AboAbonnieren

ProzessRätsel um Bluttat im Leverkusener Obdachlosen-Treff

Lesezeit 4 Minuten
Blick auf den Tagestreff der Caritas in der Schulstraße in Wiesdorf, wo sich am 4. August 2023 eine Bluttat ereignete.

Der Caritas-Tagestreff an der Schulstraße war am 4. August 2023 Schauplatz einer blutigen Attacke. Jetzt wird sie vor dem Landgericht aufgearbeitet.

Ein Kokain-Süchtiger schlitzte seinem Kontrahenten die Halsschlagader auf: Davon ist die Staatsanwaltschaft überzeugt.

Es dürfte schwierig werden, die Bluttat im Caritas-Tagestreff aufzuarbeiten. Denn der Mann, dem dort am Mittag des 4. August 2023 mit einem abgebrochenen Glas die Halsschlagader aufgeschlitzt wurde und der nur knapp überlebte, ist verschwunden. Seit Monaten, das ist die letzte Auskunft einer Betreuerin in der Schulstraße. Nachdem er nach der Not-Operation im Klinikum entlassen worden war, wurde er nicht mehr gesehen.

Auch nicht einfacher wird es für die 17. Große Strafkammer des Kölner Landgerichts dadurch, dass die Polizei ein Tonband gelöscht hat: Die Ermittler hatten ihre Vernehmung des Mannes, den sie eindeutig als Täter identifiziert hatten, aufgenommen. Heute gibt es nur noch die Abschrift dieses Wortprotokolls, mehr nicht.

Augenzeugen gibt es nicht

Allerdings ist der 38 Jahre alte Mann, der am Dienstagmorgen von Polizisten in den Saal 23 des Kölner Gerichtsgebäudes geführt wird, im Prinzip durchaus gesprächig. Nur zu dem tragischen Geschehen am 4. August will er nichts sagen. Und direkte Zeugen der Bluttat im Waschraum des Tagestreffs gibt es nicht. Der Sohn eines Algeriers, der früher als Chemikant bei Bayer arbeitete, und einer Deutschen hat seine ersten Jahre bei der Oma in Algerien verbracht. Erst mit zehn Jahren kam er nach Leverkusen. Die Hauptschule hat der Jugendliche, der als Kind kein Deutsch lernte, nach der 9. Klasse verlassen. Eine Ausbildung hat er nicht gemacht, zunächst hat er ein paar Jahre auf einem Schrottplatz gearbeitet, dann wechselte er für rund zehn Jahre in den Gerüstbau, ging immer wieder auf Montage ins benachbarte Ausland.

Zwischendurch lernte er eine Italienerin kennen – aber nach viereinhalb Jahren sei das auseinander gegangen, berichtet er: Die junge Frau habe Druck von ihrem Vater bekommen. Dem sei es gegen den Strich gegangen, dass sein Vater gläubiger Muslim sei.

Zehn bis 20 Gramm Kokain in großen Dosen

Es dauerte nicht sehr lange, da verlor der junge Mann jeden Halt: Kokain habe sein Leben weitgehend bestimmt, sagt er: „Wenn ich 1200 Euro Lohn kriegte, habe ich 1000 für Kokain ausgegeben.“ Zehn, manchmal 20 Gramm habe er sich besorgt und in großen Dosen konsumiert, teils geschnupft, teils geraucht. Irgendwann habe er auch seine Wohnung in der Windthorststraße verloren, seitdem lebe er meist auf der Straße, oder genauer: „Tagsüber bin ich im Caritas-Treff, nachts schlafe ich im Bunker.“ Das gehe seit rund fünf Jahren so.

Die Drogen sind aber nicht sein einziges Problem. Er habe immer wieder große psychische Probleme, und das auch schon seit Jahren. Er bekommt ein Medikament, und das laufe folgendermaßen: „Wenn's mir nicht gut ging, bin ich nach Langenfeld.“ In der Landesklinik bekomme er seine Arznei gespritzt, bleibe dann zwei, drei Tage. Rund 40 kurze Aufenthalte seien im Lauf der Jahre zusammengekommen.

Mit 16 habe er angefangen zu kiffen, „so eine Tüte am Tag“, erinnert sich der Angeklagte. Nach Jahren des teils heftigen Kokain-Konsums habe er diesen Stoff durch Amphetamin ersetzt. Das habe einerseits ganz gut geklappt, „ich hatte keinen Sucht-Druck mehr“. Aber: Durch die Ersatzdroge bekomme er „Wahnvorstellungen“.

In der Klinik ist er clean

Geholfen habe ihm tatsächlich die Haft seit dem 5. August, erst recht der Aufenthalt in einer geschlossenen Klinik in Essen, wo er seit Februar ist. Seit sieben Monaten „bin ich komplett clean“, versichert der stämmige Mann. Er weiß aber auch, dass die Unterbringung in der Klinik nicht das Leben ist. Trotzdem hat er einen Plan: „Ich würde gerne irgendwas machen, was normal ist.“

Zunehmend nicht normal haben Mitarbeiter des Caritas-Tagestreffs den Mann erlebt. Manche kennen ihn seit Jahren. Anfangs sei er noch freundlich, hilfsbereit und zugänglich gewesen, beschreibt ihn zum Beispiel Michael Bauerdiek, der die Einrichtung derzeit leitet. Spätestens im vorigen Sommer, also kurz vor der Tat, habe er den Deutsch-Algerier „schon ganz anders erlebt“: verbal aggressiv, der Drogenkonsum sei ihm deutlich anzumerken gewesen.

Dass er immer wieder gegen die Hausregel im Tagestreff verstieß und dort konsumierte, habe man jeweils mit kurzen Hausverboten ahnden müssen, so Bauerdiek. Am Tattag sei er erst dazugerufen worden, als zwei Mitarbeiter das schwer verletzte Opfer versorgten. Der Mann war mit seiner offenen Wunde noch die Treppe heraufgekommen, um den Anderen zu verfolgen. Der sei ohne besondere Hast aus dem Haus gegangen.

Einer der Helfer leidet noch heute unter dem schrecklichen Erlebnis am Mittag des 4. August: „Ich dachte, der wird sterben“, berichtet er am Dienstag unter Tränen. Ohnmächtig sei der mit einer Glasscherbe an der Halsschlagader getroffene Mann geworden. Er habe mit aller Kraft die Wunde zugedrückt und gehofft, dass der Notarzt schnell kommt: „Da war so viel Blut.“ Zwei Tage später sei das Opfer noch mal im Tagestreff vorbei gekommen – „ich war glücklich, dass der lebendig vor mir stand“, sagt der Helfer.