Seit fast einem Jahr hält die Letzte Generation das Land in Atem und polarisiert die Gesellschaft. Die Bewegung braucht immer neue Schlagzeilen – und Mitstreiter. In Aktionstrainings übt sie mit Interessenten deshalb den zivilen Widerstand.
Aktionstraining der „Letzten Generation“So läuft ein Wochenendseminar zum „Gewaltfreien Widerstand“
Der zivile Ungehorsam wird unter einer Lampe in Sonnenform geprobt. Von der Decke hängt eine bunte Girlande, auf eine Wand sind grüne Wiesen und ein Teich mit einem Schwan gemalt. In einer Kita in Hamburg-Altona haben sich rund zwanzig Menschen versammelt, um in einem Aktionstraining der Letzten Generation zu lernen, wie man gewaltfrei Widerstand leistet. Samstags von 10 bis 18 Uhr, Anmeldung per Mail.
160 Mitstreiter im ganzen Land
Die Teilnehmenden wollen wissen, wie das so funktioniert mit dem Protest. Und die Letzte Generation will Menschen finden, die mit ihnen im ganzen Land Straßen blockieren. Acht Trainings finden heute statt, von Freiburg bis Berlin, von Leipzig bis Braunschweig. Rechnet man die Hamburger Teilnehmerinnen und Teilnehmer hoch, machen überall etwa 160 potenzielle Mitstreiter mit.
Nachmittags wird die Praxis für die Straße eingeübt. „Wer möchte sich mal wegtragen lassen?“, fragt die Workshopleiterin in der Kita. Ein halbes Dutzend Hände geht nach oben. Zwei Körperhaltungen gebe es dafür, sagt sie: das „Päckchen“ und den „nassen Sack“. Zusammengekauert mit angezogenen Knien oder flach auf den Boden gelegt. Die zweite Variante macht es Polizisten am schwersten.
Alles zum Thema Letzte Generation
- Revision gescheitert Kölner Gericht bestätigt Strafen für Aktivisten der „Letzten Generation“
- Über 20 Aktionen Prozess gegen 21-jährigen Klima-Aktivist in Essen beginnt
- Solarenergie-Expertin im Interview „Man muss den Menschen durch den Dschungel helfen“
- Geldstrafe statt acht Monate Haft Kölner Aktivistin der „Letzten Generation“ ist nach Urteil erleichtert
- Protest Letzte Generation legt Betrieb an mehreren Flughäfen lahm – Auch Köln-Bonn betroffen
- Strafen und Kontrollen So soll der Flughafen Köln/Bonn vor Blockaden geschützt werden
- Oberstaatsanwalt zeigt Verständnis Geldstrafe für Klimaaktivisten nach Schmierereien an Kölner Uni-Denkmal
Die Teilnehmenden greifen sich unter die Arme, heben einander vom beigefarbenen Wollteppich, lachen. Ein junger Mann fragt kurze Zeit später: „Könntest du mal zeigen, wie man sich anklebt?“
Vorwurf: „Bildung einer kriminellen Vereinigung“
Es sind Szenen, die polarisieren – wie vieles, was die Letzte Generation macht. Viele schütteln energisch mit dem Kopf, wenn sie von Straßensperrungen hören. Andere wenden ein, dass die Klimakatastrophe nun mal mit herkömmlichen politischen Mitteln nicht gestoppt wird. Die Bewegung weiß, dass sie sich aktuell an einem sensiblen Punkt befindet – nach den Flughafenblockaden, der umstrittenen Verzögerung des Rettungswageneinsatzes in Berlin. Zwei Tage später durchsuchen Polizisten elf Wohnungen von Mitgliedern, Vorwurf: „Bildung einer kriminellen Vereinigung“. Die Gruppe wehrt sich, spricht von einem „Einschüchterungsversuch“ und der „Kriminalisierung von friedlichem Protest“.
Die öffentliche Wahrnehmung ist für sie jetzt entscheidend: Werden sie weiterhin abgespeist als „Klimachaoten“ oder gelingt es ihnen, ihre Anhängerschaft zu verbreitern? Ihr Ziel ist klar: die Mitte der Gesellschaft.
Der Kartoffelbreiwurf auf ein Monet-Bild wurde ikonisch
Der allererste Straßenprotest ist bald ein Jahr her. Am 24. Januar blockierten Aktivisten erstmals die A 103 und die A 114 in Berlin. In der Folge besetzten sie Unihörsäle, besprühten Parteizentralen mit Farbe, malten ein Herz aufs Kanzleramt, lösten Feuerwehralarm im Bundestag aus. In Dresden klebten sie sich an Raffaels „Sixtinische Madonna“. Geradezu ikonisch wurde der Kartoffelbreiwurf von Potsdam auf ein Gemälde von Claude Monet im Oktober. Einen Monat später die erste Stürmung eines Flughafenrollfelds in Berlin. Die Letzte Generation selbst siedelt die Zahl der Störungen im mittleren bis höheren dreistelligen Bereich an. Gefühlt wurde es immer radikaler: die Aktionen der Gruppe, die Reaktionen aus der Gesellschaft, die Razzien der Polizei. Genervte Autofahrer zerren die Protestierenden bisweilen eigenhändig vom Asphalt.
Schaukelt sich da gerade etwas hoch? Klar ist, dass die Letzte Generation das Land geprägt hat wie lange keine Protestbewegung vor ihr. Von Fridays for Future redet kaum jemand mehr. Zuletzt führte die öffentliche Diskussion bis hin zur Frage: „Sind wir Terroristen?“
Sonja Manderbach stellt sie selbst – nur rhetorisch – an diesem Samstag in Hamburg, als sie die Geschichte der Bewegung nachzeichnet. Manderbach, 45, Kirchenmusikerin aus Oldenburg, leitet das Training und ist so etwas wie eine Veteranin der Gruppe. Sie war schon bei der allerersten Straßenblockade im Januar in Berlin dabei. Seitdem hat sie sich Dutzende Male festgeklebt.
Ihr Outfit passt zum bunten Kindergartensetting – gelb-grüner Strickschal, eine Filzumhängetasche, orangefarbene Stulpen –, ihre Worte nicht: „Wir appellieren an die Menschen, bitte überfahrt uns nicht. Bisher hat das funktioniert.“ Manderbach steht vor einer Gruppe zumeist junger Leute, viele in Hoodie-Pullover, daneben sind einige Herren mit schütterem Haar dabei.
„Wir dürfen nicht zu Recht ins Gefängnis kommen, sondern nur unschuldig“
Sie erklärt ihnen die Grundsätze: „Wir sind friedlich, aber wir bleiben sitzen und stören. Im zivilen Widerstand halten wir Gewalt aus und wenden keine an.“ Denn, das sei ganz wichtig: „Wir dürfen nicht zu Recht ins Gefängnis kommen, sondern nur unschuldig.“
Haft, Morddrohungen, Gewalt: Kann alles passieren, wenn man sich mit ihnen auf die Straße setzt. In Bayern verbüßen derzeit neun Mitglieder eine mehrwöchige Präventivhaft. Trotzdem bekämen sie immer mehr Zulauf, sagt Manderbach. Sie schätzt die Zahl der Engagierten in Deutschland auf 750. Angefangen haben sie mit nicht mal 30, „ein ganz anderes Level“. Jetzt kommen auch jene zu ihnen, die sich nie politisch engagiert haben.
So wie Johanna, 39, Rechtsanwältin, Mutter einer kleinen Tochter. Neulich stand sie mit anderen Juristen zusammen, „alles reflektierte Menschen“, die hätten aber gesagt, wenn Kunst zerstört werde, höre der Spaß auf. „Ich dachte nur: Was geht ab?“ Jetzt wolle sie einfach mal dabei sein, weil sie es „spannend“ findet und so „disruptiv“: „Machen wir was falsch, macht die Gruppe das Richtige?“ Ihr Mann meint, es sei die falsche Protestform. „Aber sie bewegen was, das kann man nicht wegreden.“ was
Oder Fried, 62, „Opa, drei Kinder, vier Enkelkinder“, so stellt er sich vor. Noch am Morgen habe er einen Brief geschrieben: „Lieber Fiete, zu deinem 18. Geburtstag gratulieren wir dir herzlich.“ Dabei ist sein ältester Enkel erst acht. In zehn Jahren soll er aber wissen: Das hat Opa gegen den Klimakollaps gemacht.
Die Zukunft seiner Enkel und die Wut treiben Fried an
Bis vor drei Jahren hat Fried ein Autohaus geleitet, 30 Jahre war er in der Branche. Dann ist er „von einem auf den anderen Tag“ ausgestiegen. Die Zukunft seiner Enkel treibe ihn an und die Wut – die Politik setze ihre eigenen Klimaziele nicht um. Deshalb will er mit auf die Straße, zunächst in der Hauptstadt. „Wenn ich nach Berlin gehe, riskiere ich, Weihnachten im Knast zu sein.“
Pathetische Geschichten wie die von Fried braucht die Letzte Generation: vom SUV-Verkaufsraum auf den Asphalt. Der Beweis, dass sie auch Menschen von der Gegenseite rüberziehen können.
Es ist eine bunte Gemeinschaft aus Protestanwärterinnen und -anwärtern, die sich in der Kita trifft. IT-Berater sind dabei, Erzieher, Studentinnen. Sie fühlen sich nach eigenen Angaben ohnmächtig angesichts des Klimawandels, sind aber noch keine absoluten Überzeugungstäter wie der harte Kern der Letzten Generation. Sie kommen von außen und stellen Fragen, die sich die Gesellschaft gerade stellt – Sonja Manderbach antwortet geduldig.
Wärmepads an den Händen können helfen
„Was ist eine erfolgreiche Blockade?“ Die mediale Reichweite zähle, nicht, wie viele Autos blockiert wurden. „Ist der Verfassungsschutz eigentlich schon aktiv?“ Nein. „Meine größte Angst ist die Kälte, hält man das ein, zwei Stunden aus?“ Wärmepads an den Händen können helfen.
„Kümmert das die Politiker überhaupt, wenn Menschen sich über uns ärgern?“ Ja, wegen des medialen Wirbels. „Wie erklärst du dir das, dass die Leute so wütend werden?“ Weil ihnen im Unterbewusstsein klar sei, wie ernst die Lage ist. Sie wollen, dass wir aufhören, ein Feueralarm zu sein, sagt Manderbach. Und dann ist da noch die Frage nach dem Ankleben. Manderbach gibt nur allgemeine Tipps: Hände fettfrei halten. Eine Tube pro Hand. Männer mit großen Händen auch mal zwei.
SPD, Grüne – sie lehnen die Methoden ab
Die Letzte Generation ist auf der Suche nach Rückhalt aus der Bevölkerung. Politisch ist dieser nicht in Sicht. Als einzige Partei unterstützt die Linke sie öffentlich. Der SPD-Kanzler, die Grünen, die ihnen ideologisch am nächsten stehen, sie alle lehnen ihre Methoden ab. Die politischen Ziele der Gruppe, die ja angesichts der beklagten Bedrohung eher bescheiden wirken – ein Tempolimit und die dauerhafte Einführung des 9-Euro-Tickets – will die Koalition bislang nicht umsetzen.
Michael Neuber, Protestforscher an der TU Berlin, formuliert es gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) so: „Die Bewegung kämpft damit, die Aufmerksamkeit in einen politischen Diskurs zu verwandeln.“ Derzeit werde nicht darüber gesprochen, was man machen könne, um die Klimaziele schneller zu erreichen. Es sei aber wichtig für die Aktivistinnen und Aktivisten und im Sinne des Instruments des zivilen Ungehorsams, „dass diese Themen in der Demokratie diskutiert werden.“
Tatsächlich trat zuletzt ein anderer Effekt ein: Je aufsehenerregender die Aktionen ausfielen, desto schriller wurde der Diskurs. Markus Lanz geiferte in seiner Sendung gegen eine Sprecherin der Gruppe: „Sie erpressen das Land, das ist Ihnen klar.“ CDU-Chef Merz sprach von „kriminellen Straftätern“. Die Höchstmarke setzte bislang Alexander Dobrindt von der CSU, als er von einer drohenden „Klima-RAF“ sprach.
Je radikaler das Image, desto unattraktiver für die Mehrheit
Der wichtigste Kampf der Gruppe findet längst nicht mehr auf der Straße, sondern in den Medien statt. Es geht um die Deutungshoheit ihres Protests. Nach den jüngsten Hausdurchsuchungen droht sich das Bild weiter zu verschlechtern. Schon zuvor wurden etliche Mitglieder wegen Nötigung zu Geldstrafen verurteilt. Je radikaler ihr Image, desto unattraktiver wird die Letzte Generation für die Mehrheit. In Umfragen vertreten bis zu 86 Prozent die Meinung, dass ihre Aktionen dem Anliegen des Klimaschutzes schadeten.
In der Hamburger Kita üben sie Straßenblockaden. Manderbach will die Gruppe auf den „psychischen Druck“ vorbereiten. Es komme auf den Straßen regelmäßig zur „Entmenschlichung“, wie sie es nennt; Autofahrende, die riefen: „Fahrt einfach drüber, hackt ihnen die Hand ab.“ Auch das hat der Klimaprotest gezeigt: wie gespannt die Nerven der Menschen sind, wie roh der Umgang miteinander sein kann.
Bei Straßenblockaden gibt es deshalb Einsatzkräfte der Gruppe, die emotionalen Beistand leisten. Die Letzte Generation hat sich professionalisiert. In Berlin hat sie Wohnungen angemietet, in denen auswärtige Protestlerinnen und Protestler übernachten können. Es gibt Packlisten für die Straßenblockaden, einen Leitfaden mit Verhaltensregeln für die Zeit in Polizeigewahrsam. Sie sammeln Spenden über Crowdfunding-Kampagnen, bezahlen so Strafgelder; manchen Vollzeitaktivistinnen und -aktivisten finanzieren sie den Lebensunterhalt. Den Großteil ihrer Mittel bekommt die Letzte Generation nach eigenen Angaben vom Climate Emergency Fund, einem Fonds, den die Enkelin des US-amerikanischen Ölmagnaten Jean Paul Getty führt und der bereits 4 Millionen Euro an Klimaschutzprojekte ausgezahlt hat.
Noch wichtiger als das Geld sind für die Gruppe aktuell aber mehr Unterstützerinnen und Unterstützer, nur mit ihnen kann sie den Druck hochhalten. Abschlussrunde in Hamburg. Jeder und jede soll sagen, ob man sich vorstellen könne, mitzumachen. „Ich würde mich gern irgendwo festkleben“, antwortet eine junge Frau, so wie die meisten. Aber es gibt auch Leute, die unsicher sind. Ein Mann mit Bart sagt, er sei am Zweifeln: „Bringt das wirklich was?“ Johanna, die Rechtsanwältin, will sich nicht festkleben, wegen ihrer Tochter. Aber sie könne sich vorstellen, im „Support“ mitzumachen, die Leute vor Ort zu unterstützen. Fried, der geläuterte Autoverkäufer, ist sowieso Feuer und Flamme.
Bevor er geht, holt er noch etwas aus seiner Jacke, ein Abschiedsgeschenk für Sonja Manderbach. Eine Packung Sekundenkleber.