- Wir haben mit zwei Frauen aus dem Kreis Euskirchen gesprochen, die aus medizinischen und psychologischen Gründen keine Maske tragen können.
- Sie berichten von ihrem Alltag voller Anfeindungen, Beleidigungen und Querdenker-Vorwürfen.
Kreis Euskirchen – Die Blicke seien schlimm. „Feindselig, belastend, furchtbar.“ Wenn Tanja Schiffer (Namen der Betroffenen geändert) vor die Tür geht, werde sie „sehr schnell in die Querdenkerschublade gesteckt“, und da gehöre sie ganz gewiss nicht rein.
Tanja Schiffer hat eine Muskelerkrankung, weshalb ihre Atmung erschwert ist. Eine Maske zu tragen, fällt ihr sehr schwer. „FFP2 geht gar nicht, der Widerstand beim Atmen ist zu groß“, so die 45-Jährige. Nur die medizinischen Masken gehen im Notfall – doch Schiffer vermeidet es, sie zu tragen, was konkret bedeutet: Alle Orte, die seit Beginn der Pandemie nur mit Mund-Nasenschutz besucht werden können, insbesondere Geschäfte, hat sie kaum mehr besucht. „Den Großteil aller Besorgungen und Erledigungen übernimmt mein Mann, ich schaff es nicht“, sagt sie. Die meiste Zeit verbringe sie daheim.
In einen Topf mit Verschwörungstheoretikern geworfen
Tatsächlich gibt es Gründe, weshalb Menschen keine Masken tragen können – auch wenn sie deren Nutzen keineswegs in Frage stellen. Doch dank Querdenker-Parolen und dem trickreichen Umgehen der Corona-Schutzverordnung in einschlägigen Kreisen werden echte vulnerable Gruppen in einen Topf geworfen mit Verschwörungstheoretikern und Pandemieleugnern.
Fakt ist: Kaum jemand fragt sich, ob der Mann, der ohne Maske an der Supermarktkasse steht, vielleicht eine schwere Lungenerkrankung hat, oder die junge Frau im Zug an einer Traumafolgestörung leidet, die es ihr nicht ermöglicht, Mund und Nase zu bedecken.
„Die Maskenbefreiung kommt nicht vor in der öffentlichen Wahrnehmung“, meint Beate Werner. Wenn Hinweisschilder zur Maskenpflicht etwa den Zusatz tragen würden, „außer mit ärztlicher Befreiung“, so bliebe die Gruppe der Menschen, die begründet keinen Mund-Nasenschutz tragen, zumindest im Bewusstsein der Bevölkerung.
„Masken lösen bei mir konkrete Erinnerungen an orale Vergewaltigungen aus“
Beate Werners Leben hat sich in besonderer Weise verändert, seit das Coronavirus ausgebrochen ist. „Berührungen am Mund sind für mich nicht zu ertragen. Masken, auch ganz dünne, lösen bei mir konkrete Erinnerungen an orale Vergewaltigungen aus“, sagt sie. Durch die langjährige Missbrauchserfahrung in der Familie ist Beate Werner hochtraumatisiert. „Ich denke, dass Menschen wie ich auch Anspruch auf Rücksichtnahme haben“, sagt sie.
Maskenbefreiung: Ein Attest ist nötig
In der neusten Corona-Schutzverordnung in NRW steht, dass Personen, die aus medizinischen Gründen keine Mund-Nase-Bedeckung tragen können, von der Maskenpflicht ausgenommen sind. Die medizinischen Gründe sind durch ein ärztliches Zeugnis nachzuweisen.
Insbesondere Menschen, die an schwerem Asthma, Herzschwäche, chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) oder bestimmten psychischen Erkrankungen leiden, können sich von der Maskenpflicht befreien lassen. Ein Attest zur Maskenbefreiung berechtigt aber nicht automatisch zur Nutzung aller Angebote, Einrichtungen und Dienstleistungen. Inhaber oder Betreiber können von ihrem Hausrecht Gebrauch machen und den Zutritt oder die Behandlung verweigern.
Sollten Inhaber die Nutzung aufgrund der Befreiung verweigern, rät die Landesregierung unter anderem dazu, die Situation vor Ort zu regeln, in dem Kompromisse gefunden werden. Auch können Betroffene sich an die Landesbehinderten- und -patientenbeauftragten wenden, die zwischen den Beteiligten vermitteln. (hn/jes)
Im Alltag begegne man ihr oftmals mit Aggression. „Ich wurde beim Einkaufen schon angebrüllt – so, als ob ich das Virus im Einkaufskorb mit mir herumtrage. Allerdings habe die Dame sie hinterher nach dem Grund ihrer Maskenlosigkeit gefragt. „Und nachdem ich es ihr erklärt habe, hat sie sich bedankt“, so Werner.
Nicht jeder habe Verständnis für psychische Beeinträchtigungen. Umso schwieriger sei es, die Gründe für ihre attestierte Maskenbefreiung öffentlich machen zu müssen. „Normalerweise würde ich nicht jedem von meinem Trauma erzählen“, so die Kreisbürgerin, die sich anfangs möglichst unauffällig gekleidet hat, um nicht aufzufallen. Mittlerweile gehe sie nur noch in einem einzigen Supermarkt einkaufen, bei dem sie wisse, dass der Marktleiter hinter ihr stehe. „Aus anderen Geschäften wurde ich ein paar Mal rausgeschmissen, trotz des Attests.“
Rausgehen und sich versorgen – das sei mittlerweile „total anstrengend“. Lieferdienste wären nicht die Lösung für alles, sie wohne ländlich, sagt Werner. „Mal abgesehen davon, dass ich nicht nur in meiner Bude hocken kann, zumal ich auch alleine lebe.“
Kreis Euskirchen: Deutlich mehr Anfragen nach Selbsthilfegruppe
Dass die Corona-Pandemie für Menschen mit seelischen und körperlichen Erkrankungen eine besondere Herausforderung ist, ist mittlerweile bekannt. „Viele Menschen sind müde“, weiß auch Nicole Giefer vom Paritätischen Euskirchen. Der Dachverband von 23 sozialen Organisationen mit ihren Einrichtungen und Diensten im Kreisgebiet betreibt auch das Selbsthilfebüro, in dem viele Anfragen auflaufen von Menschen, die in der Pandemie psychisch leiden.
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2020 meldeten sich 517 Menschen, um eine passende Selbsthilfegruppe zu finden. Bis zum 20. Dezember summierten sich die Anfragen 2021 auf 1467 – über die Hälfte hatten thematisch mit psychischen Erkrankungen, Sucht und Lebenskrisen zu tun. Das Thema Corona und damit verbundene Veränderungen spielt eine häufige Rolle. „Allein im Dezember hatten wir im Selbsthilfebüro acht bis zehn Anrufe täglich, die sich um psychische Erkrankungen drehten“, sagt Giefer. Der Bedarf sei spürbar hoch. Gespräche, die sonst zehn bis 15 Minuten dauerten, kämen mittlerweile auf bis zu 60 Minuten Länge.
Auch Tanja Schiffer und Beate Werner sind in Selbsthilfegruppen gegangen, in denen sie offen über ihre Sorgen, Ängste und Nöte sprechen können. „Dort geben wir uns auch Tipps, wo man mit einer Maskenbefreiung im Kreis Euskirchen einkaufen kann“, sagt Werner: „Oder wie man bestenfalls reagiert, wenn mal wieder jemand ausrastet und einen beschimpft.“
Betroffene erleben zum Teil heftige Flashbacks und Panik
Die vom Deutschen Bundestag einberufene Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs ist der Frage nachgegangen, wie es Menschen, die in ihrer Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erlebt haben, mit der Covid-19-Pandemie und den damit verbundenen Kontaktbeschränkungen geht. Im Sommer 2020 nahmen 823 Betroffene an einer Umfrage teil.
Heraus kam, dass Menschen, die mit einer Geschichte von sexualisierter Gewalt leben, in der Pandemie Situationen, die bereits im normalen Alltag spezifische Anstrengungen der Bewältigung abverlangen, nun als noch schwieriger erleben. Heftige Flashbacks und Panik, das Aufflammen alter Ängste, Rückschritte in Bewältigungsprozessen, Gefühle von Kontrollverlust, Hilflosigkeit, Isolation und Einsamkeit – all das gehört für viele zum Alltag.
Was es bedeutet, wenn schützende Maßnahmen traumatische Erinnerungen oder Gefühle hervorrufen, wurde ebenfalls abgefragt. Dabei wurde die Maske von knapp 50 Prozent der Befragten als schützend empfunden. 41 Prozent empfanden sie als irritierend und knapp 37 Prozent als triggernd. „Masken konnten bei jeder Art von sexualisierter Gewalt in der Kindheit zum Problem werden. Dabei ging es sowohl um den Effekt der Vermummung als auch um das erschwerte Atmen, was jeweils im Zusammenhang mit der unterschiedlich erlebten Gewalt stand“, heißt es in dem Bericht der Kommission.
Wenn der Anblick von Menschen mit Masken oder die Verpflichtung, selbst eine zu tragen, als unerträglich empfunden wurde, sahen sich die Befragten in ihrer Bewegungsfreiheit zum Teil sehr eingeschränkt. Für sie wurde es dann schwer bis unmöglich, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. (hn)