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Essay zum MuttertagBaerbocks Kandidatur ist wie ein Raketenrucksack für alle Mütter

Lesezeit 6 Minuten
Annalena Baerbock dpa

Mit Annalena Baerbock, Spitzenkandidatin der Grünen, könnte erstmals eine Mutter ins Kanzleramt einziehen. 

Köln – Das ist – um es vorwegzunehmen – in gewisser Weise ein sexistischer Text. Es geht um eine Frau, die sich anschickt, Bundeskanzlerin zu werden. Und dennoch wird es in den folgenden Zeilen nicht darum gehen, wie sie das EU-Türkei-Abkommen sieht, welchen Mindestlohn sie für gerecht hält oder wie sie klimaneutrale Produkte fördern will. Sondern darum, dass Annalena Baerbock Mutter zweier schulpflichtiger Kinder ist.

Das ist natürlich grotesk. Haben Sie jemals einen Text gelesen, der thematisierte, wie Gerhard Schröder mit wehender Krawatte vom Bundeskanzleramt nach Hause spurtete, um seiner Stieftochter Klara Schinkennudeln zu braten? Hat irgendjemand in den Wochen des Buhlens um die Kandidatur gefragt, wie Markus Söder es hätte schaffen wollen, in Berlin Bundeskanzler zu sein und gleichzeitig seinen 14-jährigen Sohn um zehn Uhr abends vom Kino in Nürnberg abzuholen? Eben!

Baerbocks Kandidatur ist ein Raketenrucksack für alle Mütter

Und doch: Es ist leider ein Unterschied. Erstmals in der Geschichte Deutschlands will eine Mutter Bundeskanzlerin werden. Und das ist in gewisser Weise und ganz unabhängig von der eigenen politischen Ausrichtung eine Nachricht, die Mädchen in diesem Land zeigt, dass für Frauen exakt das gleiche möglich werden könnte wie für Männer. Wahnsinn. Ein Raketenrucksack für alle Mütter. Das Triebwerk ist gezündet. Es geht aufwärts. Steil. Egal, wie zäh die Rechtschreibübungen im Homeoffice mit dem Drittklässler auch sein mögen. Egal, wie oft Sie heute schon Kinderköpfe entlaust haben, während Sie den eigenen Chef wegen der Präsentation vertrösteten, recken Sie die verkackte Windel, die Sie gerade unter Ihrem Baby hervorgezogen haben, in die Luft und rufen: Wir könnten Bundeskanzlerin werden! Sie müssen sich nicht zum Es-ist-ja-praktischer-wenn-ich-jetzt-einen-Halbtagsbürojob-annehme-solange-die-Kinder-noch-klein-sind-Mantra zwingen. Sie können noch während Ihr Baby Ihren Busen leer saugt die Stimme erheben und jauchzen: Ich hab Bock auf ein Spitzenamt! Eine Frau aus Brandenburg, der auch zwei kleine Kinder am Bein hängen, ist vorangegangen. Jetzt kann auch Sie niemand mehr aufhalten.

Mit einer Mutter könnte ein Gedanke ins Kanzleramt einziehen, den Gerhard Schröder noch als „Gedöns“ abtat und der auch jetzt während der Pandemie von der Politik noch immer nicht beherzigt wird: Dass Familie und Kinder, ebenso wie Gesundheit und Pflege, eine starke Lobby brauchen. Dass sie wichtiger sind als Autos. Und zwar nicht deshalb, weil die dummen Muttis ihre Blagen betütteln wollen und nichts von Wirtschaft verstehen. Sondern weil sie kapiert haben, dass wir die Grundlagen unseres Wohlstands nur aufrechterhalten können, wenn wir unsere Kinder zu gesunden, gebildeten und glücklichen Menschen erziehen, die in der Lage sind unser aller Zukunft kreativ zu gestalten. Die wach und sozial genug sind, um den Klimawandel zu bewältigen, Frieden zu stiften, Gerechtigkeit zu schaffen.

Wer an Kindern spart, handelt unökonomisch

Andere Länder haben es übrigens schon vorgemacht: Allen voran Neuseeland. Die Ministerpräsidentin Jacinda Ardern, die während ihrer Amtszeit eine Tochter zur Welt brachte, hat 2019 für ihr Land neben dem Bruttoinlandsprodukt als Gradmesser für Wohlstand den Well-Being-Index eingeführt. Er wächst, wenn sich die gesundheitliche Versorgung und Bildung der Bevölkerung verbessert und das Klima geschützt wird. Ziel ist gesellschaftliches Wohlbefinden statt bloßen Zahlenwettstreits. Zugrunde liegt der Gedanke: Wer an Kindern, dem Planeten und der Gesundheit spart, handelt ebenso unökonomisch wie ein Autobesitzer, der zwar seinen Wagen dauernd poliert, aber nie das Öl nachfüllt. Irgendwann macht der Motor keinen Mucks mehr und dann stehen wir da vor einem glänzenden Haufen Blech. Und nichts rührt sich.

Natürlich wusste auch Angela Merkel, dass Schulkinder Stifte brauchen und deren Anschaffung im Hartz-IV-Satz für Familien berechnet sein muss. Aber eine – sagen wir mal amtierende – Mutter im Kanzleramt könnte bei diesem Thema auf ihre eigene Lebenserfahrung zurückgreifen: Baerbock sagte jüngst in einem Interview, einmal Buntstifte pro Jahr reichten im Normalfall nicht. „Bei uns sind die nach der Hälfte auch wieder weg.“ Vielleicht könnte jemand Kanzlerin sein, der auch weiß: Im Homeoffice komplexe Berechnungen für die Firma aufstellen und nebenher eine Zweijährige davon abhalten, mit dem Inhalt des Honigglases die Küche zu streichen, ist auf die Dauer nicht miteinander zu vereinbaren. Oder: Kinder von unverheirateten Menschen kosten genauso viel wie Kinder von verheirateten Menschen. Oder: Kitas, die um halb fünf schließen, stellen Menschen, die bis fünf arbeiten müssen, vor ein Problem. Täglich. Menschen, die Kinder haben und sich um sie kümmern, müssen über derlei Dinge nicht nachdenken. Die wissen das.

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Als Annalena Baerbock vor drei Jahren mit Robert Habeck an die Spitze der Grünen trat, sagte sie: „Ich habe zwei kleine Kinder und ich will nicht aufhören Mutter zu sein, bloß weil ich Spitzenpolitikerin bin. Es wird Momente geben, da bin ich nicht da, weil es da wichtiger ist, dass ich bei meinen Kindern bin.“ Nun ist zu erwarten, dass auch eine Annalena Baerbock, sollte sie Kanzlerin werden, den Krisengipfel mit anderen EU-Chefs nicht um 15.30 Uhr mit den Worten beendet, sie müsse jetzt ihre Tochter zum Fußballtraining bringen. Die Kanzlerschaft als Spitzenamt im Staat erfordert in der Tat eine gewisse Opferbereitschaft und Abstriche im Privatleben. Eltern in solchen Topjobs können das nur wuppen, wenn sie sich auf ein funktionierendes Netzwerk verlassen können. Auf einen Partner, der die Kinder auch als seine Aufgabe ansieht. Auf Großeltern, Kindergärten und Nannys. Und dennoch hat eine Frau, die gleichzeitig Kanzlerin und Mutter ist, die Chance, anderen Müttern durch ihr Vorbild zu zeigen, dass beruflicher Erfolg und privates Engagement sich nicht ausschließen. Im Gegenteil. Dass es auch für zähe Verhandlungen im Job die Nerven stärkt, wenn man schon mal ein paar Nächte beim zahnenden Baby verbracht hat und weiß: Ich überlebe das.

Überhaupt ist es Zeit für die Erkenntnis, dass Menschen ihren Beruf mit Leidenschaft ausfüllen können, auch wenn sie nicht mindestens 40 Stunden in der Woche in ihren Erwerbsjob investieren. Dass Sorgearbeit auch Arbeit ist. Dass sie ebenso wertvoll ist. Weil sie der Kitt ist, der die Gesellschaft zusammenhält. Dass auch die Wirtschaft von dieser Balance profitiert. Weil die besten Ideen meist nicht dann entstehen, wenn das Gehirn ununterbrochen auf ein Problem fokussiert ist, sondern nach Feierabend auf dem Fußballplatz, beim Laterne-Basteln, beim Krisengespräch mit dem liebeskummergeplagten Teenager. Dass Engagement neben dem Job nicht nur den Menschen, sondern auch die Arbeit, die er tut, immer besser macht. Und uns alle empathischer. Eine Fähigkeit, die auch einer höchsten Dienerin im Staat gut zu Gesicht steht.

Neue Arbeitswelt: Keine Konferenzen nach 16 Uhr

Topjobs mit Macht könnten in der Folge divers besetzt werden. Weil eben nicht nur diejenigen die gestaltende Kraft einer Führungsposition in Händen hielten, die dauerhaft bereit sind, alles dem Erwerbsjob unterzuordnen. Vielleicht würde das zu mehr Kreativität führen, zu einem breiteren Spektrum an Gehirnen, die an der Lösung unserer gesellschaftlichen Aufgaben tüfteln. Weil der Teil der Menschheit, der sich auch um Kinder kümmern will, um den dementen Vater, Integration von Geflüchteten oder die Artenvielfalt nicht von vorneherein ausgeschlossen wäre. Vielleicht führte all das sogar zu einem Umbau des Systems. Zu neuen Strukturen. Chefetagen mit Doppelspitzen, keine Konferenzen mehr nach 16 Uhr – für niemanden, Jobsharing, Staffelführung mit wöchentlicher Stabübergabe.

Das wären mal gute Nachrichten zum Muttertag.