Bernhard Helfer (63), Schulleiter des St.-Angela-Gymnasiums in Bad Münstereifel, wird in den Ruhestand verabschiedet.
Interview mit Bernhard Helfer„Ich war ein unendlich fauler Schüler“
Herr Helfer, was machen Sie im Ruhestand?
Bernhard Helfer: Tatsächlich habe ich schon eine ganze Reihe Anfragen, aber ich sage überall das Gleiche: Ich mach’ erstmal gar nichts. Halt! Ich räume auf. Ich habe ein Büro zu Hause, mit meiner Bibliothek, die sich in den vergangenen 30 Jahren gefüllt hat, mit didaktischer Literatur und methodischen Handreichungen von Hilbert Meyer angefangen bis zu Neuestem. Die will keiner haben. Die braucht auch keiner. Sie werden entsorgt.
Wie viele Bücher sind das?
Das ist vierstellig. Das hat eine kathartische Komponente: Ich werde mein Büro komplett ausräumen und als Büro wieder einrichten, aber dann nur, um Versicherungsschreiben zu machen oder was mir Spaß macht. Es liegt mittlerweile auch viel herum, was der Entsorgung oder der Sortierung bedarf. Und dann werde ich sehr lange schlafen und sehr ausführlich Zeitung lesen. Ich freue mich darauf, Müßiggang zu pflegen. Und ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass ich Aufgaben danach finde. Ich habe tatsächlich auch schon Anfragen aus dem Schulbereich, dem historiografischen Bereich.
Bernhard Helfer freut sich auf Reisen abseits der Schulferien
Für mich steht jetzt auch an zu reisen. Ich habe es als Lehrer genossen, auch mehrfach im Jahr verreisen zu dürfen. Ich sehe mich aber auch noch, als die Familie auf der Piste war, am Computer sitzen und Abiturvorschläge ausarbeiten beziehungsweise Korrekturen vorzunehmen. Aber es macht ja mehr Spaß, irgendwo im Winter in den Bergen zu sitzen und zu korrigieren als zu Hause. Wer da klagt, klagt auf hohem Niveau. Da ist unser Job ein Stück weit privilegiert. Aber ich freue mich darauf, abseits der Ferien zu fahren.
Und vor allen Dingen ohne Korrekturen.
Und auch mal ohne Rückflug. Südostasien steht an, wir waren verschiedentlich schon da. Wir haben eine Pfarre in Sapa in Nordvietnam von der Schule auch über den Basar gelegentlich unterstützt, da möchte ich nochmal schauen, wie die Projekte stehen. Einfach mal reisen, ohne jetzt zu wissen, ich muss an dem oder dem Tag wieder zurück.
Eigentlich wollte ich ja mit einer anderen Frage anfangen: Wie geht es Ihnen so kurz vor dem Ende Ihrer Laufbahn?
Besser als ich befürchtet habe. Wenn ich alle Jahre, auch meine siebenjährige Schulzeit, zusammenzähle, komme ich auf 40 Jahre Angela. Je näher der Tag kommt, desto stärker wird das Gefühl: Es ist jetzt gut. Die Zeit war schön. Anstrengend? Gar keine Frage. Stressig? Ja. Aber auch unglaublich erfüllend.
Carolin Neswadba wird neue Schulleiterin im St. Angela
Es macht Neuem Platz an der Schule, die Nachfolge ist geregelt, und ich bin sehr glücklich, dass meine Stellvertreterin Carolin Neswadba beauftragt wurde, die Schule weiterzuführen. Damit ist ein Höchstmaß an Kontinuität – auch in der Wiederaufbauphase, in der wir ja noch stecken, auch wenn alle Pläne fertig sind, die wir gemeinsam erstellt haben – gewährleistet. Das geht bruchlos weiter. Das lässt mich auch ein Stück weit ruhiger gehen. Je näher der Tag kommt, desto gelassener fühle ich mich. Was nicht heißt, dass es nicht emotional werden kann an dem Tag, wenn es so weit ist.
In einem alten Zeitungsbericht über ein Abiturtreffen nach 25 Jahren stand etwas vom Lehrerschrecken Bernhard Helfer. Wer war das?
Der Lehrerschrecken Bernhard Helfer war ein unendlich fauler Schüler, der eine wunderbare Schulzeit hatte. Ich habe sehr glückliche Jahre hier an Schule und Konvikt erlebt. Ich war Schüler des Kastens, wie das Internat genannt wurde, und habe dieser Erziehung und Bildung sehr viel zu verdanken. Beide Institutionen waren geistig/geistlich Kinder des Vatikanums. Ich habe selber einen Religion-Leistungskurs bei Dr. Günzel besucht. Das war ein wunderbarer Kurs für mich.
Ich habe in den Lehrern gute Vorbilder gehabt, die nicht an erster Stelle den faulen Schüler gesehen haben, sondern dessen Potenzial. Und die waren erstaunlich gelassen. So wie ich auch zu Hause immer gesagt habe: „Macht euch keine Sorgen, ich schaffe das schon, auch wenn ich nicht arbeite.“ Es ist auch so gekommen. Es war aber manchmal, ich geb’s zu, ein Ritt auf der Rasierklinge. Ich habe aber, auch wenn ich Hausaufgaben oft eher als Empfehlung betrachtet habe denn als Verpflichtung, immer die Kurve gekriegt.
Das intensive Arbeiten hat mir erst Spaß gemacht an der Universität. Das war selbstbestimmt. Als Schüler fühlt man sich ja fremdbestimmt, durch die Lehrer gegängelt. Aber es gibt immer Lehrer, die mit solchen Schülern besser klarkommen als andere. Als ich dann selber Lehrer wurde, habe ich meine alten Lehrer als unglaublich hilfsbereit wiedergefunden und anders kennengelernt. Man gehörte jetzt plötzlich zur anderen Seite und hatte sich natürlich im Studium und Referendariat bewährt, das wiesen ja auch die entsprechenden Zeugnisse aus.
Ich habe das große Privileg gehabt, den Berufsweg zu wählen, der mir auf den Leib geschrieben war. Ich würde es heute genauso wieder machen. Auch wenn mein Vater, selber Volksschullehrer, gesagt hat „Werde bloß kein Lehrer“, habe ich es anders gehalten und einen Volltreffer gelandet für mich.
Ihr Sohn wird auch Lehrer. Wie haben Sie es denn gehalten? Haben Sie auch gesagt: Werde bloß kein Lehrer oder haben Sie gesagt: Mach was du willst?
Zwei Dinge habe ich nie gekonnt und nie gewollt. Der Schule und meinen Schülern vormachen, was für ein vorbildlicher Schüler ich gewesen bin. Das ging schon taktisch nicht, weil etliche meiner Klassenkameraden ihre Kinder hier auf die Schule schickten, und die wussten es ja. Vielleicht habe ich das dann sogar ein bisschen kultiviert.
Zweitens sind unsere Kinder hier auf der Schule gewesen und haben Abitur gemacht. Lehrerkinder haben immer eine besondere Rolle an Schulen. Ich selber kenne das, ich war auf der Grundschule, wo mein Vater unterrichtet hat. Unser Sohn wusste also, was ihn erwartet. Aber er hat einen Riesenspaß daran, so wie es sich gerade darstellt. Er wird seinen Weg machen, da bin ich fest von überzeugt. Es ist auch für ihn ein Superjob.
Als Lehrer ist man genauso stolz auf die Kinder wie die Eltern
Ich bin sowieso der Auffassung: Es ist immer besonders erfüllend, mit Menschen zu tun zu haben, die man wachsen sieht. Wenn wir Abiturienten in ihr Erwachsenendasein entlassen, haben wir als Lehrer die Kinder vor Augen, wie sie hier herkamen, sich anmeldeten, zögerlich – die wenigsten treten ja selbstbewusst auf. Wenn man den Werdegang sieht, wie die sich entwickelt haben und wie wir als Schule einen Anteil daran haben und sie begleiten durften, ist man genauso stolz wie die Eltern für das Erreichte. Es gibt nichts Schöneres, als Menschen beim Werden begleiten zu dürfen und zu sehen, wie erwachsen, reif und trotzdem voller Staunen und Erwartungen sie ins weitere Leben treten.
Hat das zugenommen, dass die Schule die Entwicklung der Kinder steuert und weniger das Elternhaus?
Als katholische Schule sind wir immer ganzheitlich orientiert. Das halte ich für eine unendliche Freiheit, die das Ersatzschulwesen in unserem Bundesland und letztlich in unserem Land den Schulen dieser Prägung auch garantiert. Wir müssen nicht haltmachen vor Konfessionsgrenzen oder ideologischen Grenzen. Ideologie spielt bei uns keine Rolle, ebenso wie die Tagespolitik. Man thematisiert das fachlich.
Eine große Rolle spielt bei uns der Blick auf die Schüler als Ganzes. Also dieses sich kümmern, Schüler nicht als Bildungsobjekte oder -subjekte zu betrachten, sondern als junge Menschen, die ganzheitlich geprägt werden. Deswegen ist es für mich so schlimm gewesen, nach der Flut einer ganzen Reihe von Schülern eine Schule anzubieten, die so stark beeinträchtigt ist. Eigentlich ist das auch die Politik des Erzbistums, den Schülerinnen und Schülern eine hochwertige Ausstattung zu geben, um dadurch Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen. Daran hat der Schulträger auch nie einen Zweifel gelassen.
Das Erste, was wir gemacht haben, ist eine würdige Außenanlage, damit ein Teil des Schullebens auch die Entspannung draußen ist. Die enge Verbindung zu Eltern und Schülern ist das, was ich immer geschätzt habe. Ich gehe morgens immer zuerst in den Container, so es mir denn möglich ist, halte den Kopf rein und sage „Morgen zusammen.“ Dann sieht man verschlafene Augen.
Bernhard Helfer sucht die direkte Begegnung mit den Schülern
Die direkte Begegnung spiegelt etwas und man nimmt wahr, wie einer drauf ist. Wenn man die später im Unterricht hat, hat man schon mitgekriegt: Da hakelt was, da ist Euphorie oder sonst was. So spiegeln uns das Schüler, Eltern und Kollegen, die vorher irgendwo anders gearbeitet haben. Es ist bei Schulen unserer Prägung ein kleines bisschen anders. Die Morgenandacht am Montag ist Teil unseres Schullebens. Das ist selbstverständlich. Darauf lassen sich Schüler nicht nur ein, das gehört für sie dazu. Und wenn das mal nicht stattfindet, fehlt was.
Apropos verschlafene Kinder: Fängt Schule zu früh an?
Wir sind ja mit 8.15/8.20 Uhr relativ spät dran. Aber das heißt nicht, dass die Kinder nicht doch früh aufstehen müssen. Wir haben über 90 Prozent Fahrschüler. Die kommen zum Teil von sehr weit her und müssen sehr früh aufstehen. Vom Ende her betrachtet muss man gucken: Wann hört man auf? Und wir haben Schüler, die kommen nicht vor 17 Uhr nach Hause. Da sind dem Tag Grenzen gesetzt.
Sie sind in der siebten Klasse hierhin gekommen. Warum?
Weil die Lehrer auf dem Gymnasium, wo ich vorher war, fanden, dass es vielleicht Not täte, dem Schüler Helfer einen Tapetenwechsel zu verschreiben.
Und dann direkt ein Internat in Bad Münstereifel?
Ich hab’ das gewollt! Das hat damit zu tun, dass mein Onkel vor dem Krieg Internatsschüler war, bis 1938 das Internat als katholische Bildungsinstitution geschlossen wurde. Man erinnerte sich dessen und meine Eltern fragten: „Willst du aufs Internat?“ Ich war sofort begeistert von der Idee. Meine schlechten Leistungen an der alten Schule sind jetzt nicht ursächlich zu sehen, vielleicht war es eher umgekehrt.
Das Internat in Bad Münstereifel sah Bernhard Helfer als Chance
Ich hab’ das als große Chance betrachtet. Ich bin immer ein Homo socialis gewesen, ich sah sofort all die Jungs, mit denen ich Fußball spielen konnte. Und genau so hat es sich auch eingestellt. Ich habe die Zeit im Internat außerordentlich genossen und habe ihr auch eine gewisse Strukturgebung in Sachen Arbeitsdisziplin zu verdanken.
Und dann kamen Sie 1990 als Lehrer zurück.
Da habe ich hier angefangen. 1994 wurde ich Erprobungsstufenleiter. 2010 Stellvertreter und 2012 Schulleiter. Und in der Zwischenzeit war ich auch Vater. Auch eine interessante Perspektive auf Schule, die rundet einiges noch mal ab.
Schule als Entfaltungsfeld für pädagogische Ideen
Ich habe die Schule immer wahrgenommen als tolles Entfaltungsfeld für pädagogische Ideen und Arbeit mit Kindern. Ich habe immer Spaß am Unterricht und am Ausprobieren gehabt. Ich habe sehr gerne Fahrten unternommen, Austausch begleitet. Wir hatten zehn Jahre einen Austausch mit Irland gemacht. Ich habe mich sehr engagiert im Prag-Austausch. Und all die Wallfahrten, Studienfahrten, Tage religiöser Orientierung.
Dann gerne auch die Fahrt nach Berlin. Als Geschichtslehrer bin ich prädestiniert, am Ende zum Schulleiter zu sagen: Ich würde gerne mit der Klasse 10, das ergibt sich organisch aus dem Unterricht, eine Woche nach Berlin fahren. Ich organisiere das alles selber und bitte um Ausnahmegenehmigung.
Abschalten kann man da aber nicht, man hat ja Verantwortung für die Kinder.
Das ist wohl wahr. Ich erinnere mich an ein paar Begebenheiten in einer Jugendherberge, zumal da andere Gruppen waren. Ich habe mir als Junglehrer tatsächlich mal jemanden von einer Kölner Schule, die nicht ganz so beaufsichtigt waren, zur Brust genommen.
Reisen gehörte auch schon im Studium dazu. Sie waren in Wales.
Das war eine tolle Zeit. Ich habe in Essen studiert, da gehörte das dazu, dass man als Englischstudent ein Angebot bekam, ins Ausland zu gehen. Ich habe das Stipendium gekriegt und bin dann zweimal am University College in Bangor, Nordwales, gewesen. Ich habe in der Unidisco in Bangor meine Frau kennengelernt, die zufällig da Meeresbiologie studierte von der Uni Konstanz aus.
Man sagt doch, in Wales sprechen die kein Englisch.
Ganz furchtbar! Ich habe Verwandtschaft in England. Mein Onkel, der literaturwissenschaftlich belegt war, hat das als Niederlage empfunden, dass sein Neffe nach Wales ging. Er sagte: „Warum um Gottes Willen gehst du nach Wales? Du willst doch Englisch lernen! Das sind Waliser!“ Die sprechen tatsächlich ein kerniges Englisch.
Sie werden als Organisationstalent beschrieben. Wie konnte aus dem Lehrerschreck Helfer jemand werden, der organisieren kann?
Es gibt bestimmte Dinge, da kann ich Chaos ertragen, mein Büro zu Hause ist so ein Ding. Aber es gibt viele Dinge, die ich sehr penibel betreibe und mich in Details ergeben kann. Gut strukturieren kann ich, das stimmt. Das ist sicherlich nichts, was man nicht gut brauchen kann als Schulleiter.
Als Sie Schulleiter wurden, hieß es in einem Kommentar in unserer Zeitung, dass Innovation und Tradition zusammenkommen. War das auch so?
Drüben im zerstörten Altbau hängt ein Zitat von Angela Merici: „Auf bewährten Wegen Neues wagen.“ Ich liebe dialektische Sätze. Wir haben hier ein Gegensatzpaar. Das Alte und das Neue zusammenzubringen, bedeutet immer, die Schnittstelle der Gegenwart wahrzunehmen. Ich kann unendlich dankbar sein, dass ich unserem Personal, Eltern und Schülern nicht abverlangen muss, neue Programme zu schreiben.
St.-Angela-Gymnasium beruft sich auf Erstgründung von Margarete Linnery
Wir haben eine Tradition, die ist uralt und ist hoch emanzipatorisch. Margarete Linnery, auf deren Erstgründung wir uns berufen und zurückgehen, hatte die Idee, den benachteiligten Mädchen vom Land Bildungschancen zu eröffnen. So habe ich meine eigene Schulzeit erlebt. So verstehe ich auch unseren Auftrag. Es geht nicht um Bildungschancen für Benachteiligte im klassischen Sinne, sondern Bildungschancen den individuellen Schülern so anzudienen, dass sie sich ernst genommen fühlen dürfen in ihren Bildungsbemühungen, die wir hoffentlich so individuell wie möglich unterstützen.
Neues wagen heißt, auf die Fragen der Zeit Antworten zu finden. Wie gehen wir mit KI um? Das ist im Spannungsfeld wieder dieses Gegensatzpaar. Die Schöpfer von ChatGPT behaupten, das kann der Untergang der Menschheit sein. Die Kommission, die sich damit befasst in der Kultusministerkonferenz, sieht darin die Chance, endlich zu mehr Bildungsgerechtigkeit im sozialen Gefälle zu kommen. Das eine wie das andere bedarf der Einordnung. Man darf doch nicht glauben, dass ausgerechnet jetzt eine KI erreicht, was eine Bildungspolitik jahrelang versäumt hat.
In seiner Laufbahn hat Bernhard Helfer keine Bildungsreform erlebt
Man darf nicht vergessen: Ich habe als Lehrer und Studierender keine einzige Bildungsreform erlebt. Die letzte ist erarbeitet worden Anfang der 70er, ist Mitte der 70er implementiert worden und die differenzierte Oberstufe ist nach wie vor gängiges Modell. Die Taktung auf 45 Minuten, die wir ja zum Teil schon aufgelöst haben durch Doppelstunden, ist ein preußisches Ding aus dem 19. Jahrhundert.
Wir haben in NRW die Standardsicherung gekriegt. Das ist eine gute Sache, wenn sie denn funktioniert. Wir haben es ja jetzt erlebt, beim Abiturdownload. Dass wir Bildungsgerechtigkeit auf der sozialen Ebene erreicht hätten, ist doch eine Chimäre. Ob das mit dem Föderalismus zu tun hat oder nicht, will ich gar nicht diskutieren. Aber eine Bildungsreform steht uns bevor, weil es gar nicht mehr anders geht.
Was erwarten Sie sich denn davon? Warum ist die nötig?
Die ist deswegen nötig, weil die Lehr- und Leistungsüberprüfungsformate den Bedürfnissen unserer Schüler und den Ansprüchen der Zeit nicht mehr entsprechen. Wenn ich höre, dass in Hamburg Leute im Abitur KI benutzt haben, dann stelle ich mir die Frage: Sind die Formate, die wir hier wählen, noch die richtigen?
Die Kompetenzorientierung, die ja in NRW Einzug nahm vor ungefähr 20 Jahren, ist gut und schön. Gleichzeitig ist das Prinzip Fachlichkeit nicht unbedingt gestärkt worden. Wir haben ein bestimmtes Kontingent an Zeit, die wir mit den Schülern verbringen. An diesem Kontingent Zeit soll alles festgemacht werden, was in den letzten Jahrzehnten durchs Dorf getrieben worden ist. Inklusion, Individualisierung, Schülerorientierung im Unterrichtsgeschehen, entdeckendes Lernen, Wirtschaft als Fach, die nächste Forderung: Finanzen als Fach. Ich will jetzt nicht sagen, was ich von denen halte, die das durchs Dorf treiben.
Die Rolle der Erziehenden wird ein Stück weit auf die Schulen übertragen, ohne dass die Schulen die entsprechende Ausstattung, auch personell, hätten. Da wird mal ein Verwaltungsangestellter etabliert, da mal eine Sozialarbeiterinnenstelle in Teilzeit. Das ist alles zu wenig. Es gibt Aufgaben, die der Lehrer machen muss, die aber gar nicht notwendig sind in Schule: Administration, Aufsicht. Die pädagogische Arbeit des Klassenlehrers und die bildende Arbeit des Fachlehrers sind Kernauftrag von Lehrenden. Die Aufsicht in einer Klausur kann jemand anderes machen.
Könnte das auch der Pensionär Helfer sein?
Der Pensionär Helfer könnte das durchaus sein, wenn er die Zeit hätte. Aber die hat er nicht. Nice try. Ich habe jetzt erst jemandem gesagt: „Ihr werdet erleben, dass in der Unterrichtssituation kein Stein mehr auf dem anderen bleibt.“ Die Digitalisierung hat Einzug gehalten mit unfassbaren Chancen. Es ist einfach klasse zu sehen, was mit den Lehrer-iPads auf einem entsprechenden Bildschirm alles möglich ist. Der nächste Schritt ist, die Schüler mit Tablets auszustatten. Die dürfen in dem Tablet aber nicht den Ersatz fürs Heft sehen, das muss eine Neudefinition von Unterricht sein.
Es bleibt kein Stein mehr auf dem anderen: Das war seit der Flutkatastrophe so. Es war kein schönes Ende für die Laufbahn eines Schulleiters.
Das, was ich an Kontinuität bei aller Zerstörung erlebt hat, ist die Güte der Schulgemeinschaft. Dieses Zusammenstehen, ohne Konflikte untern Teppich zu kehren. Jeder spielt hier seine Rolle. Die Eltern plädieren auf die Elternrechte. Die Schüler mahnen an, dass sie eine vernünftige Gestaltung benötigen. Die Lehrer benötigen vernünftige Arbeitsplätze. Das alles sind geborene Konflikte in Schulen. Die dürfen wir nicht kleinreden. Wenn wir das täten, würden wir die Menschen dahinter nicht ernst nehmen.
Ja, der Schulleiter als Präsident zum Ende ist eine schöne Vorstellung, aber nicht realistisch. Dem Dezernenten der Bezirksregierung habe ich gesagt: „Wir sind durch die Talsohle durch. Die Pläne sind alle fertig. Und ich darf jetzt von außen betrachten, wie alles wieder wächst.“ Wir werden die Schule modernisieren, sie wird den Anforderungen an modernes Lernen noch deutlich gerechter werden, als sie das vorher bereits war. Das sah ich auch als Auftrag nach der Zerstörung.
Bernhard Helfer sieht psychosoziale Folgen bei Kindern durch Corona
Ich weiß nicht, was psychologisch stärker nachwirkte. Die Corona-Jahre, die schlimm waren. Wir waren ja jeden Tag hier. Die Einsamkeit hier im Gebäude über diese vielen Monate, wo hier Kindergeschrei, Lachen, Schimpfen den Alltag prägten. Das nicht mehr zu haben, nicht zu wissen, wann das wieder Einzug halten würde, hat schon sehr an den Nerven gezerrt. Die psychosozialen Folgen sehe ich bei den Kindern viel mehr als die fachlichen und methodischen. Die Politik stürzt sich natürlich gerne auf letzteres, weil das händelbar erscheint.
Aber wir müssen auf die Kinder gucken, auf deren Seelen und Verletzungen und Bedürfnisse. Das ist Teil unserer DNA. Die Bewältigung der Flut hat gezeigt, dass wir darauf zählen können, dass man hier zusammensteht. Ich habe gelernt, dass Schule mehr ist, als ein gut ausgestattetes Gebäude. Zusammen mit Eltern, Schülern, Kollegen und Wildfremden hier im Dreck zu arbeiten, hat gutgetan und hat mich in meiner Vorstellung und meinen Idealen von Schulgemeinschaft auch bestärkt.
Es hat eine Zeit gedauert, um zu verstehen, dass die Größe des Ereignisses alles übertraf, was man für möglich gehalten hatte. Das ist ein Prozess gewesen. Wir haben auch wirklich dahingehend schwere Stunden erleben müssen, dass man keinen Fortschritt sah, kein Licht am Ende des Tunnels. Man fühlte sich wie im Hamsterrad und drehte und drehte und drehte, war vollkommen erschöpft und es tat sich nichts – gefühlt! Tatsächlich tat sich ’ne Menge. Und wir sind seit Herbst letzten Jahres durch die Talsohle durch und können wirklich schrittweise immer weiter die Entwicklung beobachten und haben selber gestalten können.
Unser Träger hat uns mit unseren Arbeitsgruppen und Ideen immer ernst genommen. Für mich waren ja immer Kinder und Jugendliche, die uns anvertraut waren, Menschen, die im Wachsen begriffen sind. Das Schlimmste, was man als jemand, der mit Schule befasst ist, tun kann, ist das Staunen zu verlernen. Von daher freue ich mich, eine Schule zu verlassen, die ich gut vorbereitet sehe.
Ein Thema, über das wir noch gar nicht gesprochen haben: Letztes Jahr kam auch noch eine Krankheit dazu.
Auch das ist etwas, das mich bewogen hat. Ich musste mich einer Operation unterziehen. Das ist eine karzinogene Geschichte gewesen, die aber, Gott sei Dank, früh erkannt worden ist. Die hat in der Rekonvaleszenz Spuren hinterlassen und ich gehe deswegen etwas früher. Auch, weil ich ein Stück Erholung vor mir herschiebe.
Einen Schulleiter auf Teilzeit gibt es nicht, jedenfalls nicht in meiner Vorstellung. Die Schule verdient jemanden, der mit voller Kraft hinterm Steuer steht. Wenn ich nach Hause komme, brauche ich die Zeit, um mich zu erholen, damit ich am nächsten Tag wieder fit bin. Um das gesundheitlich glattzuziehen, freue ich mich, wenn ich im Sommer in Pension bin.
Für mich war immer wichtig: Das Amt ist größer als man selbst. Es mag Menschen in meinem Umfeld geben, die glauben mir das gar nicht, dass das so ein Prinzip von mir ist, weil die mich immer so als Kraftbolzen daherlaufen sehen. Das erhält so ein bisschen die Demut vor dem Amt. Und wenn man am Ende sagen kann, man hat den Eindruck, man hat es ordentlich gemacht – im hanseatischen Sinne –, ist das das Beste, was man hören kann.
Meine Loyalität gilt immer erst den Kindern und ihren Bildungs- und Erziehungsinteressen. Da muss ich in Kauf nehmen, für einen guten Stundenplan einer Klasse einem Lehrer möglicherweise einen schlechten machen zu müssen. Aber das muss man artikulieren. Das habe ich von Anfang an in Konferenzen deutlich gemacht. Deshalb war Corona so schlimm. Schule ohne Schüler, das geht doch gar nicht. Und dann guckt man in Bildschirme und in Kinderzimmer. Hallo? Geht’s noch?