Im Januar wird Lützerath als letztes Dorf im Rheinischen Revier geräumt, im Dezember Morschenich als erster Ort vom Energiekonzern RWE an die Gemeinde Merzenich rückübertragen.
Ein bewegtes Jahr im Rheinischen BraunkohlerevierDie letzten Tage von Lützerath
Lützerath, das ist im Januar 2023 nach den harten und letztlich erfolgreichen Kämpfen von Klimaaktivisten um den Erhalt des Hambacher Forstes der zweite symbolische Ort im Braunkohletagebau Garzweiler II im Rheinischen Revier.
Ein Dorf, dessen Bewohner längst umgesiedelt sind und das die Kohlebagger schon weggefressen hätten, wäre der Landwirt Eckhardt Heukamp nicht standhaft geblieben. Doch nach dem letzten verlorenen Prozess hat auch er aufgegeben und seinen Hof an den Energiekonzern RWE verkauft. Die Kohlegegner, die seit zweieinhalb Jahren um den Erhalt eines Ortes kämpfen, der im Grunde gar nicht existiert, sind geblieben. Sie wollen verhindern, dass Lützerath das letzte Opfer des fossilen Brennstoffalters wird.
Das ist die Ausgangslage, vor der Aachens damaliger Polizeipräsident Dirk Weinspach bei der Räumung des Dorfes im Januar 2023 steht. Als „schwierig, herausfordernd und mit erheblichen Risiken behaftet“ hat er den Einsatz im Vorfeld bezeichnet, zu dem 3700 Polizisten aus ganz Deutschland zusammengezogen werden. Der Druck der Politik ist groß. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) will ein zweites Desaster wie im September 2018 im Hambacher Forst unter allen Umständen verhindern, als sich die Räumung sich über einen Monat hinzog.
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3700 Polizisten bei der Räumung des letzten Braunkohledorfs im Einsatz
Der den Grünen nahestehende Polizeipräsident meistert den Einsatz, der am Mittwoch, 11. Januar, beginnt, mit einem defensiven und deeskalierenden Vorgehen, das er weit vorher ankündigt und durch den Einsatz von Kommunikationsbeamten vor Ort umsetzen lässt. Man werde Zurückhaltung bis zum äußerst Machbaren üben, selbst auf Schmähungen und Beleidigungen mit Besonnenheit reagieren.
Bei einer Bürgerversammlung in Erkelenz am Abend zuvor lässt der „Privatmann“ Weinspach sogar durchblicken, dass sich seine Einschätzung zur Klimapolitik und den benötigten Kohlemengen, von dem, was er im Staatsauftrag in Lützerath durchsetzen müsse, in einigen Punkten unterscheiden könnte. Das ist durchaus ungewöhnlich für einen Polizeipräsidenten.
Die Taktik geht auf, auch weil die Polizei ihre Zusagen einhält. Der Einsatz, von dem Experten befürchtet hatten, er könne sich über Wochen hinziehen, ist nach drei Tagen beendet. Auch eine Großdemonstration mit rund 15.000 Teilnehmern am darauffolgenden Samstag verläuft zunächst friedlich. Dass rund 1000 Demonstranten sich nicht an die vereinbarte Marschroute halten und zur Abbruchkante des Tagebaus und das geräumte Braunkohledorf vordringen, die Einsatzkräfte mit Steinen und Pyrotechnik attackieren, ist nach Auffassung von Innenminister Reul von der linksextremistischen Szene mit langer Hand vorbereitet worden.
Lützerath existiert nicht mehr. Damit ist aus Sicht des Energiekonzerns RWE Power Anfang 2023 eine wesentliche Bedingung der Vereinbarung zum vorzeitigen Kohleausstieg 2030 statt 2038 erfüllt, die mit der Bundesregierung und der NRW-Landesregierung im Oktober 2022 abgeschlossen worden war. Dem geplanten Abbau von 110 Millionen Tonnen Braunkohle, die unter dem Dorf liegen, steht nichts mehr im Weg.
Die Zweifel am vorgezogenen Kohleausstieg 2030 mehren sich
Doch die Zweifel, ob der vorgezogene Ausstieg tatsächlich gelingen kann, mehren sich im Laufe des Jahres. Bereits Ende Mai, als die NRW-Landesregierung, die vom Strukturwandel betroffenen Kommunen und Landkreise, die Zukunftsagentur Rheinisches Revier (ZRR) und weitere Vertreter der Region bei der Unterzeichnung des Reviervertrags 2.0 bei einem Festakt auf dem Flughafen von Mönchengladbach bekräftigen, an den um acht Jahre vorgezogenen Abschied von der Kohleverstromung festzuhalten, mahnt ein aus Berlin zugeschalteter Bundeswirtschaftsminister, bis 2030 müsse ein Wasserstoff-Kernnetz zur Verbindung der großen Verbrauchs- und Produktionszentren einschließlich wasserstofffähiger Gaskraftwerke als Sicherheitsreserve stehen.
Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien werde Deutschland die Lücken, „die es ohne Frage bis 2045 noch geben wird, mit Wasserstoff schließen müssen“, sagt Robert Habeck. Sollte es nicht gelingen, „diese Kapazitäten rechtzeitig fertig zu haben“, müssten die Braunkohlekraftwerke länger in Betrieb bleiben. „Die Versorgungssicherheit steht über allem.“
Einzig die IHK Köln ist skeptisch und verweigert die Unterschrift unter den Reviervertrag. Bisher habe uns „niemand plausibel erklären können, wie der Strukturwandel inklusive der Schaffung von den für die Region relevanten Arbeitsplätzen und die Energiesicherheit durch den Zubau von genug Erneuerbaren innerhalb von nur sechseinhalb Jahren gelingen kann“, schreibt IHK-Präsidentin Nicole Grünewald an NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU).
Ein halbes Jahr später steht fest: Die Bundesregierung hat den selbstgesteckten Zeitplan nicht eingehalten. Allein in NRW müssten sechs Gaskraftwerke gebaut werden, sagt Hendrik Wüst (CDU) und kritisiert die Ampelkoalition in Berlin für das seiner Auffassung nach zögerliche Vorgehen, das den Industriestandort NRW gefährde. Von der Genehmigung bis zur Fertigstellung brauche man fünf bis sechs Jahre. „Für die Energieversorgung der Zukunft brauchen wir jetzt sehr schnell die vom Bund angekündigte Kraftwerksstrategie.“
Auch beim Entwicklungsplan für das Wasserstoffnetz müsse sich die Ampel „endlich bewegen“. NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) erhöht den Druck auf ihren Parteifreund Habeck. Das Wirtschaftsministerium müsse „die finalen Rahmenbedingungen“ schnell schaffen.
Morschenich, das ist seit 8. Dezember 2023 das erste im Rheinischen Braunkohlerevier vor den Kohlebaggern gerettete Dorf am Rand des Tagebaus Hambach, das wieder eine Zukunft hat. Die Dörfer Ober- und Unterwestrich, Berverath, Kuckum und Keyenberg im Tagebau Garzweiler II sollen folgen.
36,8 Millionen Euro hat Merzenichs Bürgermeister Georg Gelhausen (CDU) in den Tagen zuvor an den Eigentümer RWE überwiesen und damit mit Geld aus der Strukturwandelförderung des Bundes ein Drittel seiner Gemeindefläche zurückgekauft. Bei der Vertragsunterzeichnung spricht er von einem historischen Tag. „Wann kauft eine Kommune schon mal einen ihrer Ortsteile zurück?“
Auch wenn die Umsiedlung längst abgeschlossen ist, soll Morschenich unter neuem Namen zu einem „Ort der Zukunft“ werden. Im Juli 2024 wird das gefeiert. Dann wird das alte Morschenich den neuen Namen Bürgewald tragen und Morschenich „neu“ das ungeliebte Anhängsel verlieren.
Die Umbenennung soll kommende Generationen daran erinnern, dass das Dorf sein Überleben vor allem den Waldbesetzern und der Klimabewegung verdankt, die mit den Großdemonstrationen vor fünf Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Das sieht auch Gregor Gelhausen so und will versuchen, mit den Aktivisten, die noch in Morschenich verweilen, einen Befriedungsprozess in Gang zu setzen.