Ärztepräsident Klaus Reinhardt fordert in diesem Interview, bei der Entscheidung über den Lockdown den Zielwert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen zu überdenken. Außerdem verlangt er, endlich Schutzkonzepte für Risikogruppen umzusetzen. Ein Gespräch über „Querdenker“ unter Ärzten, Impfverweigerer und Herdenimmunität.
Herr Reinhardt, es gibt erste Forderungen, den Lockdown zu verlängern, um die angestrebte Rate von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen zu erreichen. Was halten Sie davon?Klaus Reinhardt: Wir werden erst Anfang Januar sagen können, ob und wie der harte Lockdown gewirkt hat und können erst dann entscheiden, wie es weiter geht. Ob wir uns dabei strikt an der Inzidenz von 50 orientieren, muss man mit Blick auf andere wichtige Faktoren, wie zum Beispiel die psychosozialen Folgen der Schulschließungen, genau abwägen. Unser Ziel muss sein, die Zahl der Neuinfektionen mindestens so sehr zu senken, dass keine Überlastung unseres Gesundheitswesens droht und die Gesundheitsämter wieder in der Lage sind, Infektionsketten nachzuverfolgen und zu unterbrechen.
Was ist notwendig, um nicht von einem Lockdown in den nächsten zu schlittern?
Wir brauchen eine Langfriststrategie zum Schutz der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Die Impfungen sind da ein ganz wesentlicher Baustein. Das muss aber flankiert werden durch bundesweit einheitliche Maßnahmen zur Kontaktminimierung gerade für ältere und vorerkrankte Menschen. Warum ist es so schwer, deutschlandweit feste Senioren-Zeitfenster für Einkäufe im Einzelhandel zu schaffen oder spezielle Terminslots in öffentlichen Einrichtungen?
Sie sprechen vom Beispiel Tübingen?
Ja, dort gibt es zum Beispiel auch Taxitickets für Risikogruppen, damit sie sich nicht in öffentlichen Verkehrsmitteln drängeln müssen. Wir brauchen zudem für alle Menschen, die Pflegebedürftige betreuen oder mit ihnen in Kontakt kommen, also auch für pflegende Angehörige, ausreichende Testmöglichkeiten und Schutzmaterial. Ja, das alles kostet Geld und die Umsetzung ist nicht trivial, aber mit solchen Mitteln können unter Umständen Menschenleben gerettet und Lockdowns verhindert werden. Da wünsche ich mir mehr Kreativität von Ländern und Kommunen.
Die Impfungen gegen Corona sind angelaufen. Werden Sie sich selbst impfen lassen?
Selbstverständlich. Aber auch ich muss natürlich warten, bis ich an der Reihe bin.
Haben Sie Verständnis für Menschen, die ein in Rekordzeit entwickeltes Vakzin mit Skepsis sehen?
Ja, aber für Sorge besteht keinerlei Anlass. Nach allen vorliegenden Daten ist der Impfstoff sicher und wirksam. Gleichwohl muss jeder Mensch für sich selbst entscheiden, ob er eine Impfung in Anspruch nimmt. Deshalb ist es richtig, dass es keine Pflicht gibt. Wir werden sie aber ohnehin nicht brauchen. Denn ich gehe davon aus, dass die jetzigen Umfrageergebnisse zur Impfbereitschaft von der Realität übertroffen werden. Für Geimpfte verliert die Pandemie ihren Schrecken, sie werden sich besser fühlen und entspannter sein. Das wird ansteckend sein, aber im positiven Sinne.
Beim medizinischen Personal gibt es offenbar sogar eine geringere Impfbereitschaft als beim Rest der Bevölkerung. Das irritiert viele Menschen.
Hierzu gibt es sehr unterschiedliche Umfrageergebnisse. Nach einer Mitte Dezember veröffentlichten Studie wollen sich in Deutschland 73 Prozent der Ärzte gegen Sars-CoV-2 impfen lassen. Das sind etwas mehr als in der Gesamtbevölkerung. Genaueres wissen wir erst, wenn sich auch Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen impfen lassen können. Aber Sie können sicher sein, dass die Ärzte sich in Bezug auf Corona ihrer Verantwortung sehr bewusst sind.
Wie gehen die Kammern mit Ärzten um, die sich in der Querdenker-Bewegung engagieren und gegen Impfungen propagieren?
Das ist ein verschwindend geringer Anteil in der Ärzteschaft. Mit den Mitteln des Berufsrechts können wir nicht weltanschauliche Positionen sanktionieren. Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Aber wir können mit diesen Ärzten in den Kammern kollegiale Gespräche führen, sie aufklären und zur Mäßigung mahnen. Allerdings ist eine berufsrechtliche Grenze dann überschritten, wenn Patientinnen und Patienten aufgrund verquaster Weltanschauungen des Arztes Schaden nehmen könnten, zum Beispiel durch Ablehnung anerkannter Hygiene- und Schutzmaßnahmen.
Was passiert dann?
Das wäre ein klarer Verstoß gegen unser Berufsrecht, der Prüfungen und Verfahren der Ärztekammern nach sich ziehen würde. Wir sollten aber den Mut haben, zu differenzieren: Nicht jeder, der die mangelnde Nachhaltigkeit der von der Politik beschlossenen Maßnahmen kritisiert, ist gleich ein Querdenker. Etwas mehr Unaufgeregtheit auf allen Seiten täte uns sicher gut.
Wie lange wird es dauern, bis die Bevölkerung durchgeimpft ist und eine Herdenimmunität erreicht wird.
Das hängt natürlich davon ab, ob ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht. Ausgehend von den vorhandenen Impfkapazitäten müssten wir im dritten Quartal durch sein, also irgendwann zwischen Juni und August.
Wie lange muss es noch Einschränkungen geben?
Solange nicht jeder, der geimpft werden will, ein Vakzin bekommen kann, müssen weiter Schutzregeln eingehalten werden – auch von den Geimpften. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Geimpfte nicht mehr ansteckend sind. Denn in dem Augenblick, wo Antikörper produziert werden, sinkt normalerweise die Infektiosität schlagartig. Doch möglicherweise besteht ein Restrisiko. Hier müssen wir unbedingt weitere wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen.
Und was machen wir dann mit denen, die sich partout nicht impfen lassen wollen?
Sie müssen mit dem Risiko leben, unter Umständen auch schwer an Covid-19 zu erkranken. Sie können die Gesellschaft nicht in Geiselhaft nehmen.
Zur Person
Klaus Reinhardt ist seit Mitte 2019 Präsident der Bundesärztekammer. Daneben arbeitet der Allgemeinmediziner weiter in seiner Hausarztpraxis in Bielefeld.
Welche Veränderungen können Sie sich an der Corona-Warn-App vorstellen?
Eine Schwachstelle ist zum Beispiel, dass positive Testergebnisses von den Nutzern oft nicht weiter gemeldet werden. Das könnte automatisch erfolgen, solange der Nutzer nicht aktiv widerspricht. Das würde schon sehr viel bringen.
Welche Lehren für das Gesundheitswesen kann man schon jetzt aus der Pandemie ziehen?
Wir sehen gerade sehr deutlich, wie wichtig eine flächendeckende ambulante Versorgung und ausreichend Bettenkapazitäten und Personal in den Kliniken sind. Es ist noch gar nicht so lange her, da haben manche selbsternannten Politikberater den Abbau von 30 oder 40 Prozent der Betten gefordert. Das wäre grob fahrlässig.
Allerdings gilt das Krankenhausystem nicht gerade als effizient.
Die Pandemie zeigt, dass wir das Thema Krankenhaus neu denken müssen. Wir brauchen eine bundesweit abgestimmte Klinikplanung und eine länderübergreifende Kooperation. In den vergangenen Monaten ist in dieser Hinsicht schon einiges entstanden, was vorher undenkbar war, denken Sie an das Intensivregister und die Bereitschaft der Kliniken, sich untereinander auszuhelfen. In Zukunft sollte gelten: Wir brauchen nicht überall alles.
Das heißt konkret?
Nicht jedes Krankenhaus muss jede Behandlung anbieten. Wir benötigen spezialisierte, größere Zentren und die Grundversorgung in der Fläche. Das kann dann auch dazu führen, dass einzelne Klinikstandorte zusammengelegt werden, aber eben unterm Strich ohne den Verlust von Betten. Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass angesichts des stetig steigenden Behandlungsbedarfs kein Personal abgebaut wird und das Zusammenlegungen durchaus helfen können, Effizienzreserven zu heben und Ärzte von unnötigen Aufgaben zu entlasten.
Als Schwachpunkt gilt weiter der öffentliche Gesundheitsdienst.
Das ist ein Trauerspiel. Der Bundestag hat gerade von 68 beantragten IT-Stellen für das RKI nur vier bewilligt. Die neuen Mitarbeiter sollten sich auch um die bessere Vernetzung mit den Gesundheitsämtern kümmern. Das wäre enorm wichtig gewesen, weil der schnelle Informationsfluss zwischen den Ämtern Voraussetzung dafür ist, Infektionsketten zu erkennen und zu unterbrechen. Außerdem brauchen wir endlich mehr ärztliches Personal in den Gesundheitsämtern. Das bekommen wir nur, wenn attraktive Arbeitsbedingungen geschaffen werden. Dazu zählt ein Tarifvertrag wie für Mediziner in den Kliniken. Es ist unverantwortlich, dass die kommunalen Arbeitgeber das weiter blockieren.
In der Krankenversicherung wird 2021 ein Loch von 16 Milliarden Euro erwartet, das erst einmal durch Steuermittel und Rücklagen gestopft wird. 2022 drohen dann hohe Beitragsanhebungen. Was sollte die Politik Ihrer Meinung nach tun?
Die neue Regierung ist nicht zu beneiden. Es muss befürchtet werden, dass nach der Wahl von der Politik ein heftiger Kostendruck aufgebaut wird. Sicherlich existieren unverändert ungenutzte Möglichkeiten effizienterer Organisationsformen, etwa auch durch Förderung einer besseren Zusammenarbeit zwischen ambulantem und stationärem Sektor. Aber klar ist doch auch: In einer alternden Gesellschaft wird das Gesundheitswesen nicht ohne einen wachsenden Anteil an Steuermitteln auskommen.