Zum Auftakt der neuen Serie spricht Geriatriechef Sascha Wihstutz vom Sankt-Remigius-Krankenhaus darüber, wie man den Alterungsprozess aufhalten kann.
Leverkusener Altersmediziner im Interview„Anti-Aging beginnt eher im Kopf als bei der Hautcreme“
Ist das Altern eine Krankheit?
Wihstutz: Was Altern genau ist, kann keiner beantworten, weil diese Frage so komplex ist. Es gibt ungefähr 300 Alternstheorien, nicht alle Wissenschaftler sind sich dabei grün. Unglaublich viele Sachen greifen bei diesem Prozess im Körper ineinander. Durch Supercomputer und Künstliche Intelligenz sind wir heute in der Alternsforschung weit gekommen, aber vieles ist immer noch nicht klar. Es gibt Leute, die sagen: Altern ist ein natürlicher Prozess, er und der Tod gehören zum Leben dazu. Es gibt sehr provokante und umstrittene Wissenschaftler – Harvard-Genetiker David Sinclair ist einer von ihnen -, die sagen: Altern ist eine Krankheit und deswegen kann man das genauso behandeln und wir werden uns in die Lage versetzen, irgendwann 200 bis 300 Jahre alt zu werden.
Was heißt denn: altern?
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Es gibt nicht nur einen biologischen Marker, der aussagt, wie alt wir sind. Es gibt viele.
Zum Beispiel?
Es gibt Telomere im Körper, das sind Chromosomen, an deren Enden Schutzkappen sitzen, die werden immer kürzer. Die kann man sich wie Schnürsenkel vorstellen, mit Plastikkappen an beiden Enden. Man kann die Länge messen, je kürzer, desto eher ist die Zelle dem Tod geweiht. Ein zweites Beispiel: Man weiß, dass es einen programmierten Zelltod gibt, die Apoptose. Jeden Tag sterben in unserem Körper Zellen, die nachgebildet werden. Würde der Prozess nicht funktionieren, würden wir nur wenige Jahre nach unserer Geburt sterben, diese Funktion schützt uns. Aber: Als 65-Jährige hat man 20-mal mehr absterbende Zellen als als 30-Jähriger. Das heißt, es entstehen mehr Zellreste, die Entzündungen fördern. Und Entzündungen sind nie gut und lassen einen altern. Je besser es dem Körper gelingt, diese Reste zu beseitigen, umso besser regeneriert man. Pharmafirmen versuchen bereits, sogenannte Senolytika zu entwickeln, also letztendlich Medikamente gegen Alterungsprozesse. Das interessante ist: Der Körper kann das auch selbst und umso besser, je weniger der Darm zu tun hat. Übersetzt heißt das: Unser Nahrungsüberangebot lässt einen altern.
Weniger essen verlangsamt den Alterungsprozess?
Vor allem Intervallfasten. Diese Aktivität, die Zellreste wegzuräumen, fängt nach zwölf Stunden Nüchternheit an, spätestens nach 14 Stunden. Bei einem Intervall von 16 zu 8 (innerhalb eines Zeitfensters von acht Stunden essen, dann eine Pause von 16 Stunden machen, Anm.d.Red.) hat der Körper einige Stunden Zeit, optimal die Zellreste zu beseitigen.
Wie alt können Menschen aktuell werden?
Die älteste Frau, die jemals gelebt hat, war Jeanne Calmant aus der Normandie. Sie ist 1997 im Alter von 120,45 Jahren gestorben. Sie ist der älteste Mensch, von dem wir wissen. Es gibt weltweit immer mehr Hundertjährige. Das war früher ganz anders: Im Mittelalter war die Lebenswartung bei 25, noch Anfang des 20. Jahrhunderts lag der Wert bei 46. Das muss man sich mal vorstellen! Heutzutage liegen wir bei Männern bei knapp 79 und bei Frauen bei knapp 84. Aktuell werden wir durch den Fortschritt der Medizin schon sehr alt und leben lange mit vielen Krankheiten, das gab es so früher nicht, da wären die Menschen einfach früher gestorben. Manchmal stellt sich einem schon die Frage: Ist das immer ein Segen oder nicht manchmal auch ein Fluch? Man will ja gesund alt werden und nicht die lange Krankheitsspanne ausdehnen, aber das tun wir aktuell in der Medizin oft. Wissenschaftler wie David Sinclair wollen vorher ran: In jungen Jahren Prävention betreiben, damit man die Krankheiten im Alter vermeidet. Die Medizin macht aktuell wenig in der Prävention und behandelt nur die Krankheit, wenn sie ausgebrochen ist.
Was kann man tun, um gesund alt zu werden?
Ganz wesentlich ist die Ernährung. Es gibt immer noch Leute in unserem Land, die nicht wissen, dass drei Liter Cola am Tag ungesund sind. Stattdessen gilt: viel Gemüse, Obst, Nüsse, Hülsenfrüchte, Fisch, wenig Zucker, gute Fette. Das Prinzip „Hara Hachi Bu“ befolgen: Das ist japanisch und ist auch als 80-Prozent-Regel bekannt. Also hör auf zu essen, wenn du noch etwas Hunger verspürst und der Magen „zu 80 Prozent gefüllt ist“. Sich übersatt zu essen, ist nicht gesund. Das hat man schon relativ gut herausgefunden. Dieses leicht asketische Leben lässt einen ziemlich alt werden. Zu viel Zucker ist schlecht, Bewegung ist wichtig, pro Woche sollte man mindestens 150 Minuten Sport machen. Ein bisschen ist immer besser als nichts. „Turne bis zur Urne“, „wer rastet, der rostet“ - an diesen Sprüchen ist schon was dran. Das führt auch zu einem geringeren Bauchumfang, denn das dortige viszerale Fett fördert Entzündungen. Genügend Schlaf ist auch wichtig, und was immer vergessen wird, ist: positives Denken. Es gibt nichts, was einen schneller altern lässt, als Depression, Angststörung, pessimistisches Denken. Anti-Aging beginnt also eher im Kopf als bei der Hautcreme.
Welche Rolle spielen die Gene?
Es gibt ein schönes Zitat des Adipositas-Forschers George Bray: „Die Gene laden die Pistole, die Umwelt drückt sie ab.“ Man bringt was mit, das ist gegeben, aber die Umwelteinflüsse entscheiden viel mit.
Ab wann altert man?
Mit der Befruchtung der Eizelle. Aber es gibt die Unterscheidung zwischen Reifung und Seneszenz. Kinder und Jugendliche reifen und wachsen, diesen Prozess hat man bis circa 25. Dann hat man eine Plateauphase bis Anfang 30, da hat man die größte Vitalität, die größte Leistungsfähigkeit im Leben. Wie alt sind die Top-Fußballer? Immer so um die 26, 27, 28 herum. Mit Anfang 30 beginnt spätestens der Alterungsprozess. Im Sommer kam eine neue Studie heraus: Sie hat festgestellt, dass es Alternskipppunkte gibt, zwei Alternsschübe. Den ersten mit ungefähr 44 und den zweiten mit ungefähr 60. Mit Mitte 40 werden die Alkohol- und Fettabbauprozesse schlechter, Herz-Kreislauf-Erkrankungen häufen sich und der Muskelabbau beschleunigt sich. Mit 60 ändert sich der Zuckerstoffwechsel, die Glukosetoleranz wird schlechter, es entsteht häufiger Diabetes. Außerdem verschlechtert sich die Immunregulation, daher hat man in der Coronapandemie auch gesagt: 60 ist so ein Alter, ab dem wir aufpassen müssen, was schwere Verläufe angeht. Die Nierenfunktion wird zudem instabiler und der Muskelabbau beschleunigt in einem Schub nochmals. Sein Gewicht zu halten, wird also spätestens mit 44 schwer und mit 60 nochmal schwerer.
Was ist mit dem gefühlten Alter?
In einer amerikanischen Studie hat man 1979 eine Stadt aus dem Jahr 1959 nachgebaut und ältere Menschen für eine Woche dort leben lassen. Nach dieser Zeit hat man festgestellt, dass sich ihre Beweglichkeit, Sehkraft, Kognition und Ausdauer verbessert hatte. Die Sicht auf das jüngere Selbst, sprich die Selbstwirksamkeitserwartung, also die Erwartung, bestimmte Dinge tun zu können, hat diese positiven Veränderungen hervorgerufen. So nach dem Motto: Ich fühle mich jung, also bin ich es. Viel hängt davon ab, wie ich mich in der Gesellschaft sehe. Wenn mir die Umwelt das Gefühl gibt: Ich bin alt, dann bin ich es auch.
Wie sieht es in der heutigen Gesellschaft aus, welches Standing haben alte Leute?
Unsere Gesellschaft versucht das Alte und den Gedanken an Vergänglichkeit und Tod genauso zu verdammen, wie man es im Mittelalter mit Dämonen und Geistern zu tun pflegte. Für Lebensfreude und Lebensglück ist aber wesentlich, dass wir uns mit dem Tod aussöhnen, ihn als gegeben akzeptieren. Heute liegt der Fokus auf dem Verlust, der mit dem Altern einhergeht. Das Altern wird als Defizit gesehen, man spricht auch von Altersdiskriminierung, „Ageism“. Kabarettist Dieter Hildebrand hat gesagt: „Im Prinzip ist das Altwerden bei uns erlaubt, aber es wird nicht gerne gesehen!“ Es gibt natürlich auch einige positive Altersvorstellungen: Alte sind weise oder patriotisch, so der John-Wayne-Typus, oder es gibt auch die putzige Omi, das geht ins niedliche und naive, wobei sich da auch fragen muss, ob das nicht diskriminierend ist. Aber es gibt eben auch die Zuschreibungen: Starrsinnig, uneinsichtig, stur, unflexibel, schrullig. Eine Lobby haben die Alten jedenfalls nicht, das ist klar. Manchmal nehme ich mir am Wochenende die Zeit, mich hinzusetzen und mit meinen Patienten nicht nur über die Krankheit zu reden, sondern richtig mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Das ist total spannend, was sie erlebt haben. Aber irgendwie habe ich oft das Gefühl, das will keiner mehr hören, selbst in vielen Familien nicht, dass die Enkel sich gar nicht mehr für diese Geschichten interessieren. Das finde ich schade.
„Alt werden in Leverkusen“ - Unsere neue Serie
In einer mehrteiligen Serie beleuchten wir vom „Leverkusener Anzeiger“, wie es ist, in Leverkusen alt zu werden. Weitere Serienteile, die in den kommenden Wochen erscheinen, drehen sich unter anderem darum, wie verkehrssicher es für Senioren bei uns in der Stadt ist, wie wichtig Sport für Senioren ist, welche Geselligkeitsangebote es gibt und wie die Polizei ältere Menschen fit und selbstbewusst machen will.