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Natur in Köln entdeckenWarum Kinder so dringend in den Wald müssen – am besten allein

Lesezeit 11 Minuten
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Klettern nahe des Adenauer-Weihers auf einer Rotbuche herum: Karl und Hannah.

Köln – Der Trend ist eindeutig: Kindern und Jugendlichen aus Industrieländern mangelt es immer mehr an elementarem Naturwissen. Denn die junge Generation hat nur noch selten die Möglichkeit, die Natur alleine zu entdecken. Und das ist ein Problem. Denn Zeit im Wald entspannt Kinder nicht nur – es fördert und fordert sie auch in kreativer, motorischer und sogar sozialer Hinsicht. Höchste Zeit also, dass wir unsere Kinder wieder mehr vor die Haustür schicken. Denn selbst in einer Millionenstadt wie Köln können Kinder Natur entdecken. Wie das geht, haben zwei Kinder gemeinsam mit dem urbanen Naturpädagogen Peter Samonig von „Querwaldein“ ausprobiert.

Hase. Hannah Hase. Die Entscheidung ist schnell getroffen. Klar, das klingt schön, zwei Worte, die mit denselben Buchstaben beginnen, dazu noch ein gleicher Silbentakt. Geradezu lyrisch ist er, dieser Name. Und zusätzlich hat er eine Verbindung zur Natur – so wie das sein sollte bei einem Waldnamen. Karl hingegen, sechs Jahre alt und Hannahs jüngerer Bruder, tut sich noch etwas schwer mit der Entscheidung für einen Namen – und mit der Trennung von seinen Eltern. Denn das Waldabenteuer, bei dem wir die beiden Kinder aus Erftstadt heute begleiten, wollen sie alleine mit Peter Pusteblume unternehmen.

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Peter Samonig von „Querwaldein“

Peter Pusteblume heißt eigentlich Peter Samonig und arbeitet bei der Kölner Organisation „Querwaldein“, die Ausflüge in den Wald für Kinder und Jugendliche anbietet. „Wir wollen die Natur mit allen Sinnen erlebbar machen und so Momente erschaffen, in denen die Kinder sich darüber bewusst werden, dass wir alle Teil der Natur sind“, sagt der 42-Jährige. Ein hehres Anliegen, beklagen Forscherinnen und Forscher doch seit Jahren, dass die Distanz gegenüber der Natur immer weiter zunimmt. Doch was macht das mit den Kindern, wenn sie sich immer weiter entfremden? Und wie kann man dem entgegenwirken? Wie schafft man in einer Millionenstadt wie Köln Naturerlebnisse?

Die Sache mit dem Waldnamen ist ein Ritual von Querwaldein, wer sich einen eigenen Beinamen ausgedacht hat, löst sozusagen seine Eintrittskarte in die Natur – und hat sich gedanklich schon mal in die Welt der Tier- und Pflanzenarten hineinversetzt. Karl entscheidet sich im Laufe des Vormittags für den Beinamen Eichhörnchen. Seinen Namen hat Peter Pusteblume in großen Druckbuchstaben auf eine schmale Baumscheibe geschrieben, die Kette trägt er um den Hals. Die Kölner Organisation „Querwaldein“ hat in pandemiefreien Zeiten ein breites Portfolio an Natur-Aktivitäten: Vom halbtägigen Kindergeburtstagen über feste Kurse bis hin zu mehrtägigen Sommercamps, in der Stadt, im Umland, in der Wildnis, für Privatpersonen bis hin zu ganzen Schulklassen. Die Natur setzt keine Grenzen.

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Das Klettern auf den wippenden Ästen macht Hannah viel Spaß.

Heute jedoch sind wir Corona-bedingt nur wenige: Hannah Hase, acht Jahre alt, Karl Eichhörnchen, sechs Jahre alt, Peter Pusteblume, 42 Jahre alt, die Autorin und der Fotograf. Wir treffen Peter Pusteblume auf der Jahnwiese gegenüber des Rhein-Energie-Stadions und begeben uns von hier aus auf eine Entdeckertour rund um den Adenauer-Weiher. „Hier findet man natürlich kein ursprüngliches Waldstück mehr, da müssten wir schon aus der Stadt rausfahren, aber wir wollen aufzeigen, welche natürlichen Flecken man auch vor der Haustür entdecken kann.“ Urbane Naturpädagogik nennt „Querwaldein“ das.

Kinder haben sich von der Natur entfremdet

Und diese Niedrigschwelligkeit ist wohl wichtiger denn je. So dokumentieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in industrialisierten Ländern schon seit vielen Jahren eine Naturentfremdung der jungen Generation. Tendenz steigend, wie der ganz aktuelle „Jugendreport Natur 2021“ bestätigt. Seit 1997 untersuchen unabhängige Experten das Verhältnis zur Natur und haben dafür seitdem fast 15.000 Jugendliche zwischen zwölf und 15 Jahren mit wechselnden Fragebögen konfrontiert. Ein Ergebnis: Die Berührungsängste gegenüber der Natur nehmen zu. So stimmten im Jahr 2016 nur 29 Prozent der Jugendlichen der Aussage „Das mache ich gerne: Allein durch den Wald gehen“ zu, während es 1997 noch 53 Prozent waren.

Als besonders schockierend wurden die Ergebnisse der vergangenen Jahre zum Thema Sonne bewertet: 2021 konnten nur 33 Prozent der Jugendlichen, die Frage, in welcher Himmelsrichtung die Sonne aufgeht, richtig beantworten – und auch von diesen 33 Prozent dürften einige wohl nur richtig geraten haben. Elf Jahre vorher, im Jahr 2010, nannten hingegen noch 59 Prozent „Osten“ als Antwort.

26 Prozent der Befragten beantworteten im aktuellsten Report 2021 die Frage „In welchem Monat geht die Sonne am spätesten unter?“ mit Juli, nur 18 Prozent nannten den Juni, 12 Prozent tippten auf August, vier gar auf Dezember, 33 Prozent gaben gar keine Antwort. „Der Trend ist eindeutig“, schreiben die Studienleiter schon 2016, „da scheint ganz elementares Naturwissen nachhaltig verloren gegangen zu sein.“

Auf Bäume klettern

„Die Verbundenheit zur Natur ist viel besser spürbar, wenn man das selber vor Ort erfährt“, sagt Peter Pusteblume. Zwar erleben wir an diesem wolkenverhangenen Vormittag Mitte Mai nicht, wie die Sonne aufgeht, doch dafür entdecken wir am Rand des Weihers ganze Kolonien von schwarzen, zappeligen Kaulquappen. Und einige Meter weiter klettern Hannah und Karl auf eine Rotbuche, deren Äste bis fast auf den Boden hängen. Karl traut sich sogar, es Peter nachzutun und eines der jungen Buchenblätter zu essen. „Schmeckt gut“, befindet er. Nachdem Hannah noch einige Kunststücke auf dem wippenden Ast vollführt hat – schließlich macht sie Kunstturnen – streunen wir weiter.

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Giftiger Aronstab

Wir überqueren einen der ausgebauten Hauptwege und biegen dann auf einen kleinen Trampelpfad ab. Peter weist uns auf ein großes, grünes Blatt am Boden hin, den giftigen Aronstab. Die Pflanze erklärt er, locke mit ihrem Geruch Insekten in ihr Blattinneres hinein, schließe sich dann und entlasse diese am nächsten Morgen wieder. Lebendig, denn die Insekten sollen schließlich noch die Bestäubungsarbeit übernehmen. Probeweise steckt Hannah Hase ein kleines Stöckchen in das Blattinnere – doch die Pflanze lässt sich nicht auf den Trick ein. Ihre Blätter bleiben in Erwartung eines echten Insekts geöffnet.

Die Natur fördert Kreativität, soziale Fähigkeiten und Motorik

Der Wald, so haben es zahlreiche Studien in den vergangenen Jahren gezeigt, ist so eine Art Super-Ort für den Menschen. Aber nicht nur, was das Thema Entspannung angeht. Kinder, die häufig in der Natur unterwegs sind, könnten sich besser konzentrieren, die Natur fördere Kreativität, soziale Fähigkeiten und Motorik, so die Ergebnisse. In einem Interview mit der „Zeit“ im vergangenen Sommer erklärte die Umweltpsychologin Antje Flade, der Wald biete dem Menschen genau jenes Reizniveau, das unser Gehirn als angenehm empfinde. Denn er ist eben keine schnelllebige, laute, überfordernde Stadt, aber trotzdem ist hier immer was los. Vögel zwitschern, im Unterlaub rascheln Mäuse, Bäume wiegen sich im Wind. Der Mensch brauche diese sensorischen Anregungen, sagt sie.

Und auf die Frage, ob Menschen ohne die Natur krank würden, antwortet Flade: „Wir sind dann nicht so gut drauf. Es ist nicht so, dass wir in ein Krankenhaus müssten, aber das Wohlbefinden leidet auf jeden Fall. Wie sehr, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Kinder leiden aber besonders unter einem Naturmangel, auch wenn ihnen das nicht bewusst ist.“ Forscher aus den USA und Großbritannien analysieren, dass Kinder aggressiver seien, wenn sie keine Zeit in der Natur verbrächten. Der US-amerikanische Autor Richard Louv stellt in seinem Buch „Das letzte Kind im Wald“ sogar einen Zusammenhang mit der steigenden Anzahl an ADHS-Diagnosen, Depressionen und Essstörungen her und nennt das Ganze „Natur-Defizit-Syndrom“.

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Peter Samonig erklärt Hannah und Karl, wie der Aronstab funktioniert.

Doch was ist der Grund für diese Entfremdung? Einerseits, das liegt irgendwie auf der Hand, sind es all die bunten und schrillen und aufregenden Möglichkeiten, die Fernseher, Spielkonsole und Tablet bieten. 88 Prozent der Jugendlichen, die für den „Jugendreport Natur 2021“ befragt wurden, sind täglich online, 38 Prozent verbringen drei bis fünf Stunden pro Tag vor irgendwelchen Bildschirmen. Eine Zahl, die durch die Corona-Krise im vergangenen Jahr noch einmal gestiegen sein dürfte (die Befragung wurde im Jahr 2019 gemacht). Andererseits sind es aber auch die Eltern, die zu dieser Entfremdung beitragen. Gerade im städtischen Bereich muss die Mehrzahl der Kinder ein Handy, Freunde oder einen Erwachsenen dabei haben, um nach draußen zu dürfen. Die Kinder vom Land dürfen sich häufiger ohne Einschränkungen und unbeaufsichtigt in der Natur bewegen, so weitere Ergebnisse der Reporte aus den vergangenen Jahren.

Kinder müssen die Natur selbst erfahren

„Es ist wichtig, dass Kinder in ihrer Entwicklung an Grenzen stoßen und sich durchbeißen müssen – nur so können sie wachsen“, sagt Umweltpädagogin Maike Schlüter. „Die Kinder brauchen das Abenteuer, sie müssen selbst die Erfahrung machen, dreckig zu werden und im Winter am späten Nachmittag draußen zu sitzen, mit eiskalten Fingern. Das stärkt die Resilienz, die Widerstandsfähigkeit. Am Tablet kann man das nicht nachempfinden.“ Schlüter weiß, wovon sie spricht. Seit zwölf Jahren leitet sie gemeinsam mit einem Kollegen das internationale Programm „Junior-Ranger“, das es auch im Naturpark Eifel gibt. Ein Jahr lang bilden sie je 16 Kinder aus, die Gruppe trifft sich ein Mal pro Woche drei Stunden lang im Naturpark, am Ende absolvieren die Kinder sogar eine kleine Prüfung.

Etwa 250 Junior-Ranger hat Schlüter in dieser Zeit ausgebildet. Die Kinder erwerben Wissen über den Nationalpark und lernen verschiedene Tier- und Pflanzenarten kennen, sie unternehmen Streifzüge durch den Wald und bewegen Baumstämme hin und her. Mit der Zeit würden diese 50 Hektar Eifelwald, auf denen die Kinder sich frei bewegen können, zu „ihrem Wald“, sagt die Umweltpädagogin. Überhaupt komme es nicht so sehr darauf an, den Kindern spezifisches Fachwissen zu vermitteln, findet sie, das ergebe sich schon mit der Zeit. „Wichtig ist: Die Kinder lernen hier, dass die Natur etwas Großartiges ist, dass wir sie brauchen und sie schützen müssen.“

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Auch am Wiesenrand gibt es viel zu entdecken. Zum Beispiel die Pflanze Wegerich. Die hilft gegen Brennnesselstiche.

An diesem Punkt sind Hannah Hase, Karl Eichhörnchen und Peter Pusteblume gerade auch angelangt. Nachdem sie den Trampelpfad weiter entlang gegangen sind, entdecken sie am Wegesrand den Eingang zu einem Kaninchenbau. Hannah untersucht das tiefe Loch genauer und entdeckt weitere kleine Löcher rechts und links des Eingangs – hier scheinen Mäuse als Untermieter zu hausen. Karl Eichhörnchen hingegen interessiert sich mehr für das große Stück Totholz einige Meter weiter. Gemeinsam mit Peter Pusteblume überlegt er, wie es sein kann, dass das Holz so viel weicher ist als das der noch lebenden Bäume. „Was passiert denn irgendwann mal damit?“, fragt Peter ihn. Karl überlegt, dann hellt sich sein Gesicht auf, und er ruft stolz: „Daraus wird Erde!“

Der Wald kann ein Vorbild für uns Menschen sein

Später im Interview erklärt Peter Samonig, dass er die Kinder auf den Touren immer wieder auf Beispiele aufmerksam mache, die eine Vorbildfunktion für uns Menschen haben könnten. „Wenn wir den Recycling-Prozess im Wald verstehen und das dann mit unserem eigenen Verhalten abgleichen, wird klar, wie viele Abfallprodukte bei uns Menschen entstehen, die nicht mehr gut verwertbar sind. Im Wald gibt es so etwas nicht – da ist alles ein geschlossener Kreislauf.“ Und Maike Schlüter von den Eifel-Rangern ergänzt: „Im Wald lernen die Kinder, dass alles miteinander zusammenhängt.“ Mit der Methode des „Coyote Teachings“ wollen sie und ihr Kollege die Kinder dazu anregen, Fragen zu stellen, weiter zu forschen und schließlich selbst Lösungen zu finden. „Wir legen hier eine Basis. Viele Kinder gehen diesen Weg aber später weiter, so sind auch einige unserer ehemaligen Junior-Ranger heute bei Fridays for Future aktiv.“ Peter Samonig appelliert an die Eltern: „Geht raus und lasst eure Kinder die Natur selbst entdecken!“

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Die Umweltpsychologin Antje Flade formuliert im „Zeit“-Interview: „Ob wir als Kinder in grünen Umgebungen spielen und Naturerfahrungen machen können, bestimmt unser Verhältnis zur Natur im Erwachsenenalter. Wer als Kind nicht auf Bäume geklettert ist, wird als Erwachsener nicht merken, dass ihm Bäume fehlen.“ Übertragen bedeutet das auch: Wer als Kind selbst erfahren hat, wie aus einem Stück Holz irgendwann wieder Erde wird, wird mit einem ganz anderen Selbstverständnis durch den Wald gehen. Wird der Natur viel mehr Achtung und Respekt entgegenbringen. Wird nicht herumlärmen, keine Insekten zerquetschen, keinen Müll ins Gebüsch werfen. Und wird sich vielleicht auch dafür einsetzen, dass Gesellschaft und Politik mehr dafür tun, den Wald, die Umwelt, das Klima zu schützen und zu erhalten. Nichts ist wichtiger in Zeiten wie diesen, in denen die Wissenschaft immer wieder auf tiefgreifendende politische Veränderungen drängt, um unseren Planeten noch halbwegs vor der Klimakatastrophe zu schützen.

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Am Ende des Streifzugs gestalten Hannah und Karl noch ihre eigenen Namensketten.

Hannah Hase und Karl Eichhörnchen sind dafür noch zu jung. Sie kehren glücklich und ausgeglichen aus dem Stadtwald zu ihren Eltern zurück und berichten aufgeregt von kleinen Kaulquappen, schaukelnden Kletterästen und leckeren Buchenblättern. Die Holzketten mit ihren Waldnamen darauf, die sie in einer letzten Aktion angefertigt haben, tragen sie stolz um den Hals. Auch Tage später noch, als sie längst wieder zu Hause im heimischen Wohnzimmer sind. Und genau so sollte es ja auch sein, denn egal, ob wir durch Wiesen und Unterholz streifen oder zwischen asphaltierten Häuserschluchten entlanglaufen – das Waldkind ist immer ein Teil von uns.