Der Marmagener Marzellus Boos will die Erinnerung an die Kriegsgefangenenlager wachhalten, damit Menschen daraus lernen.
GefangenenlagerMarmagener Autor erinnert an ein dunkles Kapitel der Geschichte
Sind es verborgene Schätze oder düstere Geheimnisse? Sollen sie thematisiert oder im Giftschrank der Vergangenheit begraben werden? Für Marzellus Boos war es keine Frage, was mit den undatierten und unkommentierten Fotos geschehen sollte, die er in einem alten Familienalbum fand. Er nutzte sie als Inspiration für eine Kurzgeschichte. Eigentlich gilt Boos primäres Interesse gar nicht einmal der Geschichte seiner Familie oder der Lokalhistorie.
„Ich schreibe am liebsten über Naturbeobachtungen“, betont er. Veröffentlicht werden die Texte in seinem eigenen Mellonia-Verlag. Doch in „Hotdog in Margaux“, einem Band mit Kurzgeschichten ganz verschiedener Art, fand auch die Geschichte Eingang, die sich auf ein besonders dunkles Kapitel der deutschen Vergangenheit bezieht: den Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkriegs.
Die Namen dreier Gefangener im Lager konnte der Autor recherchieren
Bei einem Vortrag in Nettersheim zur Wanderausstellung über die Kriegsgefangenenlager im Kreis Euskirchen gab Boos seiner Geschichte eine größere Öffentlichkeit. Die Fotos, die Boos in dem Album fand, zeigen das Reichsarbeitsdienst-Lager (RAD), das zwischen Hallschlag und Ormont lag. Der Familienbezug? Seine Tante arbeite dort als Küchenhilfe.
Mehrere Aufnahmen zeigen wahrscheinlich Bedienstete, die dort tätig waren. Dass das Lager nach 1941 für die Unterbringung sowjetischer Kriegsgefangener verwendet wurde, ist bekannt. Über das, was in dem Lager vor sich ging, gibt es dagegen nur wenige Unterlagen. Zugeteilt war das Lager der Kommandantur Schleiden.
Zehn Baracken mit jeweils zehn Einheiten zeigt das Übersichtsfoto. Wie viele Gefangene dort untergebracht waren, ist unbekannt. Bei einer Internetrecherche wurde Boos auf einer russischen Seite fündig und konnte so zumindest drei Sowjetbürgern, die den Aufenthalt im Lager nicht überlebten, einen Namen geben: Michail Lazurin, Wassili Stezik und Michail Markov.
Es war ein dürrer Satz in der Hallschlager Dorfchronik, zu deren Veröffentlichung Boos eingeladen war, der ihn auf das Thema brachte. Wie mit den halb verhungerten Gefangenen umgegangen wurde, weiß er von seinem Vater.
Sowjetische Gefangene wurden mit Schlägen durchs Dorf getrieben
Als sie am Hallschlager Bahnhof aus dem Viehwaggon gestolpert seien, mit dem sie gebracht wurden, habe der Überlebenswille sie in die umliegenden Ebereschen getrieben. „Mit ihren Gewehrkolben haben die Wachleute sie aus den Bäumen herausgeprügelt. Am helllichten Tag wurden sie wie Vieh mit Schlägen und Geschrei durch das ganze Dorf, vorbei am Pfarrhaus und der Kirche, zum Russenlager getrieben. So hat es mir mein Vater erzählt“, schreibt Boos.
„Russenlager“, so wurde das ehemalige RAD-Lager im Ort genannt. Boos' Tante kam durch den Reichsarbeitsdienst in das Lager, wo sie in der Küche die dünne Suppe zubereitete. Ihrer Familie gegenüber habe sie nur Andeutungen gemacht. „Wir dürfen den Russen nichts zustecken, denn wir werden dafür streng bestraft“, habe sie gesagt.
Die Tante warf immer ein paar Scheiben Brot über den Zaun
Doch stets habe sie ein, zwei Scheiben Brot mitgenommen, das sie über den Zaun geworfen habe. Dennoch: Viele Fragen zu den Fotos in Boos' Album sind bislang unbeantwortet. Wann wurden sie aufgenommen? Wer und was ist genau zu sehen? Irgendjemand habe sie unsortiert eingeklebt, sagt Boos, Nachkriegsaufnahmen seien mit solchen aus den Kriegszeiten vermischt.
Dass die Bilder zu Zeiten des Kriegsgefangenenlagers aufgenommen worden seien, habe F.A. Heinen bezweifelt, berichtet Boos. Der Autor des Buches „Abgang durch Tod“, in dem die Lager im Kreis Euskirchen und die dort verübten Greuel dokumentiert sind, habe vermutet, dass sie eher eine Feier im RAD-Lager zeigen, da für die Zubereitung der dünnen Suppe nicht mehrere Köche notwendig gewesen seien.
Selbst kleine Gesten der Freundlichkeit seien strafbar gewesen. „Das Regime wollte Rücksichtslosigkeit“, betont Boos. Sein Vater habe von einem der „Nazischinder“ berichtet, dem Lagerkommandanten, der ausgesprochen brutal gegenüber den Gefangenen gewesen sei. Nach dem Krieg sei der spurlos verschwunden. Von dem Lager selbst, das am Ortsausgang von Hallschlag nahe des Bahnübergangs lag, ist nichts mehr zu sehen, es ist im wahrsten Sinne des Wortes Gras darüber gewachsen.
Dennoch stellt Boos klar: „Es ist lohnenswert, in die Vergangenheit zu gucken.“ Derartige Geschichten würden Menschen sozialisieren. „Wenn Geschichten nicht erzählt werden, tragen sie nicht zur Erziehung bei“, betont der ehemalige Lehrer. Wahrscheinlich habe sein Vater genau deswegen seine eigenen Erfahrungen weitergegeben.