Köln – Ist die AfD eine Gefahr für die Demokratie? Mit dieser Frage beschäftigt sich seit Dienstag das Verwaltungsgericht Köln. In mündlicher Verhandlung setzt sich das Gericht mit mehreren Klagen der AfD gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz auseinander, das in Köln seinen Sitz hat. Der wohl wichtigste Streitpunkt ist, ob der Geheimdienst die gesamte Partei als Verdachtsfall einstufen und entsprechend beobachten darf.
Optisch hat es etwas von einer Theater-Vorstellung, als die Vertreter des Verwaltungsgerichts den Saal betreten. Die Juristen nehmen Platz auf einer Art Bühne, hinter ihnen ist ein schwerer Vorhang. Der Raum ist mit feinem rotem Teppichboden ausgelegt, an der Decke hängen mächtige Lampen, die an Kronleuchter erinnern. Dass es an diesem Dienstagmorgen aber nicht um eine Inszenierung geht, wird schnell klar. „Die Klägerin ist eine im Deutschen Bundestag, in allen 16 deutschen Landesparlamenten und im Europäischen Parlament vertretene politische Partei”, beginnt der erste Vortrag. Maximale juristische Nüchternheit - angesichts eines brisanten Verfahrens.
Darin werden vier Klagen verhandelt, die die AfD eingereicht hat. Um trotz Corona eine angemessene Öffentlichkeit zu ermöglichen, ist die Verhandlung in einen großen Saal der Kölner Messe verlegt worden. AfD-Chef Tino Chrupalla sitzt in der ersten Reihe. Das Wort führt jedoch meist der AfD-Anwalt Christian Conrad.
Zunächst geht es um den sogenannten Flügel der AfD. Seit März 2020 wird das inzwischen formal aufgelöste Netzwerk um den Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke vom Verfassungsschutz als rechtsextremistische Bestrebung beobachtet. Die AfD klagt gegen die Einordnung als Verdachtsfall.
Ursprünglich bezieht sich eine Klage auch auf eine Hochstufung der gesamten AfD zur „gesichert rechtsextremistische Bestrebung”. Diese sei aber nach derzeitigem Stand nicht geplant, stellt der Verfassungsschutz in der Verhandlung klar. Daraufhin wird dieser Punkt abgehakt - es geht aber weiter um die Frage, ob der Verfassungsschutz die AfD als Verdachtsfall führen und beobachten darf.
Der Verfassungsschutz argumentiert auch mit Äußerungen des früheren AfD-Parteichefs Jörg Meuthen. Meuthens Parteiaustritt zeige, dass sich der sogenannte Flügel innerhalb der Partei mehr und mehr durchsetze. Der Anwalt des Verfassungsschutzes, Wolfgang Roth, beschreibt ausführlich den großen Einfluss, den der Flügel - obschon offiziell aufgelöst - weiter ausübe. Mehrere Landesverbände in Ostdeutschland seien ganz klar flügelorientiert. Man könne die Strömung rund um den Flügel auch nicht auf den Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke und dessen unmittelbaren Anhang reduzieren.
„Die Flügel-Anhänger waren ja allesamt AfD-Mitglieder”, sagt Roth. Und sie befänden sich ganz überwiegend weiterhin in der Partei. Mit der Auflösung des Flügels seien diese Personen nicht aus der Partei ausgeschlossen. Sie seien vielmehr in herausgehobenen Funktionen zu finden.
Ob der Flügel als Organisation weiterexistiert - darauf will sich allerdings auch der Verfassungsschutz nicht festlegen. Das werde noch geprüft, heißt es. Und das ist der Ansatzpunkt für die Argumentation von AfD-Anwalt Conrad: Wenn selbst der Verfassungsschutz nicht mit Sicherheit sagen kann, dass es den Flügel noch gibt - wie soll er dann überragenden Einfluss ausüben? Conrad betont: „Der Flügel spielt heute überhaupt keine Rolle in der AfD.” Dementsprechend lasse sich damit kaum eine Einstufung der Gesamtpartei als Verdachtsfall begründen.
Der thüringische AfD-Chef und Flügel-Begründer Björn Höcke bekomme zwar jede Menge mediale Aufmerksamkeit, er führe aber nur einen einzigen Landesverband, ergänzt AfD-Chef Chrupalla. Die Führung der Gesamtpartei habe Höcke nie angestrebt - er wisse auch, dass er dafür keine Mehrheit hinter sich hätte. In demonstrativ aufgeräumter Stimmung lädt Chrupalla den Verfassungsschutz gar ausdrücklich ein, an Veranstaltungen und Parteitreffen teilzunehmen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass die AfD nicht extremistisch sei.
Der Verfassungsschutz sieht aber auch unabhängig vom Flügel in der Gesamtpartei verfassungsfeindliche Bestrebungen. So werde im AfD-Programm kritisch angemerkt, dass Migranten in Deutschland eine höhere Geburtenrate hätten. Immer wieder zeige sich, dass die AfD ein Volksverständnis habe, das mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren sei.
Richter Michael Huschens macht deutlich, dass der Verfassungsschutz ein „Frühwarnsystem” sei. „Wenn man ein Erdreich hat, das nach Öl riecht, kann man Probebohrungen vornehmen”, sagt er. Eine wehrhafte Demokratie dürfe nicht warten, bis „das Kind in den Brunnen” gefallen sei. Gleichwohl scheint sich auch das Gericht nicht sicher, inwieweit der Flügel heute noch als Zusammenschluss angesehen werden kann. „Diese Gewissheit haben wir Ihren Schriftsätzen nicht so entnehmen können”, sagt er in Richtung des Verfassungsschutzes.
Die entscheidende Frage ist für das Gericht offenbar: Sind die vom Verfassungsschutz angeführten Äußerungen und Textstellen als „Entgleisungen und Geschmacklosigkeiten” zu bewerten oder sind sie Ausdruck verfassungsfeindlicher Bestrebungen?
Eine Entscheidung in dem brisanten Verfahren war noch am Dienstagabend möglich.
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