Die Kandidierenden im PorträtWer schafft es aus Oberberg nach Berlin?
Lesezeit 10 Minuten
Oberberg – Ein Kreis, vier Abgeordnete? Die letzten Umfragen lassen diesen überraschenden Schluss zu. Aber wer sind die Kandidatinnen und Kandidaten aus der Region? Vor unserer Podiumsdiskussion heute stellen wir sieben im Porträt vor.
Dr. Carsten Brodesser (54) möchte sein Direktmandat verteidigen (CDU)
Es klingt wie ein Mantra. Ein heiliger Vers, den man immer wieder wiederholt, um nur ja nicht vom richtigen Weg abzukommen. „Jede Stimme zählt“, sagt Dr. Carsten Brodesser, wenn man ihn fragt, wie sicher er sei, dass er das Direktmandat für die CDU im Oberbergischen verteidigen kann.
Der Lindlarer – gelernter Diplom-Volkswirt mit einem berufsbegleitend erworbenen Doktor der Mittleren und Neueren Geschichte – spricht davon nicht erst seit gestern und den letzten Umfragen. Schon vorher war dem 54-Jährigen anzumerken, dass er sich zwar nicht so viele Sorgen um sein Mandat macht wie nervösere Kollegen zum Beispiel in der Debatte um eine Kandidatur von Armin Laschet oder Markus Söder. Doch auch er spürte die Erosion in den Umfragen und in der politischen Debatte.
Es passte viel hinein in seine ersten vier Jahre im Bundestag, wo er 2017 relativ geräuschlos die Nachfolge seines CDU-Vorgängers Klaus-Peter Flosbach angetreten hatte, sich – wie Flosbach vor allem der Finanz- und Wirtschaftspolitik widmete, aber auch dem Schutz der Menschenrechte und der Bekämpfung von Fluchtursachen. Die Pandemie und ihre Folgen waren da nur noch das Tüpfelchen auf dem i.
Vor allem Finanz- und Wirtschaftspolitik
Trotzdem hat er, vor seinem Mandat Regionaldirektor und Prokurist bei der LBS, sich schnell zurechtgefunden. Als Berichterstatter der Union ist er zuständig für die Themen Altersvorsorge und Versicherungen. Damit sitzt er an der Schnittstelle zwischen Finanz- und Rentenpolitik.
Dennoch sind es andere Themen, die Spuren hinterlassen bis hinein in seinen Wahlkampf – wie die Folgen des Klimawandels. Brodesser, der verheiratet ist und drei Kinder hat, greift das Thema auf, rückt es mit ins Zentrum der Kampagne. War das mal anders? Ist Schwarz grüner geworden? Er meint nicht: „Der Erhalt der Heimat war doch schon immer unser Thema.“(kmm)
Sabine Grützmacher (35) geht für die Grünen ins Rennen (Bündnis 90/Die Grünen)
25 ist die magische Zahl in Sabine Grützmachers Wahlkampf. Es ist der Platz auf der Landesliste der Grünen, den die 35-Jährige, die in Waldbröl geboren, in Morsbach aufgewachsen und nach einem Studium zur Diplom-Sozialarbeiterin und Diplom-Sozialpädagogin an der Fachhochschule Kiel 2012 in ihre Heimat zurückgekehrt ist und heute in Strombach lebt, sich im April gesichert hat.
Ein Platz, der lange Zeit wie das sichere Ticket in den Bundestag aussah. Dass ausgerechnet sie anders als ihre Vorgänger als Kandidaten so prominent auf der Liste platziert wurde, schiebt inzwischen auch die Geschäftsführerin der VSB gGmbh, eines gemeinnützigen Bildungsträgers mit Angeboten sowohl für Jugendliche, Frauen und Männer als auch für Betriebe und Organisationen, auf reinen Pragmatismus – und ihre Kompetenzen. Schon früh habe sie sich mit der Beantragung von europäischen Fördermitteln für soziale Projekte befasst.
Gegenbild zur klassischen Kandidatin
Sie kennt die Stärken und Schwächen des Fördersystems – eine praktische Erfahrung, die sich offenbar auch andere für die Fraktion wünschen. Derweil bleibt Grützmacher ein Art Gegenbild zur klassischen Kandidatin und zur Kampagne. Sie spricht zum Beispiel nicht gerne laut über ihr persönliches Engagement in der Eifel nach dem Juli-Hochwasser. „Privatsache“ sei das, mehr will sie nicht öffentlich erzählen.
Ein bisschen mehr sagt sie, wie sie 2020 den Brand vor ihrer Haustür auf dem Hömerich erlebt hat: „Wir waren nicht so nah dran, dass wir evakuiert wurden. Aber irgendwann wurde meinem Mann und mir das doch zu heiß und wir haben uns selbst evakuiert.“ Mit magischen Zahlen hat sie es auch nicht. Seit zwei Jahren weist sie jede Spekulation über hohe Umfrageergebnisse zurück. „Schlechte Erfahrungen“, sagt sie dann lächelnd. Zuletzt schien sie damit fast recht zu behalten. (kmm)
Diyar Agu (21) tritt für die Linke und für andere Vermögensverteilung an (Die Linke)
Bereits vor vier Jahren bewarb sich der damals 17-jährige Diyar Agu als bundesweit jüngster Kandidat für einen Sitz im Bundestag. Bei der Kommunalwahl sicherte er sich zumindest schon mal einen Platz im Parlament der Kreisstadt und führt dort die Linke an. Dort scheut er die Konfrontation mit erfahreneren Politikern nicht, um seine Vorstellungen von einer sozial und ökologisch gerechteren Gesellschaft zu verwirklichen.
Schon am Lindengymnasium tat sich der heute 21-Jährige hervor, organisierte etwa ein Konzert zugunsten Geflüchteter. Dass er den Weg in den Bundestag sucht, wunderte seine Schulkameraden nicht. Sein Wirtschaftsingenieursstudium treibt Agu weiter voran. Für Politikwissenschaften habe er sich nie interessiert: „Wir brauchen im Bundestag keine Politikwissenschaftler, sondern Menschen, die ihre Berufserfahrung mitbringen.“
Ein Feuer für Gerechtigkeit
In ihm brenne ein Feuer für Gerechtigkeit, sagt Agu. Da hätten ihn besonders seine Eltern geprägt, die als kurdische Einwanderer nach Deutschland kamen. Mit harter körperlicher Arbeit hätten sie der Familie Wohlstand ermöglicht – und ihn zur Erkenntnis gebracht: „Der massive Wohlstand in unserem Land ist viel zu ungerecht verteilt.“ Die große Koalition habe eine tiefe soziale Spaltung verursacht, ist der Linke überzeugt, der Niedriglöhne, Sozialabbau und Privatisierungen anprangert.
Leiharbeit, die in Oberberg fast doppelt so hoch sei wie im Landesdurchschnitt, ist Agu ein Dorn im Auge: „Die Menschen sind gezwungen von Jobs zu leben, mit denen sie aber kaum über die Runden kommen.“ Der Mindestlohn müsse erhöht, das Kurzarbeitergeld angehoben, Lohndrückerei verboten werden. Denn „die Armut von Eltern ist das größte Hemmnis für die Bildung der Kinder“. (ag)
Bernd Rummler (51) hat sich nicht um einen Listenplatz beworben (AfD)
Ursprünglich, sagt Bernd Rummler, war er mal bei der FDP – nicht nur als Wähler, sondern auch als Parteimitglied. Doch das endete mit der Positionierung der Liberalen zum Euro-Rettungsschirm. „Ich war überhaupt nicht damit einverstanden, wie die FDP damals alle ihre Grundsätze zur Währungspolitik verraten hat“, sagt Rummler heute.
Und wenn er seine eigene Partei schon nicht mehr wählen konnte, trat er konsequenterweise aus und schloss sich der – damals noch von Bernd Lucke geführten – „Alternative für Deutschland“ an. Heute ist der 51-jährige Wahl-Lieberhäuser Vorsitzender der AfD-Fraktion sowohl im Kreistag als auch im Gummersbacher Stadtrat. Bundestagsabgeordneter kann Rummler bei dieser Wahl nur werden, wenn er direkt gewählt wird.
Keine Bewerbung um Reservelistenplatz
Um einen Reservelistenplatz habe er sich nicht beworben, sagt er. Ganz offen fügt er hinzu, dass seine Direktkandidatur vor allem dazu dienen soll, AfD-Positionen bei Podiumsdiskussionen vorzustellen. Politisch positioniert sich der gebürtige Leverkusener, dessen Haus seine Wärme aus einem genossenschaftlich betriebenen Holzhackschnitzel-Heizwerk bezieht, etwa gegen Windräder.
Die, so argumentiert er, seien wie auch Solarstrom nicht grundlastfähig. Statt „politisch-ideologisch“ ein Projekt wie Windenergie zu fördern, müsse man vielmehr auf verschiedenen technologischen Gebieten gleichberechtigt forschen. Ja, Klimawandel finde statt, sagt er, doch die Frage sei, wie viel Anteil der Mensch am Wandel habe.Grundsätzlich sieht Oberbergs AfD-Kandidat seine Partei auf dem richtigen Weg: „Die Grundrichtung der AfD ist meine.“ Auch wenn er manches vielleicht liberaler sehe und er sich über manche Aussage anderer AfD-Vertreter schon mal ärgere. (sül)
Michaela Engelmeier (60) tritt zum fünften Mal für die SPD an (SPD)
Michaela Engelmeier ist als Politikerin in Oberberg längst keine Unbekannte mehr. Seit vielen Jahren ist sie bei der SPD aktiv, seit 2004 unter anderem Mitglied im Kreistag. Von 2013 bis 2017 saß Engelmeier zudem im Bundestag. Danach schaffte sie den Einzug knapp nicht mehr. Bei der Bundestagswahl tritt die 60-Jährige nun erneut als Direktkandidatin der SPD im Oberbergischen Kreis an. Für Engelmeier ist es die fünfte Kandidatur.
Warum sich Michaela Engelmeier das antut? „Weil ich noch nicht fertig geworden bin im Bundestag“, lautet ihre einfache Antwort. Lange Tage mit zahlreichen Terminen machen ihr nichts aus. Die Uhr am Handgelenk zählt die vielen Schritte, die sie täglich absolviert. „Es gibt noch viel zu tun. Ich habe vor, ein Ehrenamtsgesetz auf den Weg zu bringen. Und ich möchte die Entwicklungspolitik weiter vorantreiben. Es gibt so viele Ungerechtigkeiten auf der Welt, gegen die ich angehen möchte. Ich bin eine Kämpferin“, sagt sie.
Frühere Leistungssportlerin
Kämpfen hat die 60-Jährige schon früh gelernt. Die frühere Leistungssportlerin war Mitglied der deutschen Judo-Nationalmannschaft. Im Sport lernte Engelmeier auch, sich als Frau in der Politik durchzusetzen. Dem Sport ist die zweifache Mutter bis heute eng verbunden. Seit dem vergangenen Jahr arbeitet sie als Integrations- und Anti-Rassismusbeauftragte des Landessportbundes NRW. Dass ihr auch diese Thematik besonders wichtig ist, macht sie durch ihr großes Engagements für Israel deutlich. Seit Jahrzehnten kennt sie das Land und lebte während ihres Studiums sogar ein halbes Jahr dort.
Ihre Ablehnung gegen Antisemitismus macht Engelmeier, deren Familie nicht nur 2017 selbst Drohungen aus der rechtsextremistischen Szene erhielt, auch im Wahlkampf deutlich. In Oberberg sagte sie ihre Teilnahme an Podiumskussionen, bei denen auch die AfD anwesend ist, ab. (lth)
Jörg von Polheim (62) will zum zweiten Mal in den Bundestag (FDP)
Von 2012 bis 2013 war der Liberale Jörg von Polheim schon einmal im Deutschen Bundestag. Damals rückte der Hückeswagener nach dem Ausscheiden von Werner Hoyer nach. Jetzt will der Bäckermeister noch mal in den Bundestag einziehen. Über ein Direktmandat dürfte das so gut wie ausgeschlossen sein. Und über die Liste? In Nordrhein-Westfalen steht von Polheim auf Platz 27.
Ob das reicht, werde man nach dem 26. September wissen, sagt der Liberale. Und wer bildet dann die Regierung? Von Polheim liebäugelt durchaus mit einer Deutschland-Koalition aus Union, SPD und FDP. Wohlwissend, dass die CDU derzeit immer mehr an Boden verliert. Für Schwarz-Gelb werde es nicht reichen, vermutet deshalb der Hückeswagener. Wobei ihm diese Farbkombination auch beruflich sehr am Herzen liegt und für die Bäckerei von Polheim steht, die in Hückeswagen beinahe jedes Kind kennt.
Studium und gleichzeitig Ausbildung
Der Familienbetrieb ist 182 Jahre alt. Um ein Haar wäre von Polheim aber „fremd gegangen“, denn nach der Schule studierte der heute 62-Jährige erstmal Bautechnik, machte aber gleichzeitig eine Bäckerlehre. Am Ende überwog der Bäcker in von Polheim und die Tradition war gewahrt.Außergewöhnlich war auch sein Beginn in der Politik. Als der Hückeswagener 1994 erstmals in den Rat der Stadt gewählt wurde, bekam er sofort den Fraktionsvorsitz übertragen. Neben seinem beruflichen und politischen Engagement liegt von Polheim das Ehrenamt am Herzen. So ist er im Vorstand der Bäckerinnung Bergisches Land und darüber hinaus Landesinnungsmeister Rheinland.
Als erster Vorsitzender des ATV Hückeswagen steht von Polheim auch noch an der Spitze eines großen Sportvereins. Als Familienmensch freut er sich, dass drei seiner vier Kinder ihren Lebensmittelpunkt in Hückeswagen haben. (ar)
Christian Abstoß (30) tritt als Kandidat für die Freien Wähler an (Freie Wähler)
Es regnet nicht. Es schüttet. Und trotzdem ist Christian Abstoß (30) kurzärmelig an die Lingesetalsperre gekommen. „Eben war ich noch laufen“, verrät Oberbergs Kandidat für die Freien Wähler und wischt sich dicke Tropfen von der Brille. „Regen macht einem echten Oberberger doch nichts aus.“
Wobei: Er ist nicht nur ein echter Oberberger, sondern vor allem ein echter Marienheider. Seit 2014 sitzt er im Rat seiner Heimatgemeinde, seit 2017 ist Abstoß der Fraktionschef der UWG. Bevor er aber zur UWG gewechselt ist, war der Vertriebsrepräsentant im Außendienst eines Neusser Unternehmens für Dokumenten-Management-Systeme Mitglied der CDU. „Aber die hat mich politisch nicht mehr mitgenommen.“
Christdemokratische Werte sind geblieben
Alte – kommunalpolitische – Wunden will er nicht aufreißen, geblieben sind durchaus christdemokratische Werte. „Als Freie Wähler wollen wir eine neue, starke und vernünftige Mitte bieten.“ Die Zeit der Volksparteien ist für Abstoß ohnehin vorbei. „Das Wort ist verbraucht und es ist Zeit für mehr Demokratie, andere Meinungen, andere Ansätze“, sagt er. Auch mit Blick auf die für einige Wählergemeinschaften so erfolgreichen Kommunalwahlen von 2020.
In seiner Freizeit trainiert der 30-Jährige die B-Jugend des VfL Gummersbach, die in der Handball-Oberliga antritt. „Früher habe ich selbst gespielt – mit wenig Talent, aber viel Ehrgeiz.“ Verheiratet ist er seit zehn Jahren mit Rita, die beiden haben drei Kinder: Hannah (10), Fynn Christian (7) und Lia (3). Und öffnete man jetzt den Kühlschrank der Familie, sähe man darin viel Bergisches, vor allem Käse aus dem Nachbarort Scharde, ausgerechnet vom Schäferhof des Kreisgeschäftsführers der Grünen, Seb Schäfer. „Die Milch ist aber gerade aus“, bedauert der leidenschaftliche Marienheider Abstoß. (höh)
Alle vier Jahre wieder kommt er, der Blick auf das Jahr 1998: Da holte Friedhelm Julius Beucher als erster und bisher einziger Bewerber in 72 Jahren Bundesrepublik das Direktmandat in Oberberg für die SPD. Sonst gewann immer der CDU-Kandidat. Nach 1998 viermal Klaus-Peter Flosbach und zuletzt 2017 Dr. Carsten Brodesser.
Rekordhalter bleibt aber Dr. Horst Waffenschmidt: Von 1972 bis 1998 holte der spätere Staatssekretär beim Innenministerium und Aussiedlerbeauftragter der Bundesregierung sieben Mal das Direktmandat. Neben den hier vorgestellten Kandidaten bewerben sich im Wahlkreis 99 übrigens auch Philipp Ernst Wüster (Die Partei) und Markos Pavlidis (Die Basis) um das Direktmandat. (r)