Die Sehnsucht nach dem Winterwunder ist selten so groß wie vor Weihnachten. Während Köln selten in den Genuss der Flocken kommt, wartet das weiße Märchen knapp zwei Stunden entfernt: In Winterberg.
Sehnsucht nach der FlockeWie Winterberg das Winterwunder wahr macht
Und plötzlich ist Winter. So richtiger Märchen-Wunderland-Winter. Die Landschaft weiß gefroren, der Himmel blau, Sonnenstrahlen, die alles zum Funkeln bringen. Knapp zwei Stunden von Köln entfernt wirkt der Alltag wie blasser Nebel aus einer vergessenen Welt. Auf der Winterberger Hochfläche ist nichts mehr Grün und Grau. Alles glitzert. Das Herz hüpft freudig. Die Lungen füllen sich beim ersten Zwischenstopp mit dieser herrlich kalten Luft, die alle Sorgen vertreibt.
Genau auf diesen Effekt setzen sie in Winterberg, dem einzigen mit Verve vermarkteten Wintersportgebiet in der Region. Ein Kurztrip in den Schnee, großer Spaß für kleines Geld, die Skier anschnallen und alle Probleme vergessen. 90 Tage Betrieb auf den Skipisten, so lautet das Versprechen an die Gäste der 668 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Kleinstadt im Rothaargebirge.
Temperaturen deutlich unter 0 Grad
Und in diesem Jahr hilft der Wettergott kräftig mit, dieses Versprechen einzulösen. Seit dem vergangenen Wochenende liegen die Temperaturen in Winterberg deutlich unter 0 Grad, die Schneekanonen können ackern, was das Zeug hält, nach und nach werden immer mehr der 27 Lifte und 27 Pisten-Kilometer in Betrieb genommen. An diesem Wochenende dürfte richtig was los sein, zum ersten Mal in diesem Winter ist ein umfassendes Skivergnügen auf den Winterberger Bergen Poppenberg (746 Meter), Bremberg (810 Meter) und Sürenberg (790 Meter) möglich.
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Und die Energiekrise? Der Klimawandel? Die Inflation? Liegt Winterberg hinterm Mond?
„Nein“, sagt Winfried Borgmann: „Wir hoffen einfach auf eine wunderschöne Wintersportsaison trotz all der widrigen Umstände von außen.“ Also trotz Energiekrise, Klimawandel, Inflation.
Einfach mal Strom sparen und Schneekanonen sowie Lifte stilllegen, das sei keine Option für den Ort, erklärt der Geschäftsführer der Winterberger Wirtschaftsförderung, „da hängen 3000 Arbeitsplätze plus die Jobs für die Saisonkräfte dran“. Die 90 Tage Wintersport in Winterberg brächten der Gemeinde 20 Prozent ihres Jahresumsatzes, sagt Borgmann. Den Winter ausfallen zu lassen, wäre also ein wirtschaftliches Desaster. In den vergangenen 20 Jahren wurde viel investiert, vor allem in Schneekanonen, in Liftanlagen, in modernste Pistenraupen. Der Winter ist nun planbarer, er kann ausgiebig touristisch genutzt werden. Aber er ist auch unverzichtbar geworden.
Kein Kunstschnee am Weißen Stein
In der Eifel geht man einen anderen Weg. Der Weiße Stein in der Gemeinde Hellenthal bringt es immerhin auch auf 690 Höhenmeter. Aktuell sei auch hier alles in glitzerndes Natur-Weiß getaucht, erzählt Julia Schößler, die Leiterin des Tourismusmanagements. Aber künstlich produzierten Schnee gibt es hier nicht. „Das kommt für uns nicht infrage“, sagt Schößler, „die Natur soll bleiben, wie sie ist, dafür ist der Weiße Stein bekannt“. Der Skilift war zuletzt in der Saison 2019/2020 in Betrieb, damals aber nur für einen einzigen Tag. Mehr gaben die natürlichen Schneeverhältnisse nicht her. Und nun findet sich kein Pächter mehr für das unsichere Geschäft mit dem Skilift.
Die Anlage für Rodler soll in der kommenden Woche immerhin aufgestellt werden. Es fehle nur noch die Abnahme durch den TÜV, sagt Schößler. Aktuell muss den Hang aus eigener Kraft erklimmen, wer auf einem Schlitten hinuntersausen will. Was so manchen Rodel-Fan aber nicht vom Spaßhaben abhält. Am vergangenen Wochenende sei der Parkplatz am Weißen Stein bereits voll gewesen, erzählt Schößler. Viele Gäste kämen auch wegen der Wanderwege und der Loipen, die ab einer Schneedecke von 20 Zentimetern gespurt werden.
„Es ist schön, wenn Schnee fällt in der Eifel, aber wir planen nicht mit dem Winter“, sagt Uschi Regh, die Pressereferentin von Eifel Tourismus. Man investiere nicht in den Wintersport. „Es ist ja schon länger absehbar, dass wir mit dem Klimawandel künftig immer mehr eher Wein- als Wintersportregion sein werden.“
In Winterberg dagegen hat man sich vor 20 Jahren entschieden, auf „technisch produzierten Schnee“, so nennen sie das Weiß, das aus den Schneekanonen rieselt, zu setzen und Wintersport-Hochburg zu werden. Das ist grandios gelungen. Der Wintertourismus floriert. Nun soll das noch eine ganze Weile so bleiben.
„Wir gehen davon aus, dass wir hier trotz aller Probleme noch mindestens weitere 20 Jahre die Wintersportindustrie aufrechterhalten können“, sagt Winfried Borgmann. Er muss das sagen. Er will ja, dass Unternehmer in den Winterberger Winter investieren. Er glaubt aber auch dran. Das liege am „sauerländer Optimismus“, sagt Borgmann. Und natürlich an den modernen Möglichkeiten, dem Winter auf die Sprünge zu helfen.
Technisch produzierter Schnee ist haltbarer
Schneekanonen machen aus Wasser Schnee. Dieser besteht wie natürlicher Schnee aus Eiskristallen – also aus gefrorenem Wasser mit Lufteinschlüssen. Chemische Zusätze kommen nicht zum Einsatz, das ist in Deutschland verboten. Deshalb sprechen die Fachleute von „technisch erzeugtem Schnee“ und nicht von „Kunstschnee“. In einer Schneekanone wird mit Luft gemischtes Wasser unter hohem Druck durch eine Düse gepresst und mit einem Gebläse fein zerstäubt.
Das Problem: Schnee wird aus diesen feinsten Wassertröpfchen auf ihrem Weg zum Boden nur, wenn es richtig kalt ist. Mindestens minus zwei Grad. Besser noch kälter. Das heißt: Ist es zu warm, lässt sich auch mit Hilfe von Schneekanonen keine Winteridylle erzeugen. Der Vorteil: „Technisch produzierter Schnee ist dichter und deshalb haltbarer als der, den Frau Holle macht“, erklärt Borgmann. Deshalb freuen sie sich in Winterberg so über die aktuelle Kälteperiode. Da kann haufenweise Schnee produziert werden, „der uns über die Saison trägt“. Eine wärmere Phase oder auch mal Regen hält dieser Schnee besser aus als natürlicher.
Problematisch wird es also erst, wenn es gar nicht mehr richtig kalt wird. Ob und wann der Klimawandel im Sauerland dazu führen wird, ist ungewiss. Guido Halbig, beim Deutschen Wetterdienst (DWD) Leiter des Regionalen Klimabüros Essen, hat dazu ein paar Daten zusammengestellt: Demnach wurden die Winter auf dem Kahlen Asten, mit 841,87 Metern der dritthöchste Berg im Rothaargebirge, in den vergangenen Jahrzehnten wärmer. Zwischen 1993 und 2003 gab es kein Jahr mit einer mittleren Wintertemperatur (in den Monaten Dezember, Januar, Februar) über 0 Grad. Zwischen 2003 und 2012 waren es dagegen schon zwei. Und zwischen 2013 und 2022 sogar fünf.
Eistage im Jahr gingen von 65 im Mittel auf 58 zurück
Dazu nahm die Strenge der Winter ab. Gemessen wird diese anhand der Anzahl von Tagen mit Dauerfrost (Eistage). Davon gab es auf dem Kahlen Asten zwischen 1961 und 1990 im Mittel 65. Zwischen 1971 und 2000 waren es 58. Und zwischen 1981 und 2010 nur noch 57. Seit 1980 nehmen zudem sowohl die Winterniederschläge als auch die Anzahl der Tage mit einer Schneehöhe von mehr als einem Zentimeter ab.
Ausgehend von den meteorologischen Gegebenheiten sei rund um Winterberg mit einer weiteren Zunahme der Wintertemperatur zu rechnen, sagt Klima-Experte Halbig. Allerdings könne es durch eine Veränderung globaler Zirkulationsmuster sein, dass es trotz der allgemeinen Erwärmung weiterhin einzelne kalte Winter geben kann.
Solange es sie gibt, werden die Skiliftbetreiber mit ihren Schneekanonen nach Kräften Frau Holle spielen. Und die Touristen werde kommen. Getrieben von ihrer Sehnsucht nach Winteridylle. Angelockt von den vielfältigen Möglichkeiten vom alpinen Skifahren über das Langlaufen oder Winterwanderungen bis hin zum Rodeln. Von Krisenstimmung bei den Wintertouristen sei aktuell jedenfalls nichts zu spüren, die Buchungsanfragen seien so gut wie in den vergangenen Jahren, sagt Winfried Borgmann. Er findet auch, dass es wichtig sei und erlaubt sein müsse, „mal abzuschalten“. Zwei bis drei Tage seien die typischen Wintergäste im Durchschnitt zu Gast. „Die kommen, um mal an andere Dinge zu denken.“
Vorwurf der Energieverschwendung sitzt mit im Lift
Der Vorwurf der Energieverschwendung sitzt natürliche dennoch mit im Lift. Muss der Mensch Skifahren, wo es nicht genug natürlichen Schnee dafür gibt? Heike aus Köln trifft sich seit sechs Jahren in jedem Januar mit anderen Familien in Winterberg. Sie genießt das Gruppenerlebnis und nimmt dafür „die kurzen Abfahrten und das lange Warten an den Liften“ hin. „Für viele aus der Gruppe ist das die einzige Möglichkeit, Skifahren zu gehen“, sagt die 50-Jährige. „Der Weg in die Alpen ist so viel weiter und der Urlaub dort so viel teurer, gerade mit Kindern geht das oft nicht.“
Dennoch: Winterfreuden auf Kunstschnee – muss das sein? „Im Moment ist das schlechte Gewissen noch nicht stark genug, um es sein zu lassen“, sagt Heike.
Winfried Borgmann hat natürlich Argumente gegen das schlechte Gewissen. Ein Flug in die Sonne oder eine Fahrt in die Alpen verursachten einen deutlich größeren CO2-Fußabdruck als der Trip nach Winterberg, sagt er. Und die Beschneiung geschehe ressourcen- und klimaschonend: „Die vier größten Skigebiete der Region beziehen seit einigen Jahren ausschließlich Ökostrom, und einige produzieren einen Teil ihres Stroms selbst durch Photovoltaikanlagen.“
An jenem Winter-Wunderlandtag, als erst fünf Lifte geöffnet sind und die Wintersportsaison gerade am Anfang steht, heißt es beim Skiverleiher bereits: anstehen. An der Skiliftkasse: auch. Und am Lift: sowieso. Auf den Pisten ist es rappelvoll. Immerhin: Nahezu jeder trägt einen Skihelm. Gut so, denn rasante Könner und unberechenbar schwingende Anfänger haben hier nicht viel Platz, einander auszuweichen.
Ticketpreise um fünf bis zehn Prozent erhöht
Die Kinderski kosten 15 Euro Leihgebühr für den Tag, die Liftkarten ab mittags für Mutter und Sohn 47 Euro. Günstiger als Skifahren in den Alpen – aber nicht unbedingt ein Schnäppchen. „Die Kostensteigerungen spüren wir auch in den Skigebieten, wir gehen von einer Mehrbelastung von über 30 Prozent aus“, sagt Borgmann. Dennoch seien die Ticketpreise nur leicht erhöht worden, je nach Gebiet um fünf bis zehn Prozent.
Im Lift sitzt zwei Plätze weiter ein Pärchen, das sich seinen Wochenendausflug von nichts verderben lassen will. Er schmiedet Pläne: „Komm, gleich machen wir ein bisschen Après-Ski, morgen dann gemütlich frühstücken, nochmal auf die Piste, und am Nachmittag fahren wir nach Hause.“ Im nächsten Lift – Liftfahren ist bei Pisten, die nur 600 bis 800 Meter lang sind, eine sehr zentrale Beschäftigung – sitzt ein anderes Pärchen, das laut über die Beschneiung eines Abschnitts neben der Piste nachdenkt: „Was die da wohl mit dem Schnee wollen?“
Lagern. Für wärmere Tage. Zu viel Schnee auf Vorrat werde aber nicht produziert, betont Borgmann. Denn die Skiliftbetreiber wollten ja selbst Energie sparen. Allein schon, um ihre Geldbeutel zu schonen. Deshalb kommen auf den Abfahrten hoch moderne Pistenraupen zum Einsatz. Per GPS können sie die Dicke der Schneedecke ermitteln und die Schneekanonen wissen lassen, wie viele Wassertropfen sie noch auspusten müssen.
Große, fluffige, üppig verzweigte Eiskristalle bekommen die Schnee-Erzeuger, so der übergreifende Name für Schneekanonen und Schneilanzen, nicht hin. Es gibt Dinge, die kann eben nur die Natur. Oder Frau Holle. Wenn diese Flocken auf herausgestreckte Zungenspitzen fallen, ist das pures Glück. Kein Abwägen, keine Gewissensbisse, kein Krisendenken. Einfach nur kaltes Kitzeln. Kostenlos und energieeffizient. Auch das hatte dieser Winter schon zu bieten. Wie schön.