Benedikt Geldmacher steht vor einem Ficus, als der Anruf kommt. Die Pflanze gehört zur Inneneinrichtung der Vertriebszentrale in Südhessen, in der der 30-Jährige, gerade frisch von der Uni, seit einigen Wochen arbeitet. Seit diesem Tag im Februar 2005 sind ihm die Zimmergewächse verhasst, sagt Geldmacher. „Ich bin dankbar, dass die Zentrale irgendwann umgezogen ist und den Ficus nicht mitgenommen hat. Ich sehe ihn immer noch vor mir und höre Tina sagen: Wir müssen morgen in die Onkologie.“
Tina Geldmacher sitzt an diesem Aschermittwoch mit dem gemeinsamen Sohn Tom im Behandlungszimmer einer Kinderärztin in Köln. Der Dreijährige fühlt sich schlapp, länger schon. Er hat eine Beule an der Schläfe, die nicht verschwinden will. Es sieht aus, als hätte er sich irgendwo gestoßen.
Kurz vor Karneval war die Kinderärztin unsicher geworden. Sie lässt ein Blutbild machen, die Werte sind in Ordnung. Wenn die Müdigkeit anhält, soll Tom wiederkommen, dann wird ein großes Blutbild gemacht. Doch schon am Karnevalsdienstag ruft die Ärztin wieder an. „Sie sagte: Das ist mir alles zu komisch. Kommen Sie bitte schon morgen vorbei“, erinnert sich Tina Geldmacher. Am Morgen des Aschermittwoch ist sie mit Tom nur kurz in der Praxis, dann schreibt ihnen die Ärztin eine Überweisung. Die Kinderklinik soll sich den Jungen anschauen. Dort hat man 2005 noch keinen Kernspintomografen. Deshalb verweist man Tom weiter an die Uniklinik.
Bis zu diesem Tag ist der Dreijährige ein normales Kind. Er teilt sich ein Doppelbettchen mit seiner Zwillingsschwester Lucie. Seine Lieblingsgerichte sind Nudeln mit Tomatensoße, Nutella-Toast, Mais mit Kartoffelbrei. Der Dreijährige ist ein Beobachter, der „sitzt und guckt“, aber sehr lustig sein kann, sagt seine Mutter. Er sieht Lucie ähnlich, wie das bei Geschwistern so ist. Aber am meisten ähnelt er seinem Vater.
In der Uniklinik wird Tom von einer Station zur nächsten geschickt. Zwischen den Untersuchungen sitzt er mit seiner Mutter im Flur. Plötzlich öffnet sich eine Tür und der behandelnde Arzt kommt mit einem älteren Kollegen mit Bart auf sie zu. Der Bärtige stellt sich als Professor Berthold vor. Er sagt: „Ach, du bist also der Tom!“ In diesem Moment sei sie unruhig geworden, sagt Tina Geldmacher. „Ich habe gedacht: Warum kennt der jetzt seinen Namen?“ Der Arzt bittet Mutter und Kind ins Büro. „Wenn unsere Vermutungen stimmen, ist Tom ein sehr krankes Kind“, sagt er noch auf dem Flur.
„Was für Vermutungen?“ platzt Tina Geldmacher im Sprechzimmer heraus. Heute kommt ihr die Frage fast lächerlich vor, sagt sie. „Ich hatte komplett ausgeblendet, dass wir auf der Station für Kinderonkologie waren. Man blendet in dieser Situation ja alles Mögliche aus.“ Wenig später klingelt im 200 Kilometer entfernten Hessen ein Handy: „Wir müssen morgen in die Onkologie.“
Und dann wird das Leben der Familie Geldmacher plötzlich sehr anders. Benedikt fährt sofort zurück nach Köln. Auch die Großeltern, die in Ostwestfalen leben, steigen noch am Abend ins Auto. In den folgenden Wochen sind es vor allem sie und Benedikts Bruder, die sich um Lucie kümmern. „Ich habe an Aschermittwoch im Bett gelegen und gedacht: Das stimmt alles gar nicht. Ich habe die Ärzte falsch verstanden. Ich habe Quatsch erzählt“, sagt Tina Geldmacher. Dass die Ärzte es ernst meinen, weiß sie am nächsten Morgen wieder. Die Uniklinik will Tom da behalten. Die Chemotherapie soll sofort beginnen.
Das Neuroblastom, ein Tumor aus der Nebenniere, ist eine sehr seltene Erkrankung. In Deutschland erkranken daran rund 200 Kinder pro Jahr. Rechnet man die Leukämie und andere Krebsarten hinzu, zählt man 1800 Kinderkrebserkrankungen jährlich. Allerdings ist das Neuroblastom darunter für etwa die Hälfte der Todesfälle verantwortlich. Der Krebs entwickelt sich meist im Bauchraum. Sind bereits Metastasen erkennbar, ist die Erkrankung weit fortgeschritten.
Die Mediziner taxieren die Chance, dass Tom den fortgeschrittenen Tumor überlebt, auf 50 Prozent. Eine Zahl, die den Geldmachers fast gleichgültig ist. „Bei 99 Prozent hätten wir uns vermutlich dieselben Sorgen gemacht“, sagt Benedikt Geldmacher, der jünger wirkt mit seinen 40 Jahren, der schwarzen Brille und den über den Scheitel fallenden, blonden Haaren. „Wenn ein Attentäter in eine Schule mit 100 Kindern kommt und nur ein Kind erschießt – ist man dann entspannt, wenn das eigene Kind auf dieser Schule ist?“ Das lasse niemanden kalt, egal wie die Prognose ist.
Direkt nach der Diagnose machen die Geldmachers etwas, das nicht alle in ihrer Situation tun würden: Sie schreiben eine Rundmail. Freunde, Verwandte und Kollegen sollen wissen, dass der kleine Tom schwer erkrankt ist. „Wir hatten keine Lust darauf, am Telefon immer dieselbe Frage »Wie geht’s?« zu beantworten und alles wieder erzählen zu müssen“, sagt Tina. Sie setzen alle Namen in den Verteiler, die ihnen wichtig erscheinen. „Die waren da drin, ob sie wollten oder nicht“, sagt Benedikt. „Die meisten fanden unsere Offenheit super. Es war klar, wir trauen uns darüber zu sprechen.“
Tom Geldmacher ist am 13. Juli 2005 gestorben. Neun Jahre später wollen die Geldmachers wieder reden. Es hat sich viel verändert seither, viel zu viel, als dass man es in einem Gespräch oder einigen Telefonaten schildern könnte. Deshalb haben wir Tina und Benedikt Geldmacher in diesem Sommer immer wieder getroffen. Wir haben in ihrem Garten gesessen und mit ihnen auf einem Kongress Krebsforschern zugehört. Wir sind im Regen über den Friedhof gelaufen und standen in der lärmenden Küche eines Hauses in Köln, in dem ein Dutzend Väter und Mütter krebskranker Kinder zusammen wohnen. Wir wollten wissen, wie Eltern – mit etwas Abstand – über den Tunnel berichten, in dem sie nach dem Tod eines Kindes verschwinden. Ob es diesen Abstand überhaupt gibt. Ob man den Tunnel je verlässt.
Geburtstag in der Klinik
Es ist Anfang Juli und heiß in Köln-Zollstock. Wir stehen im Esszimmer der Geldmachers vor einer Fotowand. Auf dem ersten Bild: ein blonder Junge mit strubbeligen Haaren in der Manege eines Zirkuszelts. Er lächelt ein stolzes Kleine-Jungen-Lächeln. Hinter ihm ein Elefant mit riesigen Stoßzähnen. Auf dem zweiten Foto derselbe Junge. Seine Haare sind kurz. Er sieht blass aus, ernster als neben dem Elefanten. Die dritte Aufnahme zeigt ein Flussbett mit Kieseln. In der Mitte ein sechseckiger, weißer Stein. Jemand hat den Namen „Tom“ darauf geschrieben.
Die ersten zwei Erinnerungsbilder stammen aus den Jahren 2004 und 2005. Sie stecken neben anderen Familienfotos in einem durchsichtigen Foto-Vorhang. Das dritte, eine Aufnahme aus einem Familienurlaub vor einigen Jahren, ist gerahmt. Wenn die Geldmachers morgens vom Frühstückstisch aufstehen und zur Haustür gehen, kommen sie an den Bildern vorbei. Sie haben sich an sie gewöhnt, so wie sie sich an das Fehlen des Jungen auf dem letzten Bild gewöhnen mussten. An das Leben ohne Tom.
Wir gehen in den Garten, eine langgestreckte Parzelle, an deren hinterstem Ende ein Holztisch steht. Es ist kurz nach zwei, keine Wolke fliegt über den Himmel. Die Sonne scheint so prall, als puste einem ein Heizstrahler seine Hitze direkt an den Kopf. Eine seltsam grelle Umgebung für ein Gespräch über das Dunkelste, was Eltern passieren kann.
Im Frühjahr 2005 bekommt Tom fünf Blöcke Chemotherapie. Nach Hause darf er nur, wenn seine Blutwerte okay sind. Zunächst sieht es so aus, als bilde sich der Krebs zurück. Die Familie fasst Mut. Die Medikamente, die oft tagelang über einen Tropf in Toms Körper laufen, schlagen an. Die Beule am Kopf ist eines Morgens verschwunden. Seinen vierten Geburtstag feiert Tom in der Klinik. Lucie und ein Kindergarten-Freund kommen zu Besuch.
Sobald es die Therapie erlaubt, erfüllen die Geldmachers ihrem Sohn seinen Wunsch: nach Hause zu fahren. Dann, im Juni, der Rückschlag. Kurz bevor eine Stammzelltransplantation stattfinden kann, bekommt Tom wieder Schmerzen. Der Tumor wächst.
Und dann kommt der 13. Juli 2005. Am Morgen bringt ein Bote aus der Apotheke ein Perfusionsgerät mit Ständer in die kleine Wohnung der Geldmachers am Rathenauplatz. Im Kühlschrank liegen Ampullen mit Schmerzmitteln. Am Nachmittag fahren Tom und Tina mit einem Krankenwagen vor. „Am Abend ist er bei uns ganz friedlich gestorben, alle waren wir da“, sagt Tina. „Tom wollte wohl nicht im Krankenhaus sterben. Er wollte nach Hause.“
Im Tunnel
Der Schock wandelt sich. „Er setzte sich in neuen Dimensionen fort“, sagt Benedikt. War der Schock in den Wochen nach der Diagnose grell und stechend, fällt an diesem Julitag alles Farbige von ihm ab. Er wird dumpf, schwarz wie ein Tunnel, in dem das Licht ausgefallen ist. Nicht-Wahrhaben-Wollen, Wut, Ruhelosigkeit, die Suche nach einem Schuldigen – solche widerstrebenden Gefühle suchen Trauernde kurz nach dem Tod eines geliebten Menschen heim. Aber jeder trauert anders.
„Du hast dich erst mal festgehalten an deiner Arbeit“, sagt Tina. „Ich habe ganz lange in dieser Käseglocke gesessen, in diesem Wattebausch.“ Die Freunde und Verwandten, die von den Geldmachers so früh über Toms Krankheit informiert wurden, fangen sie jetzt auf. Eine Freundin fliegt mit Tina in den Herbstferien nach Mallorca, eine andere kümmert sich um Lucie. Danach fährt Tina mit ihrer Tochter und einer Freundin noch einmal weg aus Köln. „Das war gut. Aber ich war wie paralysiert.“
Das unwirkliche Gefühl verschwindet auch 2007 nicht, als Michel geboren wird, das dritte Kind der Geldmachers. Bis 2009 habe sie „eigentlich nur funktioniert“, sagt Tina. In diesem Jahr sterben ihre Oma und ein Neffe. „Dann habe ich – endlich – einen Zusammenbruch gekriegt. Und konnte dann neu Anlauf nehmen. Man kann auch sagen: Dann habe ich erst richtig angefangen zu trauern.“ Im selben Jahr kündigt sie ihre Stelle als Lehrerin.
„Während Toms Therapie bin ich überhaupt nicht zum Nachdenken gekommen“, sagt Benedikt. „Dann stirbt dein Kind, nachdem du dich überhaupt nicht vorbereiten konntest. Danach wieder in den Alltag zu finden, dazustehen und irgendwas zu machen, ist sehr schwer.“ Man funktioniere eben. „Ich glaube, wir haben es immer noch gut hingekriegt, für Lucie da zu sein. Das hat uns von dem Schock vielleicht teilgeheilt. Lucie war ja plötzlich nur noch 50 Prozent eines Zwillingspaares, das nicht mehr wusste, wo die andere Hälfte geblieben ist.“
Lucie ist dabei, als ihr Bruder stirbt. Zusammen mit den Eltern bemalt sie später den Sarg. Im Bestattungsunternehmen schaut sich die Vierjährige die Leiche noch einmal an. „Wenn andere Kinder gefragt haben, haben wir es erklärt, soweit wir es konnten“, sagt Tina. „Da hat sie die Ohren gespitzt. Selbst gefragt hat Lucie nicht, und wir haben ihr auch nie Gespräche aufgezwungen. Sie weiß, dass sie immer fragen kann.“
Wir trinken Tee, in der Sonne im Garten des neuen Hauses, in dem die Geldmachers seit einigen Jahren wohnen, in einem anderen Stadtteil, einem anderen Leben, neun Jahre später, und Benedikt Geldmacher sucht in seinem Kopf nach den richtigen Worten. „Wenn dein Kind stirbt, ist das etwas, das man … wir waren Anfang 30, das ist definitiv zu früh.“ Und Tina, im Brustton der Überzeugung: „Das gehört sich nicht.“
Schon kurz nach Toms Tod haben die Geldmachers feste Termine. Die Beerdigung muss geplant, Fragen müssen beantwortet werden. Wie soll man Weihnachten feiern? Wie den ersten Todestag begehen? Rituale helfen, glaubt Tina. Vor allem, weil sie vom Erinnerungszwang entlasten. „Das sind feste Momente, an denen man sich erinnern kann, ohne dass man sich ständig erinnern muss.“ Kein Mensch halte es körperlich und seelisch aus, jahrelang in gleichem Maße zu trauern. Sie muss es wissen. Auch, weil sie seit kurzem als Trauerbegleiterin arbeitet.
Feiern im „Elternhaus“
Im August treffen wir uns am Rande der Kölner Uniklinik. Hier steht das „Elternhaus“, ein dreistöckiges Gebäude mit Runddach und schrägen Balkonen. In den Jahren seit Toms Tod ist es so etwas wie die zweite Heimat der Geldmachers geworden. Noch 2005 traten beide in den Förderverein für krebskranke Kinder ein, der das Haus 1998 gebaut hat. Tina sitzt inzwischen im Vorstand des Vereins, arbeitet ehrenamtlich im Büro. Benedikt kümmert sich als Vorstandsmitglied der Deutschen Kinderkrebsstiftung um die Forschungsförderung. Die Krankheit, an der ihr Sohn starb, lässt den beiden bis heute keine Ruhe.
„Eltern, deren Kinder in der Onkologie behandelt werden, können während der Therapie im Elternhaus wohnen, wenn sie zu weit weg leben“, erklärt Tina, als wir zusammen durchs Haus gehen. Es gibt 15 Apartments, ein Spielzimmer mit Kaufladen, Puppenstube und Kletterschiff, Büros und einen Gemeinschaftsraum mit chromblitzender Theke, in dem „viel gefeiert wird“. Im Esszimmer im Erdgeschoss dudelt ein Radio, an einem Tisch sitzt ein Elternpaar mit zwei Kindern, die an ihren Tablets spielen. Fröhlicher Lärm.
In der großen Küche stehen zwei Spülmaschinen neben gestapelten Kühlschrankfächern, die wie in einer WG mit Namen beschriftet sind. Dass die Türe zum Küchenhof geschlossen bleiben soll, kann man auf Deutsch, Englisch und Russisch lesen. Die Besetzung des „Elternhauses“ ist international.
Die Chancen, dass ein Kind ein Neuroblastom überlebt, sind zwar in den vergangenen Jahre gestiegen, bei manchen Krankheitsverläufen aber immer noch gering. Wenn noch Hoffnung auf Heilung besteht, gibt es immer Menschen, die Mut machen. Hat ein Kind aber den Kampf gegen den Krebs verloren, ziehen sich Bekannte oft zurück. „Die Beschäftigung mit dem Tod ist in unserer Gesellschaft ganz weit weg“, sagt Tina. Rituale wie das kirchliche Sechs-Wochen-Amt und die schwarze Trauerkleidung? Längst nicht mehr verbindlich. Aber wie sollen Eltern mit ihrem alles bestimmenden Thema umgehen? Wie darüber sprechen?
Der Gesprächsraum im „Elternhaus“ liegt direkt unter dem Dach. Hier, in ihrem Büro zu Hause, bei Klienten oder auch in Schulen bietet Tina inzwischen Seminare über das Trauern an. Hat der neue Beruf mit der eigenen Geschichte zu tun? „Bestimmt auch“, sagt sie. „Ich war auf der Suche nach einem neuen Weg.“ Aber dass es dann die Selbstständigkeit geworden sei, habe sich eben ergeben.
Der Stress, den der Umgang mit dem Tabu auslöst, macht sich für sie an einer Frage fest: „Und, wie viele Kinder habt ihr?“ So wenig Benedikt noch Ficus-Bäumchen sehen mag, so sehr ist Tina diese Frage verhasst. Einmal, vor sieben Jahren, sitzt sie mit Michel und anderen Müttern mit Baby in einer Krabbelgruppe. Erste Stunde, Vorstellungsrunde. Als Tina an die Reihe kommt, sagt sie: „Wir haben drei Kinder, aber eins ist leider gestorben.“ Das Schweigen in der Runde ist mit Händen zu greifen.
Es regnet, als wir uns im August auf Melaten treffen. „Es regnet immer, wenn wir hier sind“, scherzt Tina. Sie geht nicht gern auf Friedhöfe. Das Feld mit den Kindergräbern liegt etwas abseits der Haupttrasse des größten Kölner Friedhofs. Kleine Kreuze, die meisten aus weißem Holz, einige mit dem Geburtsjahr 2014. Viele Gräber sind mit Spielzeug geschmückt. Auf einem dreht sich ein regenbogenfarbenes Windrad, auf einem anderen reckt sich an einem Stab ein Clown in die Höhe.
Auf Toms Grab liegen die meisten Spielsachen. Immer noch. Hinter dem schlichten Holzkreuz rankt sich eine Azalee. Davor liegen: eine Playmobilfigur, eine Schildkröte, ein Frosch, ein Zwerg, eine Laterne, ein Flugzeug und ein ramponiertes Matchbox-Auto. „Die Spielzeuge stammen zum Teil noch von uns. Aber wenn wir kommen, finden wir auch immer wieder neue Sachen“, sagt Tina. Sie zeigt auf einen frischen Strauß Blumen, der sich im Regen verbiegt. „Es ist schön zu sehen, dass es offenbar viele Leute gibt, die immer noch an Tom denken.“ Menschen wie die Leiterin seines Kindergartens, die das Grab regelmäßig besucht.
Benedikt, der mit der einen Hand den Schirm hält, zeigt mit der anderen auf einen Schnuller: „Den hat Michel hier hin gelegt, als er ihn nicht mehr brauchte.“ Den Trecker daneben habe Lucie gebracht. „Wenn sie ein Spielzeug bekommen hat, haben wir Tom das gleiche gekauft und es aufs Grab gelegt.“ Auch Erinnerungen aus Urlauben wie Muscheln und Sand tragen die Geldmachers regelmäßig auf den Friedhof.
Kranke Kinder und Jugendliche brauchen ihre Eltern. Das gilt besonders, wenn sie Krebs haben und monatelang stationär behandelt werden müssen. Das Kölner „Elternhaus“ bietet Vätern und Müttern krebskranker Kinder seit 1998 ein Zuhause auf Zeit. Getragen wird es vom Förderverein für krebskranke Kinder e. V. Köln, der sich ausschließlich über Spenden finanziert. www.krebskrankekinder-koeln.de
Das Elternhaus wurde auch von der „Kölner Stadt-Anzeiger“-Aktion „wir helfen“ unterstützt, die jährlich zum Spenden für Kinder und Jugendliche in Not aufruft.02 21/224 28 40www.ksta.de/wirhelfen
Zwei Ballons
Eine Frage, die Tina und Benedikt direkt nach Toms Tod beantworten mussten: Soll der Vierjährige auf dem Kinderfeld beerdigt werden oder in einem Familiengrab? „Wir dachten: Tom wird natürlich in unserer Erinnerung mit der Zeit wachsen, wir sehen ja seine Zwillingsschwester“, sagt Benedikt. Trotzdem sei er ja ein Kind gewesen, als er gestorben ist. Daher das Kindergrab. Geht es nach der Friedhofsordnung, könnte das kleine Eckgrab mit den Spielzeugen und der Azalee schon im nächsten Sommer verschwinden. Auf Melaten darf man Gräber laut Satzung nur zweimal für je zehn Jahre pachten, 2015 ist der erste Zyklus vorüber. Die Geldmachers wollen die Pacht verlängern.
Lucie ist nicht mit auf dem Friedhof. Sie ist inzwischen 13, ihr kleiner Bruder Michel sieben. „Lucie ist sehr höflich, kann aber Friedhöfe überhaupt nicht leiden“, sagt ihr Vater, als wir die Allee auf Melaten zum Ausgang zurückschlendern. „Sie hat verstanden, dass Friedhof so etwas ist wie ein Museumsbesuch: Man kommt nicht drum herum, aber es ist nichts, wo sie sehr gern hingeht.“
Auch Tina und Benedikt gehen nicht jede Woche ans Grab. Es gibt andere Orte, an denen sie sich an Tom erinnern. Ein Datum aber ist fest geplant: An Toms und Lucies Geburtstag pilgert die ganze Familie auf Melaten. Früher, in jenem anderen Leben, haben die Zwillinge am Morgen einen mit Helium gefüllten Luftballon geschenkt bekommen. Seit Toms Tod tanzt beim Frühstück nur noch ein Ballon am Stuhl. Dafür sucht Lucie nach dem Tischabräumen im Laden einen zweiten aus. Dann fahren alle zum Grab. Und binden ihn am Kreuz fest.