Der Kölner HNO-Facharzt Jürgen Zastrow vermisst die Bereitschaft, andere vor Infektionen zu schützen.
Interview mit Kölner HNO-Arzt„Wir haben keine freien Termine bis Ende Januar“
Jürgen Zastrow ist HNO-Arzt mit Facharztpraxis im Kölner Norden und ehemaliger Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Köln.
Herr Zastrow, rund acht Millionen Menschen sind laut Robert-Koch-Institut von akuten Atemwegserkrankungen, Corona-Erkältungen und auch Grippe betroffen. Die Hausarztpraxen laufen auf dem Zahnfleisch, sagt der Verband der Hausärzte. Was erleben Sie in Ihrer Praxis?
Zastrow: Auch unsere Facharzt-Praxis läuft über, wir haben keine freien Termine mehr bis Ende Januar. Trotzdem schlagen dafür, dass gerade zehn Prozent der Bevölkerung krank sind, weniger Menschen in den Arztpraxen auf als man vermuten könnte. Das liegt daran, dass wir uns entschieden haben, die Corona-Vorsorge und Therapie in die Eigenverantwortung zu übergeben. Und das läuft unterschiedlich gut. Dinge, die selbstverständlich sein sollten, nämlich sich und andere zu schützen, wenn man Symptome hat, indem am besten für sich bleibt und ansonsten eine Maske trägt, scheinen nicht mehr en vogue zu sein. Ich bin FC-Fan: Wenn ich zum Spiel gehe, trage ich vor den Drängelgittern auch eine Maske und ernte weitgehendes Unverständnis.
Alles zum Thema Corona
- Kongress in Köln Weltweite Messe-Branche feiert Comeback
- Corona-Shitstorm RTL-Star nutzte Hasswelle, um Millionengeschäfte zu machen
- Billigflieger ab Düsseldorf Easyjet kehrt 2025 nach NRW zurück – Diese Ziele werden angeflogen
- „Niemandem zumuten“ Künstler sagt Ausstellung wegen Maskenpflicht in Seelscheider Altenheim ab
- Studie der Postbank Internetnutzung junger Menschen in Deutschland steigt wieder
- „Erfahrungen aus der Pandemie“ Krankenkassen sprechen sich für Erhalt von telefonischer Krankschreibung aus
- Es besteht „interner Klärungsbedarf“ Sondierungsgespräche zwischen CDU, BSW und SPD in Sachsen unterbrochen
Hören Sie hier das gesamte Gespräch mit Jürgen Zastrow im Podcast „Talk mit K“:
Im Abwasser der NRW-Klärwerke tummeln sich aktuell so viele Coronaviren wie noch nie seit Beginn der Messung. Hat Corona die klassische Erkältung abgelöst?
Das ist ganz klar eine Koexistenz. Ich habe gerade erst einen jungen Mann erlebt, der eine Grippe hatte und kurz nach seiner Genesung kam noch einmal Corona obendrauf. Nicht wenige erkranken in diesem Herbst und Winter also mehrmals hintereinander. Das belastet nicht nur die eigene Gesundheit, sondern natürlich auch die Leistungsfähigkeit der Firmen und Unternehmen. Die Belastung für die, die noch arbeitsfähig sind, wird enorm hoch.
Haben viele Menschen trotz Impfungen auch noch mittlere bis schwere Verläufe bei Corona-Infektionen?
Definitiv. Die Wahrscheinlichkeit an Corona zu sterben, ist zwar geringer als vor zwei Jahren, aber eben nicht weg. Und das Risiko für Folgeerkrankungen steht nach wie vor im Raum. Wer jemanden in seinem Bekanntenkreis mit Long-Covid kennt, weiß, was das für eine lebensverändernde Erkrankung ist. Viele Menschen können ihren Beruf gar nicht mehr ausüben, sind letztlich Invaliden. Dieses Risiko ist ein Unterschied zu einer normalen Grippe.
Menschen mit Long-Covid oder andere Risikogruppen trauen sich derzeit wieder kaum aus dem Haus, ist mein Eindruck.
Neue Studien aus den USA und England belegen, dass das Risiko für schwere Verläufe mit jeder weiteren Infektion ansteigt. Das ist eine Diskrepanz zu dem, was wir vorher immer gesagt und gedacht haben. Die aktuelle Corona-Variante ist sehr viel ansteckender als die alten Varianten. Die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufes ist zwar prozentual geringer, das wird aber durch die höhere Inzidenz mehr als aufgefressen.
Der Krankheitsstand in diesem Winter scheint im Vergleich zu den Vorjahren der Pandemie höher. Wird das auch so bleiben, weil Corona als weiterer Player dazu gekommen ist?
Diese Prognose ist höchst schwierig. Seitdem der Mensch lebt, ist er mit Viren befasst. Und die Landschaft der Viren ändert sich ständig, das sieht man an den vielen Corona-Varianten, die jetzt wieder unterwegs sind. Aber Tatsache ist: Wenn ein neuer Player dazukommt, also wenn mehr Autos auf der Fahrbahn sind, dann wird es enger. Denn wenn ein neues Virus dazukommt, ersetzt das ja nicht die anderen, sondern die Viruslast wird höher. Wie unser Immunsystem damit umgeht und wie wir uns als Gesamtheit immunologisch stärken, müssen wir sehen. Jeder durchgemachte Infekt hinterlässt eine Immunkompetenz. Das sind die beiden Wettbewerber: auf der einen Seite die Viruslast und auf der anderen Seite unsere Immunabwehr. Jetzt muss man schauen, wie sich das entwickelt.
Es heißt gerade warnend, dass die eigentliche Grippewelle ja noch kommt. Könnte der Krankheitsstand im Januar also noch höher sein?
Solche Prognosen sind schwierig. Das liegt an so vielen Faktoren – wie sich die Viren ausbreiten, auch was das Weihnachtsfest angeht. Ist es risikoreicher, mit der Familie zusammenzusitzen, oder ist es risikoreicher, U-Bahn zu fahren? Ich halte die U-Bahn für risikoreicher, weil da ganz viele Menschen sind, die man alle nicht kennt. Und wenn einer mal richtig hustet oder niest, dann gehen die Tröpfchen fünf Meter weit, da haben viele was davon. In der Familie gehe ich davon aus, dass derjenige, der krank ist, sich schützt und allen anderen auch Bescheid sagt, dass er krank ist.
Ausgerechnet in dieser Situation sind viele Medikamente schwer erhältlich.
Ich vergleiche die Situation im Gesundheitswesen mit dem Klimawandel. Wenn man sich über Jahrzehnte an einem System vergeht, fällt einem das irgendwann auf die Füße. Wenn man die Pharmaindustrie aus Deutschland vertreibt, ist die erstmal weg. Jetzt kriegen wir die Quittung. Genau die gleiche Diskussion haben wir in der Ärzteschaft. Seit Jahrzehnten wird das System unterfinanziert. 20 bis 30 Prozent der erbrachten Leistung wird nicht bezahlt durch die Budgets. Das geht eine bestimmte Zeit lang gut, aber dann auch nicht mehr. Viele junge Ärzte wollen deshalb nicht mehr in der Versorgung arbeiten. Sie stoßen auf ein überbürokratisiertes System. Wir müssen über jeden Driss Rechenschaft ablegen, die Arbeitsabläufe sind unglaublich kompliziert geworden. Man muss als Arzt heute eigentlich zunächst mal Jura studieren, um zu wissen, was man darf und was man alles falsch machen kann. Wir haben also einen Mangel an Medikamenten und wir haben einen zunehmenden Mangel an Ärzten: Das wird alles noch sehr spannend werden.
Vom 27. bis 29. Dezember werden viele Haus- und Facharztpraxen aus Protest geschlossen sein. Das verschärft die Situation für die Patientinnen und Patienten.
Natürlich verschärft es die Situation, aber was wir geben, ist eigentlich nur eine Vorschau auf das, was in wenigen Jahren sowieso kommt, weil die Teilnehmer, die die Leistung erbringen sollen, nicht mehr da sind. Immer weiterfahren ohne Benzin geht nicht, weil das Auto stehenbleibt.
Wogegen protestieren Sie konkret?
Zuerst natürlich gegen die mangelnde Finanzierung. Außerdem gegen die Gewohnheit, Regelungen zu erlassen, ohne diese Regelungen gegenzufinanzieren. Wir werden mit Regelungen geradezu überzogen. Wir würden auch unsere Mitarbeiter gerne besser bezahlen. Aber das Honorar gibt das nicht her. Nur mal ein Beispiel: Wir bekommen einen Höchstbetrag von 30 Euro im Quartal, egal, wie oft der Patient kommt. Wenn jemand einmal oder zweimal kommt, haut das wunderbar hin. Wenn einer öfter kommt, behandle ich ihn ab der dritten Behandlung ohne Vergütung. Genauso ist das bei den Medikamenten-Budgets. Stellen Sie sich vor, der Feuerwehrmann hätte zum Löschen eines Brandes nur 200 Liter Wasser. Mehr gibt es nicht, auch wenn der Brand noch nicht gelöscht ist. Da würde sich jeder an den Kopf fassen und sagen: Ey Leute, seid ihr bescheuert? Das ist im Gesundheitswesen Alltag. Ehrlich wäre: Der Patient bekommt eine Rechnung, klar definiert nach Gebührenordnung, und Politik und Krankenkassen müssen gemeinsam entscheiden, welche Behandlungswünsche sozialisiert, also bezahlt, werden und was welcher Patient selbst bezahlt!
Was kann man Menschen seriös raten, die Sorge haben, keine Medikamente mehr zu bekommen?
Seriös kann man raten, mal in die eigenen Schubladen zu gucken. Denn viele Dinge liegen noch in der Schublade, da haben wir schon ein großes Reservoir an Einsparmöglichkeiten. Auch bei der Verordnung müssen wir genau überlegen: Schreibe ich jetzt jemandem vorsichtshalber ein Schmerzmittel auf oder ein Antibiotikum oder priorisiere ich und gebe es den Fällen, wo klar ist: Der braucht das definitiv? Auch auf Patientenseite ist wichtig, dass man nicht Dinge einfordert, nur um sie zu haben, sondern guckt, was bei einer Virusinfektion mit den berühmten Hausmittelchen möglich ist.
Also Dampfbad und heiße Zitrone?
Ich bin großer Fan von Gesichtsdampfbädern, Tee mit Ingwer und Ascorbinsäure, das ist der Wirkstoff aus Vitamin C, und Honig. Das wirkt Wunder. Dazu Nasenduschen oder eine Nasenpflege mit einer Nasensalbe. Wer sich selbst gut pflegt, braucht viel weniger Medikamente.
Seit dem 7. Dezember kann man sich bei Husten, Schnupfen, Heiserkeit telefonisch krankschreiben lassen kann. Wie bewerten Sie das?
Epidemiologisch ist es sehr sinnvoll, in Erkältungszeiten volle Wartezimmer mit hustenden Virusbesitzern zu vermeiden. Auch uns Ärzten erleichtert es die Arbeit. Aus Arbeitgebersicht höre ich eher kritische Stimmen, weil es Sorgen gibt, dass die Reizschwelle zur Krankschreibung erniedrigt wird. Dahinter steht der unausgesprochene Verdacht, dass ein Arzt einen Patienten krankschreibt, obwohl er nicht krank ist. Und das setzt sowohl auf Patientenseite als auch auf Arztseite den Versuch eines Betrugs voraus. Klar passiert das im Alltag, man müsste weltfremd sein, anderes zu behaupten. Aber sicher nicht oft. Und manchmal schreibe ich jemanden auch zehn Tage krank, wenn ich sehe, dass er dreimal hintereinander immer wieder krank war, damit er zu Kräften kommt und sich erholt. Die Belastung im Arbeitsleben ist heute sehr viel konzentrierter geworden. Manchmal möchte ich meine Patienten einfach schützen.