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Ticks, Marotten und RitualeBin nur ich bescheuert oder ihr auch?

Lesezeit 10 Minuten
Die Fenster dreimal putzen, weil es sonst Pech bringt. Marotten, komische Angewohnheiten also, sind weit verbreitet.

Die Fenster dreimal putzen, weil es sonst Pech bringt. Marotten, komische Angewohnheiten also, sind weit verbreitet.

Die Quersumme aus Autokennzeichen bilden oder nur eine gerade Zahl von Toilettenpapier-Blättchen nutzen: Die meisten Spleens sind harmlos. Bedrohlich wird es, wenn die Angewohnheit zum Zwang wird.

Manchmal drücke ich mit dem Mittelfinger zweimal leicht in meine Handfläche, dann zweimal mit dem kleinen Finger. Anschließend kommt, etwas nach vorne versetzt, einmal der Zeigefinger.

Komischerweise passiert das alles in der rechten Hand. Die Bewegungen erinnern mich an die ersten Akkorde eines Liedes, das ich als Zehnjähriger auf der Gitarre gelernt habe. Und die Griffe am Hals des Instrumentes erledigt eigentlich doch die linke Hand, nicht die rechte. Ist das nicht merkwürdig?

Als Kind habe ich es gehasst, Gitarre spielen zu müssen. Das habe ich wohl deutlich gemacht, der Unterricht jedenfalls war nach ein paar Monaten wieder zu Ende. Ich glaube, bei dem einzigen Lied, an das meine Hände sich erinnern, könnte es sich um „Sur le pont d’Avignon“ handeln. Ich weiß es nicht mehr genau, was eigentlich aber auch egal ist. Denn dieser Text handelt gar nicht von Musik.

Einen Tusch im Kopf spielen, wenn die Quersumme 21 beträgt

Es geht um Ticks, Marotten, um komische Angewohnheiten. Manchmal, wenn mir langweilig ist zum Beispiel, ertappe ich mich dabei, wie ich das Lied in meiner Handfläche spiele. Um mich abzulenken vielleicht. Wenn ich aber Stress habe oder nervös bin, mache ich etwas ganz anderes: Ich zähle. Wie viele Menschen im Raum sind oder wie viele Stühle und Tische. Und dann überlege ich, wo die Mitte ist, wenn ich zwei gleich große Bereiche abtrennen würde.

„Bisschen Gaga ist es schon!“, sagt unser Autor Detlef Schmalenberg. Er zählt heimlich Stühle und Personen, um sie in zwei gleiche Teile aufzuteilen.

„Bisschen gaga ist es schon!“, sagt unser Autor Detlef Schmalenberg. Er zählt heimlich Stühle und Personen, um sie in zwei gleiche Teile aufzuteilen.

Ziemlich bescheuert, oder?! Na ja, sagt Kollege Tim. Er habe eine Zeitlang die Zahlen von Autokennzeichen zusammengerecht. Und wenn die Quersumme 21 betrug, habe er im Kopf einen Tusch „gespielt“. Ach, und seine Tochter und der Sohn, ergänzt Tim, die würden gelegentlich dreimal auf Holz klopfen. Und zwar immer dann, wenn sie sehen, dass die Digitaluhr am Küchenherd eine Zeit wie 11:11 Uhr, 13:13 oder 17:17 Uhr anzeigt.

Die Buchstaben von Wörtern zahlen

Dann bringe das Klopfen Glück, glaubten die Kinder. Das jedenfalls hätten sie in der Schule gehört. „Ich klopf‘ seit Neuestem einfach mit, kann ja nicht schaden“, sagt Tim.  „Schon klar“, kommentiert Kollege Peter. Er steige immer von rechts aufs Fahrrad, wenn der Ständer noch nicht nach oben geklappt sei. Das Hochklappen erledige er mit der rechten Hand, wofür er sich mit seinen zwei Metern Körpergröße endlos tief nach unten beugen müsse. „Meine Freundin regt sich immer darüber auf“, sagt Peter lachend.

Apropos Freundin, mischt Chefreporterin Claudia sich ein und setzt noch einen drauf: „Ich kenne da eine, die auf Rolltreppen immer das Bedürfnis hat, Männern mit Glatze von oben auf den Kopf zu patschen.“ Sie selber übrigens zähle auch. Nahezu alles. Also Knöpfe zum Beispiel, Steine, Fenster, Blumen auf Tapeten, Lampen, Autos. Am liebsten aber Buchstaben in Sätzen, die sie spricht. Sie mache dann Ketten aus Zahlen daraus: 3, 5, 4, 6, 3, 6, 6 für den vorherigen Satz beispielsweise. Noch im Gespräch versuche sie dann, Quersummen oder Muster daraus zu bilden. Anstrengend sei das, oft verzähle sie sich, aber wenn nicht, hätten die Zahlenkolonnen auch etwas Beruhigendes.

Mit den Augen rollen, Zwinkern oder sich Räuspern

Nahezu jeder Mensch hat solche Speens. Manchmal sogar, ohne es zu wissen, sagt der Psychiater Michael Bornheim. Sind sie gut, diese Eigenarten oder Angewohnheiten, die auf den ersten Blick meist so gar keinen realen Nutzen zu haben scheinen? „Ein weites Feld, in dem es sorgfältig zu unterscheiden gilt, in dem die Übergänge fließend sind“, ergänzt Bornheim, Chefarzt der Libermenta-Klinik Schloss Gracht in Liblar. Wichtig sei zunächst, die Begrifflichkeiten zu klären.

Zunächst einmal: Ticks im medizinischen Sinne seien etwas anderes als Marotten oder ein Spleen. „Denken Sie an das Tourettesyndrom“, erklärt Bornheim. „Motorische Entäußerungen“ wie mit den Augen rollen, Zwinkern, mit der Zunge schnalzen, sich Räuspern oder einfach eine Grimasse schneiden. Das trete meist im Kindesalter auf. Zwischen fünf und zehn Jahren seien bis zu 15 Prozent der Mädchen und Jungen betroffen, was später dann aber meist von selbst wieder verschwinde.

Ticks können wie ein Schluckauf nicht automatisch abgestellt werden

Die möglichen Auslöser seien vielfältig. „Innere Anspannung oder Ängste sind denkbar, die so abgebaut werden sollen“, sagt Bornheim: „Eventuell steht gerade ein wichtiger Entwicklungsschritt an oder eine Veränderung, die die Kinder noch nicht so recht einschätzen können - beispielsweise die Einschulung.“ Vielleicht aber sei dem Mädchen oder Jungen einfach nur langweilig.

Egal warum es die Ticks auch gebe, „auf Knopfdruck einfach abstellen" könne man das ungewöhnliche Verhalten ohnehin nicht. „Das lässt sich nur ganz schwer unterdrücken", weiß der Klinikchef: „Ein Tick ist wie ein Schluckauf, eine plötzliche Bewegung, die sich immer wiederholt und nicht willentlich steuerbar ist.“ Die genaue Ursache sei noch nicht bekannt, aber es gebe Hinweise, „dass die Kinder reizoffener sind“, so Bornheim: „Sie nehmen bestimmte Reize als unangenehm war und der Körper reagiert darauf."

Zwischen Weihnachten und Neujahr keine Wäsche waschen

„Rituale“ wie etwa dreimal auf Holz klopfen indes, seien eine „milde Form von Zwang“. Diese werde in der Wissenschaft auch als „Magisches Denken“ bezeichnet. Wozu beispielsweise „eine gute Portion Aberglauben“ gehören könne. „Ich habe eine Tante, die zwischen Weinachten und Neujahr keine Kleidung wäscht, weil sie überzeugt davon ist, dass das Pech bringt“, erzählt Bornheim. Oder um ein „positives Beispiel“ zu nennen: „Der Ablasshandel im Mittelalter, bei dem für ein paar Taler alle Sünden getilgt werden sollten: Sozusagen eine Vollkasko-Versicherung, um Hölle, Teufel und der ewigen Verdammnis zu entgehen.“

Der geheime Zettel im Schienbeinschoner von Lionel Messi

Derartige Rituale aber könnten auch hilfreich sein. Wenn vieles im Leben aus dem Ruder laufe, unkalkulierbar werde, könne es beispielsweise ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, Dinge in seiner Umgebung zu zählen. „Es schafft die Vorstellung, noch etwas im Griff zu haben“, so Bornheim: „Was die realen Probleme im Einzelfall aushaltbarer machen kann.“

Lionel Messi hat einen geheimen Zettel im Schienbeinschoner.

Lionel Messi hat einen geheimen Zettel im Schienbeinschoner.

Auch die ritualisierten Abläufe, auf die zahlreiche Spitzensportler in Wettkämpfen vertrauen, muten oft skurril an. Manuel Neuer beispielweise, der vor jedem Spiel den Schiri fragt, ob er den Ball kurz anfassen darf. Der immer erst den rechten und dann den linken Handschuh anzieht. Oder der Portugiese Christiano Ronaldo, der den Fußballrasen immer zuerst mit dem rechten Fuß betritt. Lionel Messi macht das mit dem linken. Der Argentinier trägt zudem ein kleines Stück Papier in seinen Schienbeinschonern. Das küsst er vor jedem Spiel.

Im Supermarkt am Dusch-Gel schnuppern

Was auf dem Zettel steht, ist nicht bekannt. Messi jedenfalls ist überzeugt davon, dass es ihm Glück bringt. „Derartige Gewohnheiten, die im Alltagsleben verankert sind“ seien meist „nicht problematisch,“ sagt Chefarzt Bornheim: „Im Gegenteil.“ Bei Sportlern etwa sei das „ein Mechanismus, eine Art Vertrautheit mit der Situation herzustellen.“ Um dem Körper zu signalisieren: „Ich bin in einer vertrauten Situation, ich kann das, selbst wenn ich ins Finale der Weltmeisterschaft gehe.“ Zudem: „Routinen bedeuten eine Pause für das Gehirn.“ Die Handlungen laufen fast wie automatisch ab, bis zu dem Moment, in dem es darauf ankomme, voll da zu sein.

„Bist nur Du bescheuert oder sind wir es alle zusammen?“, heißt es in einem Blog auf der sozialen Plattform Tumblr. Wer eine merkwürdige Angewohnheit hat, kann sie dort anonym eintragen. Die Mischung reicht von Eigenarten, die amüsant wirken, bis hin zu Verhaltensweisen, die bedenklich erscheinen. Eine schreibt, beim Duschgel-Kauf im Supermarkt frage sie sich immer, ob jemand anderes bereits an ihrer Flasche geschnuppert haben könnte. „Geriffelte Oberflächen ziehen mich an. Ich muss da immer drüber streichen“, heißt es an anderer Stelle.  „Ungerade Zahlen (1, 3, 5, 7 usw.) vermeide ich in allen Lebenslagen, wenn möglich: Beim Kauf von Produkten, Klopapier vor Verwendung (wird abgezählt), Klimaanlage im Auto am liebsten auf Stufe 2, ich wohne im 2. Stock usw.)“,  lässt die nächste wissen. „Bonbonpapier und Aludeckel von Joghurt falte ich immer zu schmalen Streifen – ich kann nicht anders“, schreibt ein anderer.

Wenn die Marotte zum Zwang wird

Schon deutlich komplizierter jedoch scheint es bei diesem Nutzer zuzugehen: „Wenn ich mich in eine Richtung umdrehe, muss ich mich in die andere zurückdrehen. Wenn ich eine Treppe mit links anfange, muss ich sie mit rechts beenden. Ist das nicht möglich, weil die Stufenanzahl ungerade ist, merke ich mir, welchen Fuß ich ‚überbelastet‘ habe und drehe das ganze bei der nächsten Treppe mit ungerader Stufenanzahl wieder um. Wenn ich irgendwohin linksrum oder rechtsrum gehen kann, gehe ich hin auf dem einen Weg und zurück auf dem andern. Kann ich jedoch gleich geradeaus, dann nehme ich diesen Weg hin und zurück. Alles muss immer schön ausgewogen sein."

Wann wird die Marotte zum bedenklichen Zwang? Die Grenze sei fließend, sagt Psychiater Bornheim. „Da gibt es keine handfeste Definition wie etwa dreimal Herd ausmachen ist noch Okay, aber ab zehnmal wird es schon krankhaft.“ Ein deutlicher Warnhinweis aber sei, „wenn ich die Gewohnheit nicht mehr lassen kann“. Dass sie so „mächtig“ werde, „dass sie sich immer mehr Raum schafft“, so Bornheim: „Ich habe Patienten gesehen, die wegen ihres Waschzwangs acht Stunden am Tag oder länger unter der Dusche standen.“

Vier Prozent der Deutschen leiden an Zwangsstörungen

Derartige Zwangsstörungen mit oft sehr „komplexen Ritualen“ seien eine der häufigsten psychischen Erkrankungen. „Knapp vier Prozent der Menschen in Deutschland versuchen so, aus dem Lot geratene Ängste abzuwehren“, weiß Bornheim. Bei einem „nicht unerheblicher Teil“ der Patienten nehme der Zwang derartig viel Raum ein, dass sie zu nichts anderes mehr in der Lage seien. Oft diene das Prozedere dazu, bedrohlich wirkende Gedanken abzuwehren.

Psychiatrische Libermenta-Klinik Schloss Gracht in Erftstadt-Liblar: Chefarzt Michael Bornheim

Psychiatrische Libermenta-Klinik Schloss Gracht in Erftstadt-Liblar: Chefarzt Michael Bornheim

„Ich kenne einen Patienten, der gewissen Wörter nicht mehr ausgesprochen hat, weil sonst einem Angehörigen etwas Schlimmes passieren würde“, erzählt Bornheim. Das habe sich immer weiter verselbständigt, bis der Mann dann irgendwann ganz aufgehört habe zu sprechen. Etwas anders gelagert seien die Fälle, in denen es um reine Zwangsgedanken gehe. Die Angst etwa, das eigene Kind verletzten zu können, oder der blasphemische Gedanke, in der Kirche die Zunge rauszustecken und Gott zu beschimpfen.

Im Durchschnitt erst nach sieben Jahren zum Arzt

„Die Betroffenen machen dies in der Regel zwar nicht, denken aber ständig daran“, so Bornheim. Es gebe gute Möglichkeiten, Zwänge oder Zwangsgedanken zu behandeln. Etwa in der Verhaltenstherapie, bei der gelernt werden soll, dem Bedürfnis etwa nach bestimmten Handlungen nicht mehr nachzukommen. „Es auszuhalten, das nicht mehr zu tun“, erklärt Bornheim. Hilfreich könnte dabei auch der Einsatz moderner Antidepressiva sein, die dafür jedoch oft „hoch dosiert“ werden müssten.

Eine Schwierigkeit sei zudem, dass die Betroffenen Studien zufolge durchschnittlich erst nach sieben Jahren Hilfe suchen, weil das eigene Handeln als „fremd und beschämend“ empfunden werde. „Dann ist die Erkrankung meist schon chronifiziert, was die Behandlung erschwert.“

Nachts die Aufstellungen der deutschen Mannschaft bei allen Weltmeisterschaften durchspielen

Auch was mein Kollege Axel macht, könnte man wohl als „chronifiziert“ einordnen. Aber definitiv nicht als Krankheit. Wenn er nachts aufwacht und nicht sofort wieder einschläft, geht er im Kopf die Aufstellungen und Ergebnisse der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei sämtlichen Europa- und Weltmeisterschaften durch. Von der Vorrunde bis zum Ausscheiden oder dem Finale. Wer stand denn bei der WM im Jahr 1954 bei der 8:3-Niederlage im Gruppenspiel gegen Ungarn im Tor? „Heinrich Kwiatkowski von Borussia Dortmund, weil der eigentlich als Ersatz für Toni Turek vorgesehene Heinz Kubsch vom FK Pirmasens sich im Training an der Schulter verletzt hat“, sagt Axel.

Und wer waren zu Beginn der Partie die Offensivspieler 1982 im Halbfinale gegen Frankreich? „Klaus Fischer, Pierre Littbarski, Felix Magath. Für Magath kam in der zweiten Halbzeit dann Horst Hrubesch und Kalle Rummenigge in der Verlängerung für Briegel vom 1. FC Kaiserslautern“, ergänzt der Kollege wie aus der Pistole geschossen. Und ich denke schon darüber nach, ihn demnächst heimlich als Kandidaten für die TV-Show „Wer weiß denn sowas?“ anzumelden.


Sind Sie auch bescheuert?

Nehmen Sie beim Einkaufen nie die erste Verpackung im Regal, sondern mindestens die zweite? Müssen die Griffe Ihrer Topfdeckel parallel und im 45 Grad Winkel zur Schrankseite ausgerichtet sein? Nachdem Sie den Wecker gestellt oder den Ofen abgeschaltet haben, checken Sie dann noch fünfmal, ob Sie es auch wirklich gemacht haben? Schauen Sie immer auch auf die Uhr, wenn im TV jemand nach der Zeit fragt? Willkommen im Club!

Schreiben Sie mir Ihre Alltagsmacken. Und seien Sie versichert: Sie sind nicht alleine. Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht etwas beisteuern könnte, zum Sammelsurium der „Merkwürdigkeiten“. Macken, Marotten oder Spleens, die auf den ersten Blick verrückt und peinlich wirken, lassen uns letztlich vielleicht etwas menschlicher und liebenswürdiger erscheinen.

Falls wir über Ihre merkwürdigen Angewohnheiten berichten, bleiben Sie selbstverständlich anonym, wenn Sie dies möchten. Ich freue mich schon, an Ihrem alltäglichen Irrsinn ein wenig teilhaben zu dürfen. -

Per Mail erreichen Sie mich unter detlef.schmalenberg@kstamedien.de, per Post geht es an: Kölner Stadt-Anzeiger, Redaktion, z.Hd. Detlef Schmalenberg, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln