Nürburg – Marteria bringt auf den Punkt, was wohl jeder hier auf diesem Festival denkt: „Wir hatten das jetzt zwei Jahre nicht. Das war krank. Ich will, dass wir durchdrehen. Ich will Moshpits. Ich will Stagedives. Ich will Zungenküsse!“ All das wird er bekommen. Die 90.000 Menschen, die zu Rock am Ring gekommen sind, drehen durch. Zweimal musste das Festival am Nürburgring wegen Corona ausfallen.
„Ich habe so unendlich viel nachzuholen“, sagt zum Beispiel Marlene aus dem Saarland. „Aber eigentlich geht das gar nicht. Man kann die letzten zwei Jahre vergessen, aber nicht nachholen“, schiebt sie hinterher und tanzt dann weiter in der Menge zu The Offspring.
Diese Band, die man selbst Mitte der 90er-Jahre auf Kassette (immer nur einer im Freundeskreis hatte die CD, der Rest überspielte sich die Musik auf Kassetten) rauf und runter gehört hat und deren blonder Sänger einem plötzlich so alt vorkommt – bis dann die Erkenntnis einsetzt, dass man leider wohl selber mittlerweile auch so alt ist.
Rock am Ring: Publikum kennt viele Bands aus der Jugend
Mit über 40 bei Rock am Ring zu sein, fühlt sich aber trotzdem nicht falsch an. Im Gegenteil. Der Großteil des Publikums hat The Offspring früher auch auf Kassette gehört. Und auch viele andere Bands hier waren schon in den 90ern und 2000ern groß: Bush, Korn, Deftones, Broilers, Die Kassierer, Weezer, Placebo, Sondaschule und natürlich Green Day, Headliner auf der Hauptbühne am ersten Abend.
Aber auch junge Bands wie The Linda Lindas sind hier, eine absolut sehenswerte Mädchen-Rockband aus Kalifornien. Mädchen ist hier tatsächlich der richtige Begriff, denn die Mitglieder sind zwischen 11 und 17 Jahre alt. Die Band lehnt sich an die femistische Riot-Grrrl-Punkbewegung der 90er-Jahre an, die Gruppen wie Bikini Kill, Le Tigre oder Sleater-Kinney groß gemacht hat. Tatsächlich haben The Linda Lindas schon mit Bikini Kill zusammen gearbeitet. Drei Bühnen gibt es bei Rock am Ring, alle werden jeden Tag parallel ab 14 Uhr bespielt. Wer so viele Bands wie möglich sehen will, braucht Kondition und muss viel laufen: Die Schrittzähler-App zeigt am Ende des Tages 12 Kilometer, Wege zum Campingplatz inklusive.
Mit Krücken auf dem Festival: „Lass ich mir nicht nehmen“
Gut, dass der verletzte Heiko Isele aus Süddeutschland einen Rollstuhl dabei hat. Auf Krücken würde er das alles nicht schaffen. „Ich habe die Karte seit zwei Jahren, das lasse ich mir jetzt nicht von einem Kreuzbandriss nehmen!“, sagt er.
Markus Blumhoff aus Bad Münstereifel hat sein Ticket auch schon seit zwei Jahren zuhause liegen. „Das ist mein Zuhause hier. Ich habe es so vermisst. Selbst wenn das jetzt noch zehn Jahre verschoben worden wäre wegen Corona, ich wäre auf jeden Fall da. Obwohl sich das auch ein bisschen makaber anfühlt nach der Flut im letzten Jahr, jetzt hier so zu feiern. Aber das Leben muss ja weitergehen“, sagt er.
Viele Besucher sind schon am Mittwoch angereist, obwohl die Donots das Festival erst Freitagnachmittag eröffnen. Besondere Überraschung: Die Toten Hosen sind auch dabei, obwohl sie gar nicht angekündigt waren. Und sie covern „Schrei nach Liebe“ von den Ärzten, was selbst für erfahrene Festivalgänger eine Sensation ist. Patrick Pawing und sein Freund Marc aus Düsseldorf zelten bei der Eröffnung auch schon zwei Tage hier. „Rock am Ring war das Einzige, was uns über die Pandemie aufrecht gehalten hat. Hier kommt die Schönheit der Menschen raus“, sagt Marc.
Auch Thorsten Winkel, Dennis Dickmann und Dennis Skade aus Lathen wohnen schon seit Mittwoch im Zelt. Seit 2012 kommen sie jedes Jahr hier her, nur eben nicht die vergangenen zwei Jahre.
Es wirkt ein bisschen so, als wollten alle wenigstens für diese drei Festivaltage die Corona-Pandemie mit all ihren Einschränkungen vergessen. Nur sehr vereinzelt sieht man Menschen, die Maske tragen. Das zu lange vernachlässigte Bedürfnis, anderen Menschen nahe zu sein, mit ihnen zu tanzen, zu singen und zu feiern bricht sich hier mit voller Wucht Bahn. Die Menschen explodieren. Alles, was zwei Jahre lang nicht möglich war, wird jetzt endlich gemacht. Die Leute schreien, springen, grölen, knutschen.
Sehr passend, in dieser Stimmung Arm in Arm den Broilers-Song „Ist da jemand“ mitzuschreien: „Ist da jemand da draußen, der auch so fühlt wie ich?“ Ja. Definitiv.
Jede Menge Bierbecher fliegen über die hüpfende Menge. Ein teurer Spaß, denn auf jedem Becher sind drei Euro Pfand. Viele wissen das wahrscheinlich gar nicht, denn hier läuft alles bargeldlos ab – die Bändchen haben einen Chip, auf den man Geld laden muss. Von dem wird alles abgebucht, was man auf dem Gelände kauft, da kann man schnell mal den Überblick verlieren. Bar bezahlen kann man nur im Lidl, der eigens für Rock am Ring aufgebaut wurde und ein Erlebnis für sich ist. In der riesigen Halle, die jeden Tag von 7 Uhr morgens bis 4 Uhr nachts geöffnet ist, läuft laute Musik und man kann dort nur Dinge kaufen, die man auf einem Festival braucht, zum Beispiel Dosenbier (spezielle Warsteiner-Rock-Edition), Wasser, Gummistiefel, Grillfleisch, Zelte, Schlafsäcke und sogar Salat und Smoothies für den Morgen danach.
Always hardcore: Die Bässe von Scooter spürt man sogar noch außerhalb des Geländes
Es ist der Morgen nach Scooter. Um 0.30 Uhr erscheint die Band, die auf den ersten Blick so gar nicht auf ein Rockfestival passt, aber den Laden so auseinander nehmen wird wie es keine andere Band am ersten Abend geschafft hat. Frontmann H.P. Baxxter, mittlerweile auch schon 58 Jahre alt, sieht mit seinen blonden Stoppelhaaren und dem T-Shirt aus, wie er aussehen muss und liefert, was man von ihm erwartet: Eskalation. Der Auftritt startet mit einer Licht- und Soundexplosion. Im Publikum wehen die Haare. Obwohl man sich auf einem Rockfestival befindet und ergo eigentlich schon an sehr laute Musik gewöhnt ist, zerreißt einem dieser Bass fast den Körper. Baxxter rennt zwischen seinen Tänzerinnen (die zwischendurch auch mal einen Flick-Flack schlagen) über die Bühne, reißt die Arme nach oben, brüllt immer wieder „Base!“, „Wicked!“ und „Hardcore!“ und die Leute rasten aus.
Es drängt sich die Zeile aus dem Hit „Hyper Hyper“ auf, in der gefragt wird: „Are you ready for the Sound of Scooter?“ Und wirklich, wer um diese Zeit nach vielen Bieren und viel lauter Musik nicht mehr ganz so fit ist, den wird dieser Wahnsinn aus Licht, Lautstärke und einem Bass, der ohne Übertreibung auch noch außerhalb des Geländes zu spüren ist, umhauen.
Das hier ist eine Erscheinung, untermalt mit dem sehr passenden Scooter-Song „Always hardcore“. Und sollte man sich tatsächlich vorher gefragt haben, wieso Scooter den ersten Abend eines Rockfestivals beenden kann, ist das die Antwort.
Polizisten und Sanitäter sind zufrieden
Always hardcore, bereit, tagelang nicht zu duschen und bei jeder noch so kleinen Melodie mitzugrölen, so sind die Fans bei Rock am Ring. Der unbedingte Wille zu feiern ist da, aber es bleibt friedlich: Polizisten und Sanitäter zeigten sich in einer ersten Bilanz am Samstag zufrieden. Die Besucher sind es sowieso. Am dritten Tag leiden Kopf, Füße und Stimme bei den meisten doch sehr, aber das tut der Stimmung keinen Abbruch. Und der Regen am letzten Tag: geschenkt. Nach zwei traumhaften Sonnencreme-Tagen ist das für niemanden hier ein Problem. Und es gehört auch irgendwie zu Rock am Ring dazu, wenigstens einmal nass zu werden.