Kreis Euskirchen – Hätten bei der Flut vom 14./15. Juli Sachschäden gemindert und Menschen gerettet werden können, wenn Behörden die Menschen sowohl im Vorfeld als auch während der sich anbahnenden Katastrophe umfassender und deutlicher gewarnt hätten?
Dieser Vorwurf wird zunehmend von Bürgern, die durch die Flut überrascht wurden, erhoben, und mündete auch im Kreis Euskirchen in der Strafanzeige eines Stotzheimer Bürgers gegen den Euskirchener Landrat als Chef der Kreisverwaltung.
Im Gespräch mit der Redaktion machten Landrat Markus Ramers, Kreisbrandmeister Peter Jonas, Martin Fehrmann als Leiter der Gefahrenabwehr im Kreis und Udo Crespin vom Führungsstab eines deutlich: Von der ungeheuren Wucht, mit der die Flutkatastrophe über die Kommunen hereinbrach, wurde auch der Kreis überrascht. Ramers: „Das hat eine Dimension, die wir noch nie hatten.“ Crespin: „Den Begriff der Flutkatastrophe kennt man sonst eher vom Meer. Aber er ist völlig richtig. Wenn eine 1,50 Meter bis 3 Meter hohe Strömung mit hoher Geschwindigkeit in Straßen alles mit sich reißt, kann man nicht mehr von Hochwasser reden.“
Hochwasser gab es in der Vergangenheit auch im Kreis vielfach. Für manche Feuerwehren ist das schon gewohntes Geschäft. Man habe um die Stellen gewusst, an den es bei steigenden Wasserständen in den Bächen und Flüssen und starken Regenfällen brenzlig werden kann, sagte Peter Jonas. Auf eine derartige Situation, so der Kreisbrandmeister, hätten sich der Kreis, die Kommunen, die Rettungsleitstelle und die Feuerwehren eingestellt.
Über Warnapps informiert
Schon nach ersten Pressemeldungen und Hinweisen des Deutschen Wetterdienstes zum Wochenbeginn habe der Kreis damit begonnen, selbst über die Handy-Warnapps Nina und Katwarn, mit der man fast 170 000 Nutzer erreiche, die Bevölkerung mit entsprechenden Warnmeldungen zu informieren, sagte Fehrmann. Darin habe es Hinweise auf bis zu 200 Liter Regen pro Quadratmeter in der Zeit von Dienstag bis Donnerstag, den Hinweis auf mögliche örtliche Überschwemmungen und erste Handlungsempfehlungen für die Bürger gegeben. Der Kreis selbst erhielt über die Bezirksregierung am Dienstag eine Warnung auf Landesebene. Doch auch darin habe es keine Konkretisierung der Gebiete oder des drohenden Ereignisses geben.
Im Laufe des Mittwochs sei es zunehmend zu Feuerwehreinsätzen gekommen, die sich zunächst von früheren Hochwasserlagen kaum unterschieden. Besonders habe man sich dem Mühlensee in Kommern gewidmet, da man ein Überlaufen fürchtete. Auch an anderen Brennpunkten seien Maßnahmen wie das Bereitstellen von Sandsäcken getroffen worden.
Die Rettungsleitstelle sei personell verstärkt worden, um für eine quantitative Zunahme der Einsätze vorbereitet zu sein. Außerdem seien am Spätnachmittag die bereits vorgewarnten Koordinierungsstellen der Feuerwehren in den Kommunen hochgefahren worden.
Es sei nixht klar gewesen welche Menge Wasser kommen würde
Um 19.15 Uhr, so Fehrmann, habe der Kreis erneut über Katwarn und Nina, aber auch über den Facebook-Kanal des Kreises, Radio Euskirchen und den Online-Auftritt der Tageszeitungen informiert. Diesmal mit deutlichem Hinweis auf schwere Unwetter, zunehmende Überflutungen und Stromausfälle. Auch hierin habe es konkrete Verhaltensregeln gegeben, etwa nicht in Keller oder an Gewässer zu gehen und die Nachbarn zu informieren.
Da sei immer noch nicht klar gewesen, mit welcher Menge und Wucht das Wasser wo im Kreis hereinbrechen würde. Zwar gibt es auch an den Flüssen im Kreis Pegel, die über den Hochwassermeldedienst NRW abgerufen werden können. Ein Instrument, das auch die Feuerwehr nutzt. Doch dies, so Ramers, sei lediglich eine Momentaufnahme. Eine Prognose, wie man sie vom Rhein oder anderen großen Flüssen kenne, gebe es für Erft, Urft, Olef oder Veybach nicht. Ramers: „Da muss man künftig auch die Bäche und Nebenflüsse der großen Flüsse verstärkt in den Blick nehmen.“
Steinbachtalsperre
Anzeigen sind ebenfalls gegen das Energieunternehmen e-regio als Betreiber der Steinbachtalsperre erstattet worden. Am Donnerstag hat das Unternehmen sich nicht geäußert. Stellung beziehen wollen e-regio und der Wasserversorgungsverband Euskirchen-Swisttal jedoch im Rahmen einer Pressekonferenz an diesem Samstag, 7. August.
Über die Auswirkungen der Katastrophe auf die Steinbachtalsperre und die umliegenden Orte, den Hergang sowie eingeleitete Maßnahmen und den Status Quo werden e-regio-Geschäftsführer Markus Böhm, der Euskirchener Bürgermeister Sacha Reichelt, dessen Swisttaler Kollegin Petra Kalkbrenner und Ingenieur Christian Lorenz informieren. (tom)
Um 21.18 Uhr war dann auch für den Kreis die Situation klar: Über die Apps warnte er nun vor akuter Lebensgefahr, forderte die Menschen auf, sich in höhere Etagen zu begeben, Stromquellen zu meiden und den Notruf nur noch dann zu wählen, wenn Menschenleben in Gefahr seien.
Doch zu diesem Zeitpunkt, so Ramers, seien der Kreis und die Rettungskräfte nicht mehr vor der Lage gewesen, sondern steckten längst selbst mitten in der Katastrophe. Der Ausfall der Mobilfunk- und Telefonnetze sowie des Digitalfunks folgte – und gerade der Verlust der Kommunikationsmittel habe sich katastrophal ausgewirkt.
Sirenenalarm
Warum wurden die Bürger nicht über Sirenenalarm gewarnt? Das, so Martin Fehrmann, sei in Bad Münstereifel, in Schleiden und in Weilerswist geschehen. Das wäre auch in Dahlem möglich gewesen, wo die Lage aber nicht entsprechend gewesen sei. In den übrigen Kommunen gehe der Katastrophenalarm aus technischen Gründen nicht. Hier sei vielerorts Feueralarm ausgelöst worden. Es habe aber auch Lautsprecherwarnungen durch Feuerwehren gegeben.
Das Besondere an dieser Katastrophe machten Jonas und Crespin deutlich: Es gebe Pläne für Katastrophen. Doch was, wenn wie diesmal die Einsatzkräfte und die Stäbe selbst darin stecken?
In dieser Nacht forderte auch die zunehmende Digitalisierung ihren Preis, nicht zuletzt bei den Notrufen. Die Notrufnummer war nicht nur durch die große Zahl der Anrufe überlastet, sondern zeitweise war die Vermittlungsstelle der Telekom überflutet, musste von der Feuerwehr leergepumpt und von Technikern der Kreisverwaltung wieder betriebsbereit gemacht werden. Derweil kämpften Hilfsdienste draußen nicht mehr nur um das Leben anderer, sondern vielfach auch ums eigene.
Welche Konsequenzen sind aus den Geschehnissen zu ziehen? Beim Kreis, bei den Kommunen, beim Land oder Bund?
Es gibt viel zu verbessern
Zu den Aufgaben, so Ramers, zähle ganz sicher der Aufbau eines Frühwarnsystems, wie man es etwa mit dem Hochwasserkompetenzzentrum für den Rhein habe. Auch die verbesserte Alarmierung der Bevölkerung, etwa durch die Reaktivierung des Sirenen-Warnsystems, gehöre dazu. Das Instrumentarium, so Udo Crespin, biete das Modulare Warnsystem (MoWaS) des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz. Das gelte es konsequent auszubauen – bis hin zum Einsatz lokaler Radiosender für konkrete Warnmeldungen an einzelne Ortschaften: „Was noch geht, wenn sonst nichts mehr geht, ist das Radio im Auto.“ Oder das Besetzen der Feuerwehrgerätehäuser als Anlaufpunkte für Bürger. Genauso wichtig sei im Hinblick auf die Bevölkerung die Aufklärungsarbeit. Auch die Ausstattung der Hilfsdienste müsse man im Blick haben. Jonas: „Wer hätte früher gedacht, dass wir mehr Strömungsretter und Boote brauchen?“ Dreh- und Angelpunkt sei aber die Aufgabe, auch bei derartigen Ereignissen die Kommunikation sicherzustellen – und zwar so, dass bei Ausfall des einen Kommunikationsmittels andere, etwa satellitengestützte, zur Verfügung stehen.
Udo Crespin: „Diese Naturgewalten, mit denen wir so erstmalig konfrontiert wurden, waren bisher in den Köpfen der Menschen undenkbar und sind die neue Herausforderung.“ Markus Ramers: „Wir müssen in der Zukunft in anderen Dimensionen denken, nämlich das Undenkbare denken.“