Bad Münstereifel – Zwei Dinge mag Helga Welter nicht: Aufgeben und Mitleid. „Ich war schon immer eine Malocherin. Das ändert sich auch jetzt nicht“, sagt die Seniorin. In ihren Armen trägt sie einen Karton, auf ihrem Gesicht ein Lächeln. Eigentlich wollte sich die Pensionseigentümerin dieses Jahr zur Ruhe setzen. Dann kam die Flut.
Wie Welter geht es vielen in Bad Münstereifel. Nach 14 Tagen Arbeit spüren sie ihre Knochen und Gelenke, jeden Muskel in Armen und Beinen. Deshalb aufhören zu arbeiten – davon halten die Bewohner des Fachwerkstädtchens nichts. Von morgens bis abends räumen sie Geschäfte aus, reißen schimmelnde Holzbalken aus den Kellern oder fischen die Steine beschädigter Brücken aus der Erft. Mit jedem weiteren Tag wird die Stadt ihrem ursprünglichen Selbst immer ähnlicher.
Dreck hat praktisch jeder in Bad Münstereifel auf T-Shirt
„Am Anfang lief es nicht so schnell. Aber wir haben uns verbessert“, sagt Welter. Mit den freiwilligen Helfern aus der ganzen Bundesrepublik würden nun Menschenketten gebildet. Und die schaffen es auch, 40 000 nasse Bücher an einem Tag aus einem Keller zu holen. Die Knochenarbeit schweißt Nachbarn zusammen: Eine Bekannte teilt mit Welter die Erinnerung an Aufräumarbeiten im Betty-Barclay-Outlet. Bis zu den Knöcheln hätten sie im Schlamm gestanden. Jedes Kleidungsstück aus dem Geschäft sei „bleischwer“ gewesen.
Dreck hat praktisch jeder in Bad Münstereifel auf T-Shirt, Hemd und Hose. Peter Lethert ist keine Ausnahme. Eigentlich ist der Galerist ein Freund der feinen Künste und kein Bauarbeiter. In seiner Galerie in der Werther Straße steht das Schöne im Vordergrund. Jetzt prägt das Hässliche die Innenräume: Skulpturen voller Schlammspritzer, Löcher in den Wänden. Kabel hängen heraus. Nicht einmal die Adresse stimmt mehr. Weil die Promenade vor seiner Haustür von den Wassermassen mitgerissen wurde, muss Lethert über den Hinterhof an der Johannisstraße in seine Galerie.
Schon Anfang September soll die nächste Ausstellung beginnen
Aber auch Lethert gibt nicht auf. Schon Anfang September will er die nächste Ausstellung veranstalten. Wie er das machen soll inmitten des Chaos – das wisse er nicht, sagt der Galerist. Auch nach dem Krieg seien die Menschen ausgehungert nach Kultur gewesen. „Vielleicht ist das hier so ähnlich.“
Die Skulpturen für seine Ausstellung hat er schon alle zusammen, Bildhauer Joscha Bender hat sie angefertigt. Die meisten konnte Lethert in den ersten Stock in Sicherheit bringen. Erwischt hat es aber die „Backszene“: Mutter und Kind wurden getrennt. „Die Bäckerin ist mal kurz abgetaucht“, sagt Lethert. Noch in den Wassermassen habe er versucht, die Skulptur zu retten – vergeblich. Später konnte er sie sichern, zerstört ist sie nicht. „Sie muss nur sauber gemacht und wieder aufgestellt werden.“
Sauber machen und wieder aufstellen – das Schicksal der Bäckerin steht symbolisch für die ganze Stadt Bad Münstereifel. Noch immer prägen Schutthaufen das Stadtbild, Spanholzplatten ersetzen zerstörte Fenster. Die Orchheimer Straße ist wie viele andere Wege in der historischen Altstadt unter einer dicken Erdschicht begraben. An vielen Stellen nahe der Erft warnt rot-weißes Absperrband vor Gefahren. Gerade erst hatten die Ladeninhaber nach einem monatelangen Corona-Lockdown ihre Geschäfte wieder für Kunden geöffnet. Jetzt sind die Läden wieder leer – ohne Kunden, ohne Waren, ohne Einrichtung. Doch Gerüchte, die sich in der Stadt verbreiten, stimmen die Bürger optimistisch. Kein Haus sei so schwer beschädigt, dass es abgerissen werden müsse, heißt es.
„Klar schaffen wir das. Daran habe ich gar keine Zweifel“
Zuversicht will auch Bürgermeisterin Sabine Preiser-Marian (CDU) verbreiten. „Klar schaffen wir das. Daran habe ich gar keine Zweifel“, sagt sie. Preiser-Marian macht sich an diesem Tag vom Orchheimer Tor aus auf den Weg zu einer Ansprache vor dem Rathaus. Dort soll um 18.26 Uhr eine Schweigeminute für die Opfer des Hochwassers eingelegt werden. Eine Uhrzeit mit besonderer Bedeutung für die geplagte Stadt: Genau um 18.26 Uhr blieb am Katastrophentag die Bahnhofsuhr stehen. Die sonst oft in hellen Farben gekleidete Bürgermeisterin trägt jetzt einen schwarzen Blazer. Normalerweise diskutiert Preiser-Marian im Rat und in Ausschüssen mit Vertretern der Lokalpolitik. Jetzt bespricht sie mit Soldaten der Bundeswehr die Lage. Preiser-Marian wirkt, als hätte sie alles im Griff.
Ganz anders war das in der Flutnacht. Sie sei zuerst vor dem Hochwasser ins Feuerwehrgerätehaus geflüchtet, dann über den Hubertusweg auf den Nöthener Berg. „Da haben wir uns eingerichtet und erstmal abgewartet.“ Die Schockstarre, in der sich die ganze Stadt befand, erwischte auch die Bürgermeisterin. Viel Zeit zum Durchatmen blieb ihr nicht.
Schon am nächsten Tag galt es anzupacken. „Helfende Hände waren auf einmal überall. Jeder wusste, was er zu tun hatte“, erzählt Preiser-Marian. Ohne Internet und ohne Strom griffen die Bürger auf Kommunikationsmittel wie Zettel zurück, die im digitalen Zeitalter schon fast als ausgestorben galten. Noch heute gibt es im Lager der Bundeswehr ein Schwarzes Brett mit allen wichtigen Informationen.
„Wir werden hier wirklich sehr gut versorgt.“
Telefon und Internet funktionieren mittlerweile wieder. Doch Bürger und Helfer wählen oft immer noch den altmodischen Weg. Wird jemand gesucht, fragt man den Nachbarn. Am Abend ist der Platz vor der Stiftskirche St. Chrysanthus und Daria erste Anlaufstelle. Dort gibt es warmes Essen und kaltes Bier. Für viele sind es die einzigen Minuten des Tages, in denen sie abschalten können.
An die, die abends noch in den Straßen unterwegs sind, verteilen Religionsgemeinschaften Essen. Auch Helga Welter hat ihren Karton vorübergehend gegen einen Plastikbeutel mit einem Reisgericht getauscht. „Wir werden hier wirklich sehr gut versorgt.“ Sie sei begeistert davon, wie Unternehmen, Helfer und Köche die Leute unterstützen. Doch Welter weiß auch, dass es bald mehr als helfende Hände brauchen wird. Es werde dringend Gas benötigt. Und: „Trockner, Trockner, Trockner.“ Es dauere bestimmt sechs Monate, bis sie alle Wände getrocknet habe, schätzt die Seniorin. „Es ist wirklich viel kaputt gegangen. Überall.“ Aber die Bürger der Stadt seien Eifeler. Und die Eifeler sind Malocher.