Seitdem man sich beim Arzt telefonisch arbeitsunfähig melden kann, soll der Krankheitsstand in Deutschland angestiegen sein. Stimmt das?
Behauptung von LindnerKrankmeldung per Telefon – Bleiben die Deutschen deshalb zu Hause?
Lange Jahre führte der erste Weg nicht ins Schlafzimmer, sondern in die Arztpraxis - schließlich brauchte man noch die Krankschreibung für den Chef. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat damit Schluss gemacht, und die in der Corona-Pandemie erprobte Option der telefonischen Krankschreibung Ende vergangenen Jahres unbefristet eingeführt. Heute reicht ein Anruf für den Krankenschein - wenn der Arzt mitspielt.
Finanzminister Christian Lindner (FDP) ist diese Regel offenbar ein Dorn im Auge. Er plädiere dafür, die telefonische Krankschreibung wieder abzuschaffen, sagte der Liberale am Donnerstag bei einer Veranstaltung des Verbands der chemischen Industrie (VCI) in Berlin. Lindner begründet das mit einer „Korrelation zwischen dem jährlichen Krankenstand in Deutschland und der Einführung der Maßnahme“.Was ist dran an seiner Aussage?
Fakten zur telefonischen Krankschreibung
Die telefonische Krankschreibung wurde als Sonderregel während der Corona-Pandemie eingeführt, um Ansteckungen zu vermeiden. Der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Krankenkassen und Kliniken beschloss am 7. Dezember 2023, dass die Regelung dauerhaft bestehen bleibt, um Praxen zu entlasten und Bürokratie abzubauen. Seither können sich Menschen mit leichten Symptomen für maximal fünf Tage per Telefonat mit der Arztpraxis krankmelden. Bedingung ist, dass sie in der Praxis bereits bekannt sind. Ob eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt wird, liegt im Ermessen von Ärztin oder Arzt.
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Wie hat sich der Krankenstand in Deutschland seit der telefonischen Krankmeldung entwickelt?
In den Jahren 2016 bis 2019 waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland im Schnitt knapp elf Tage im Jahr krank. Das ergibt sich aus der Arbeitszeitrechnung des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB). Mit Beginn der Corona-Pandemie und der Einführung der telefonischen Krankschreibung im März 2020 stieg die Zahl leicht auf 11,2 Tage in den Jahren 2020 und 2021. Erst danach gab es einen deutlichen Sprung: Im Jahr 2022 melden sich die Menschen für 14,8 Tage arbeitsunfähig.
Die Sonderregelung zur telefonischen Krankmeldung endete im März 2023 und wurde erst im Dezember desselben Jahres als dauerhafte Regelung eingeführt. Trotzdem stieg die Zahl der Krankheitstage noch einmal leicht an auf 15,1. Im ersten Halbjahr 2024 waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Schnitt 7,5 Tage arbeitsunfähig. Die Zahl lässt eine ähnliche Entwicklung wie im Vorjahr erwarten.
Welche Daten liegen Lindners Aussage zugrunde?
Die Sprecherin des Bundesfinanzministeriums nennt auf Anfrage des RND eine Umfrage der Krankenkasse Pronova BKK aus Dezember 2023. Von insgesamt 1204 befragten Arbeitnehmern haben dabei 59 Prozent zugegeben, dass sie sich selten (26 Prozent), manchmal (23 Prozent) oder häufig (10 Prozent) krankmelden würden, obwohl sie arbeitsfähig wären. Die von Lindner behauptete Korrelation zwischen telefonischer Krankschreibung und Fehlzeiten belegt das allerdings nicht.
In einer Auswertung des staatlichen IAB zu tatsächlichen Fehlzeiten lassen sich ebenfalls keine Hinweise auf eine direkte Korrelation zwischen Krankheitstagen und der Einführung der telefonischen Krankmeldung erkennen. Auch die Barmer und die Techniker Krankenkasse (TK) haben dafür keine Datengrundlage. Diese bekommen die AU-Bescheide von der Arztpraxen elektronisch übermittelt. Ob die Anamnese auf persönlichen Besuch, per Videochat oder per Telefonat stattgefunden hat, sei darauf nicht vermerkt, so die Sprecher der Krankenkassen.
Welche Gründe gibt es für den erhöhten Krankenstand ab 2022?
Neben der Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung können weitere Faktoren für das erhöhte Krankenstandniveau ab 2022 verantwortlich sein. Das IAB nennt unter anderem Nachwirkungen der Corona-Pandemie und Änderungen in Arbeitsbedingungen oder bei der Altersstruktur der Erwerbstätigen.
Ein großer Effekt wird der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) zugeschrieben. Früher mussten Patienten ihre Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst an die Krankenkasse schicken, seit Januar 2022 läuft das automatisiert. „Diese Verfahrensumstellung zeigt, dass die Übermittlung der Papier-AU an die Krankenkassen bei kurzen Erkrankungen zuvor häufig unterblieben sein dürfte“, heißt es vom IAB. Im Klartext: Früher haben die Kassen viele Krankmeldungen gar nicht mitbekommen, heute erfahren sie jede einzelne automatisiert.
Da sich diese vielen Faktoren überlagern, ist der Einfluss eines einzelnen Effektes, wie der telefonischen Krankschreibung, laut IAB schwer einzuschätzen.
Wie reagieren Verbände auf Lindners Forderung?
Der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) Steffen Kampeter sieht den Vorstoß des FDP-Chefs dennoch als richtig an. „Die telefonische Krankschreibung als Dauerlösung war ein Fehler.“ Im Jahr 2023 hätten die Arbeitgeber gut 76,6 Milliarden Euro für die Entgeltfortzahlung ihrer erkrankten Beschäftigten aufbringen müssen, sagt Kampeter. Die Bescheinigung eines Arztes in der Praxis sei der wichtigste Nachweis für das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit, auf den sich der Arbeitgeber verlassen können müsse.
Die Techniker Krankenkasse dagegen sieht die telefonische Krankschreibung als klaren Vorteil. „Bei der persönlichen Arztpraxis anzurufen, anstatt sich krank ins Wartezimmer zu schleppen, entlastet die Praxis und reduziert die Ansteckungsgefahr für das Personal sowie die anderen Patientinnen und Patienten vor Ort“, sagt Sprecherin Gabriele Baron.