Für 36,8 Millionen Euro übernimmt die Gemeinde Merzenich das gerettete Braunkohledorf Morschenich vom Energiekonzern RWE Power und will es in einen klimaneutralen „Ort der Zukunft“ verwandeln.
Morschenich gehört wieder zu MerzenichKohleausstieg: RWE gibt erstes Braunkohledorf an die ursprünglichen Besitzer zurück
Viele sind es nicht mehr, die im Braunkohledorf Morschenich ausharrten und den Glauben nicht verloren, dass sich alles doch noch zum Besseren wenden könnte. Mit ihren 91 Jahren dürfte Anni Hartwig die Älteste sein. „Wir wohnen über 50 Jahre hier. Morschenich ist meine Heimat“, sagt sie. Selbst wenn alle Nachbarn längst nach Neu-Morschenich umgesiedelt sind, der Bäcker aus der Eifel mit einem Verkaufswagen nur einmal in der Woche vorbeikommt und zu allem Überfluss im April noch die alte Lambertus-Kirche bis auf die Grundmauern abgebrannt ist.
Das Mittagessen steht auf dem Herd. Im Vorflur lagert ein Brikettstapel wie in alten Zeiten. Geheizt wird mit Kohle, die über Jahre als Deputat von RWE geliefert wurde. Ihr Sohn, sagt Anni Hartwigs, der auch nicht fortgezogen ist, helfe ihr, wo er nur kann. Die Hoffnung, das Dorf könne zu neuem Leben erwachen, stimmt sie fröhlich. „Es ist doch schön, dass so viele Flüchtlinge aus der Ukraine mit ihren Familien hergezogen sind. Die kommen regelmäßig vorbei. Man wechselt ein paar Worte. Das finde ich gut.“ Auch Flutopfer von der Ahr und aus der Eifel haben im Dorf vorübergehend Unterschlupf gefunden.
Dass Morschenich am Donnerstag einen historischen Tag erleben wird, hat Anni Hartwig mitbekommen. „Mein Sohn hat es mir erzählt“, sagt die freundliche alte Dame und lächelt. Ab dann gehört das Dorf, in dem einmal 493 Menschen in 180 Häusern lebten, wieder der Gemeinde Merzenich.
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Und hat damit auch wieder einen Bürgermeister. Der heißt Georg Gelhausen, gehört der CDU an und hat im Atelierhaus in Merzenich gerade seine Unterschrift unter eine Vereinbarung gesetzt, mit der die Rückübertragung von Morschenich von RWE Power an die Gemeinde Merzenich besiegelt ist. Die anderen Unterschriften stammen von Kommunalministerin Ina Scharrenbach (CDU) und RWE-Vorstand Lars Kulik.
In den vergangenen Tagen habe er an die Wiedervereinigung Deutschlands denken müssen, gesteht Gelhausen, auch wenn das etwas hochgegriffen sei. „Für uns ist das ein historischer Tag. Wann kauft eine Kommune schon mal einen ihrer Ortsteile zurück?“ Was vor fünf Jahren unvorstellbar schien, ist eingetreten. Die Kohlebagger werden Morschenich verschonen.
Rückkauf kostet 36,8 Millionen Euro
36,8 Millionen Euro hat Gelhausen für den Rückkauf des Dorfs an RWE überwiesen. Das entspricht ungefähr dem Gemeindehaushalt eines ganzen Jahres. Durch den Kauf erhält Merzenich ein Drittel seiner Gemeindefläche zurück. „Das können wir natürlich nicht allein stemmen“, sagt der Bürgermeister. Über die Strukturwandelhilfen – insgesamt stehen für NRW 14,8 Milliarden Euro bereit – werde ja viel diskutiert. „Hier sind die Mittel gut angelegt.“
Faktisch sei die Umsiedlung abgeschlossen, auch wenn ein paar Alt-Morschenicher mit dem Bau ihrer Häuser im neuen Dorf noch nicht fertig seien, sagt der Bürgermeister und kündigt an: Am 6. Juli wird das Abschlussfest gefeiert und die Ortsschilder ausgetauscht. Von jenem Tag an wird Alt-Morschenich den neuen Namen Bürgewald tragen und Morschenich „neu“ das ungeliebte Anhängsel verlieren.
Bürgewald ist die historische Bezeichnung für den Hambacher Forst. Die Umbenennung soll kommende Generationen daran erinnern, dass das Dorf sein Überleben vor allem den Waldbesetzern und der Klimabewegung verdankt, die mit den Großdemonstrationen vor fünf Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Das sieht auch Gregor Gelhausen so und will versuchen, mit den Aktivisten, die noch in Morschenich verweilen, einen Befriedungsprozess in Gang zu setzen.
„Hier bei uns im Hambacher Forst hat der gesellschaftliche Diskurs mit dem Thema Klima stattgefunden. Deshalb ist es unser Auftrag, einen innovativen Neustart zu machen“, sagt er. Der Ort, dem der Landschaftsverband Rheinland attestiert, der Typus eines klassischen rheinischen Dorfes zu sein, soll in seiner Substanz erhalten bleiben. „Wir reden im Rheinischen Revier seit langem von der Ressourcenwende. Deshalb ist es unser Auftrag, mit unserem Immobilienbestand und der vorhandenen Infrastruktur innovativ umzugehen. Wir wollen die Bausubstanz erhalten, wo immer es möglich ist.“
Weil die kleine Gemeinde Merzenich das allein nicht stemmen kann, wird sie treuhänderisch mit NRW.urban, einer Tochtergesellschaft des Landes zusammenarbeiten, die sich vor allem um Stadtentwicklung kümmert. Gemeinsam mit den Bürgern soll innerhalb von 15 Monaten ein Masterplan für Bürgewald als „Ort der Zukunft“ entstehen.
Ein paar Pflöcke hat der Gemeinderat schon eingeschlagen. Man ist sich einig, neuen Bewohnern Grundstücke nur im Rahmen eines Erbpachtmodells zur Verfügung zu stellen. „Boden ist ein knappes Gut“, sagt Gelhausen. „Die öffentliche Hand hat überall zu wenig davon. Jetzt kommen wir in die besondere Lage und kaufen diesen Ort zurück.“ Das sei ein Glücksfall für die Gemeinde. „Morschenich liegt zwischen Köln, Aachen und dem Forschungszentrum Jülich. Das ist ein Filetstück im Rheinischen Revier. Mit diesem Eigentum können wir selbstbestimmt unsere Zukunft gestalten.“
Forschungszentrum Jülich verbindet Landwirtschaft mit Stromproduktion
Den ersten Schritt zur klimafreundlichen Energieregion ist das Dorf bereits gegangen. Auf einer knapp zwei Hektar großen Ackerfläche am Ortseingang entsteht unter Federführung des Forschungszentrums eine Agro-Photovoltaik-Anlage, die Landwirtschaft und PV-Stromproduktion miteinander kombiniert. Während am Boden höherwertige Kulturen wie Beeren gedeihen, sorgen in knapp 3,50 Metern Höhe Solarzellen für Ökostrom und bieten den Pflanzen ein wenig Schutz. Regenwasser wird aufgefangen und gezielt ins Erdreich weitergeleitet, überschüssiger Strom gespeichert und für andere Forschungsprojekte genutzt.
Schon jetzt sei das Interesse enorm, sagt Gelhausen. „Wir haben Nachfragen aus der Energiewirtschaft, von Kommunen und Landwirten. Alle möchten den Weg zur biobasierten Wirtschaft mitgestalten.“
Der Bürgermeister spürt die Aufbruchstimmung. „In dieser Woche waren zwei Kinder von Umsiedlern bei mir, die mir sagten, dass sie sehr interessiert sind, den Ort der Zukunft mitzugestalten. Wir haben das Kapitel, dass wir unsere Heimat verloren haben, endlich abgeschlossen und gucken gemeinsam nach vorn. Der Schmerz überwiegt nicht mehr, sondern es gibt die Lust, hier etwas Besonderes zu schaffen.“
Den Turm der entweihten Lambertus-Kirche, der das Feuer vom April überstanden hat, wird die Kirchengemeinde mit Geldern aus der Feuerversicherung sanieren und ihn anschließend der Gemeinde Merzenich überlassen. Als sichtbares Zeichen für den Neustart. „Wir werden der neue Eigentümer“, sagt der Bürgermeister. „Und aus diesem Ort eine Gemeinschaftseinrichtung für Kultur, Bildung und Wissenschaft machen.“