenhang mit einer Fristenlösung. Der Reichstag lehnt die Petition ab, auch wegen der seit 1900 rückläufigen Geburtenzahlen, durch Abtreibungs- und Verhütungskontrolle soll der Nachwuchs an Soldaten und Arbeitskräften gesichert werden.
Die proletarische Frauenbewegung wehrt sich 1913 mit einem Gebärstreik gegen die Instrumentalisierung weiblicher Körper und setzt einen gesellschaftlichen Diskurs zwischen Abtreibungsgegnern und Gegnern des sogenannten „Gebärzwangs“ in Gang. Bemühungen, den Paragrafen in der Zeit der Weimarer Republik zu reformieren, scheitern.
Nationalsozialisten legalisieren Abtreibung
Die Nationalsozialisten legalisieren die Abtreibung, mit dem perfiden Ansinnen, „eine überlegene Rasse“ zu schaffen und die „Geburt eines erbkranken Kindes“ zu verhindern. Abtreibungen sind fortan kein Tötungsdelikt mehr sondern ein Instrument, um „Angriffen auf Rasse und Erbgut“ zu begegnen. Die eugenische Indikation erlaubt Abbrüche von Jüdinnen, Romnja und Sintezzi, Frauen mit Behinderungen und „Asozialen“, stellt aber alle anderen unter Todesstrafe. Die Alliierten schaffen diese Novelle nach der Befreiung zwar ab, der Paragraf 218 wird im Jahr 1949 dennoch fast unverändert in das Strafgesetzbuch der neu gegründeten Bundesrepublik übernommen.
Auch in den 50er- und 60er Jahren, zu Zeiten des Kalten Krieges, hält man aufgrund bevölkerungspolitischer Ziele an der Strafbarkeit des Abbruchs fest, was den Widerstand der Frauenbewegung der 70er Jahre provoziert. Mit der Parole „Mein Bauch gehört mir“ demonstrieren Frauen explizit für ihr Selbstbestimmungsrecht und eine Streichung des Paragrafen 218. Am 6. Juni 1971 titelt das Magazin „Stern“ mit der Schlagzeile „Wir haben abgetrieben“ und zeigt 28 Frauen, die sich zur ihrer Abtreibung bekennen. Die Kampagne, initiiert von der Kölner Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, löst eine breite Debatte aus zwischen denen, die das Persönlichkeitsrecht der Mutter betonen, und fordern, dass Frauen über ihren Körper und ihre Lebensplanung selbst entscheiden können, und denen, die sich für das uneingeschränkte Lebensrecht des Ungeborenen aussprechen.
Schutz des Ungeborenen versus Selbstbestimmung
Das erhöht den Druck auf die Politik: 1974 verabschiedet der Bundestag die Fristenregelung mit Straffreiheit bis zur zwölften Woche und vorheriger Beratung. Doch das Bundesverfassungsgericht erklärt diese Regel für verfassungswidrig, da laut Grundgesetz das „sich entwickelnde Leben“ „Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau“ habe. Also einigt sich der Bundestag im Februar 1976 auf eine Reform des Paragrafen 218, die erneut den Abbruch verbietet und eine Strafandrohung gegen die Mutter und die behandelnde Person enthält. Davon soll nur abgesehen werden, wenn die Frau in „besonderer Bedrängnis“ handelt, also aus medizinischen, kriminologischen Gründen oder aufgrund ihrer sozialen Situation.
Auch nach der Wiedervereinigung hält man im Jahr 1993 am Paragrafen 218 fest, statt die liberale Fristenlösung ohne Beratungspflicht der DDR für Gesamtdeutschland zu übernehmen. Mit einem Kompromiss: Seitdem ist der Abbruch „rechtswidrig“, aber bei Einhaltung der Pflichtberatung und der „Drei-Tage-Bedenk-Frist“, straffrei.
Wanda S. wünscht sich bis heute, dass der Paragraf 218 sie damals nicht zusätzlich psychisch unter Druck gesetzt hätte. „Und dass meine Lebensplanung Privatsache ist und nicht staatlich geregelt und beurteilt wird.“