Köln – Es ist ein Freitagabend, der letzte vor dem Start des neuen Lockdown light vor zwei Wochen, als wir Open Air an Heizpilzen gewärmt und in Decken gehüllt auf dem Achterdeck im Marienburger Bootshaus sitzen und uns die neuen Karnevalslieder der nun startenden Session zu Gemüte führen: Domstadtkind von Eldorado, Draumprinz von Lupo, Mer dänze jään von Kuhl un de Gäng. Unter dem Motto „Karnevalshits zum Tafelspitz“ lassen wir uns hier von DJ Matze unter unseren Masken, dem neuen Alltagskostüm, einführen in eine Welt, die so nicht stattfinden wird. Jedenfalls nicht wie gewohnt.
Es läuft Kirmes im Kopp von Miljö:
„Op einmol jeiht et Leech us un de janze Stadt es stillUn plötzlich häld de Welt dä Odem aanOp einmol kann ich föhle, wat ich em Lävve willUn dat ich alles, wat ich bruch, jetz nit mih han“
Ich reagiere sofort körperlich, mit Gänsehaut und Tränen in den Augen. Mein Herz geht auf, mein Herz zerbricht. Ich schaue meine Freundin Katja an… und sie versteht mich und meine Blicke. Mein Mann, ein Imi aus Westfalen meint, so könne er Karneval wohl aushalten. Im Sitzen und auf Abstand, ohne Schunkeln und mit Distanz. Und wir singen leise: Westfalenland, Westfalenland, ist wieder außer Rand und Band.
Es ist halt so: Wer Karneval nicht im Blut hat, hat Karneval nicht im Blut. Das ist für mich ein Jackpot, da die Kinderbetreuung an Karneval durch die westfälische Verwandtschaft immer gesichert war. Das darf aber natürlich nicht vererbt werden und darum habe ich dafür gesorgt, dass meine in Berlin geborenen halbwestfälischen Kinder von Geburt an jedes Jahr zu Karneval im Rheinland waren. Mit mir. Frühkindliche Prägungen sind ja so wichtig. Kamelle und Rumtata. Kappes un Salat.
Und nun steht also der 11.11. in den Startlöchern. Bestellt – und nicht abgeholt. Ach, einfach mal unbeschwert sein, wann hätten wir das mehr gebraucht als in diesem bekloppten Corona-Jahr? Endlich mal wieder Leichtigkeit und Freude statt Trübsal und Frust. Lächelnde Gesichter und Konfetti statt orangehaarige US-Clowns und Terrornews.
Karneval ist Urlaub fürs Gehirn
Die Welt ist komplex. Und an Karneval ist sie das kurzfristig mal nicht mehr. Karneval, das ist Urlaub fürs Gehirn. Wie ein Radiergummi, der all die Trübsal für ein paar Stunden aus den Gedanken löscht und den Spotlight auf das Positive richtet. Auf das, was wir haben. Auf die Liebe und das Leben.
Es ist dieses Abtauchen aus dem Alltag. Einfach mal nur Sein und Späßchen haben ohne Verpflichtungen. Raus aus dem Trott und rein ins Vergnügen. Die schwere, nasse Sorgen-Decke der Welt von unseren Schultern nehmen, den Stock aus dem Hinterteil und uns mal wieder leicht fühlen, ganz im Moment sein. Das dröge Erwachsensein mal ablegen und wieder Spökes machen.
Kein Karneval ist wie eine enttäuschte Liebe
Kein 11.11. dieses Jahr? Das ist wie eine enttäuschte Liebe, ein abgesagtes Date. Denn Karneval, das ist wie eine Fernbeziehung, die man im Sommer nicht sieht. Das Begehren ist da, aber im Alltag nicht so präsent. Wir denken ab und zu mal dran. Wir spüren ein Flimmern im Bauch, wenn uns ein Foto in die Hand fällt oder der DJ auf der Hochzeit zu späterer Stunde die Sessions-Hits spielt. Doch sobald der November näher rückt, steigt die Vorfreude.
Wie wird es sich diesmal anfühlen, sich wiederzusehen? Sich zu umarmen, sich komplett reinzuwerfen in diese Liebe? Werd ich enttäuscht, überrascht? Wird es meinen Liebesakku wieder eine Zeitlang füllen? Ach, was hab ich dich vermisst, geliebtes Karneval, komm her und lass dich bütze.
Kölle, do bes vill mieh als e Jeföhl
Der 11.11., das ist sonst mein Lieblingsdatum im Jahr, mein heiliger Tag. Der Startschuss in die neue Session, der Beginn von etwas Neuem, etwas Fröhlichem. Der graue, kalte Winter ist im Anmarsch, die Tage sind schon recht kurz und dunkel, der Sommer vorbei. Und dann ist da dieser eine Tag, der uns Lautes und Buntes in die Timeline unseres Lebens spült. Der uns glücklich macht schon bei der Kostümauswahl bei der leise die neuen Lieder laufen, der uns euphorisiert am Tag selbst und der uns nachträglich in Erinnerungen schwelgen lässt. Weißt du noch, gestern? Weißt du noch damals? Kölle, do bes vill mieh als e Jeföhl.
Karneval, das ist Heimat. Das ist Lokalpatriotismus und Freude am Leben. Wenn ich mit meiner Lieblingscousine im Arm Et jitt kei Wood höre und mir beim Refrain-Schmettern fast einen Leistenbruch zuziehe, weil wir uns an unsere Exil-Karnevalszeit in Berlin in der Ständigen Vertretung erinnern. Was haben wir unser Kölle vermisst! Wie schön, dass wir jetzt wieder hier und zusammen sind. Was haben wir nicht schon alles zusammen erlebt…
Karneval bringt Erinnerungen fürs Leben
Oder wenn meine beste Freundin plötzlich nicht dabei ist, wenn wir zu Superjeile Zick auf die Bänke der „Elsa“ in der Südstadt springen, unseren Abschiedssong, den wir extra für den Abiball am Humboldt-Gymnasium umgedichtet hatten. Dann sind sie alle wieder da, die Gefühle von damals. Diese Liebe. Dieser Zusammenhalt. Die Vergangenheit, das Jetzt, die Zukunft. Das klingt melodramatisch, aber datt is eben auch Karneval.
Diese Erinnerungen, die wir alle haben! Und die lebenslang bleiben! Wie ich damals beruflich für einige Monate in New York war und fern der Heimat die jecken Tage nahten und es plötzlich hieß, es gäbe da eine Party in China Town mit Freibier für Frauen. Und wie wir da mit dem Taxi hinfuhren, weil ich an diesen Heimweh-Tagen sonst eingegangen wäre wie eine nicht gegossene Basilikumstaude. Und wie es in dieser fremden Gegend mit lauter chinesischer Leuchtreklame plötzlich begann zu wummern. Ein bekannter Bass in der Luft.
Und dann das: Eine komplett beschlagene Schaufensterscheibe der wohl kölschesten Kneipe der USA, in der Man müsste nochmal 20 sein von Brings läuft. Und diese Menschen da drin, die mit dem Betreten des Ladens bereits keine Fremden mehr für mich sind. Im Herzen vereint, denn Wo mir sin es Kölle, egal wo mer sin. Verbunden im Heimweh wie eine große kölsche Familie im Exil. Mädche, nemm mich in d´r Ärm.
Karneval verbindet Menschen wie Pattex
Wenn wir am 11.11. also durch et Meier's Kättche an unseren ersten Schulranzen denken, mit dem wir auf dem Rädche durch Kölle fuhren, dann ist das alles so viel mehr als „nur“ ein Tag von vielen. Wenn ich bei Viva Colonia an unsere Hochzeit zurückdenke, bei der unsere Freunde zum Ausmarsch aus dem Altenberger Dom eine Orgel-Geigen-Version des Stücks gespielt hatten. Alle Erinnerungen sind wieder da. Karneval verbindet uns Menschen wie Pattex, macht uns zu einem glücklichen Ganzen. Es spült so viel Dankbarkeit ins Leben.
Für das beste Karnevalstrüppchen der Welt, mit dem wir immer losziehen, Jahr für Jahr. Für wahre Freundschaften und gemeinsame Zeit. Für unsere Weiberfastnachts-Countdown-WhatsApp-Gruppe, in der wir sonst immer auf die dollen Tage hinfiebern, die Tage runterzählen und jetzt zusammen trauern, weil wir uns in dieser Session keinen Tinnitus ins Ohr singen werden. Aber selbst in der Trauer sind wir ja zum Glück vereint, so sind wir hier im Rheinland eben.
Mer stonn zesomme in der Vernunft
In den Sozialen Medien färben jecke Menschen ihre Profilbilder in trauriges Schwarz-Weiß und schreiben auf den Rand: „Am 11.11. feiere ich nicht. Weil es dein Leben schützt. #diesmalnicht“. Man könnte das traurig finden. So traurig wie einen westfälischen Distanztanz. Oder rührend. So rührend wie Karneval, denn Karneval, das ist doch Gemeinschaft – dieses Mal eben nicht in live, dafür umso mehr in unseren Herzen!
Mer stonn zesomme in der Vernunft – und nicht in der Süd- oder Altstadt wie sonst. Wir sind nicht kurzfristig krank geworden, während da draußen et Trömmelche jeht. Wir verpassen den Spaß der anderen nicht, wie tröstlich! Wir sind einfach alle verbunden in unserer Sehnsucht und in der Hoffnung, bald wieder auf Theken tanzen zu können.
Wir werden die neuen Lieder der Session nicht mit eigenen Emotionen besetzen, werden uns nicht in den Armen liegen wie sonst. Wir werden verstreut über die Stadt und über die Welt ein Tränchen verdrücken, uns mit einer Ein-Mann-Polonaise zur Karnevalskiste begeben, an einem staubtrockenen Muutzemändelcher lutschen und leise Musik hören gegen die Kirmes im Kopp.
Und dann werden wir dankbar sein. Für dat wat is, für dat wat kütt und für dat wat wor. Zumindest mal kurz, um 11.11 Uhr. Weil Karneval eben auch Hoffnung ist – und Zuversicht. Darauf dreimol vun Hätze und von Zohuss: Kölle Alaaf!