Die Braunkohle-Dörfer, die bleiben dürfen, sind heftig verwaist. Viele der Gebliebenen hadern mit den Aktivisten, die ihre Dörfer zu politischen Symbolen machen
Besuch in den geretteten Dörfern„Die Klimaaktivisten sind Gäste – und von Gästen erwarte ich Respekt“
Und wieder ein neuer Spruch, neben dem Holztor. „Niemand muss Bulle sein!!!“, in weißer Farbe, gleich unter den Fenstern zur Straße. Also zückt Barbara Oberherr ihr Handy und macht ein Foto. Geht ein paar Schritte zurück, damit sie das ganze Haus auf das Bild bekommt. Ein alter Hof, Backstein, die Fenster mit hölzernen Läden verschlossen. Und jetzt „Niemand muss Bulle sein!!!“ darunter. „Das ist einfach eine andere Sprache“, sagt Barbara Oberherr. „Eine Sprache, die nicht unsere ist.“ Mit einem Weltbild dahinter, das auch nicht das ihre ist.
Und so geht die 62-Jährige, grüne Jacke mit braunen Cordrändern, Halstuch mit roten Herzen, wie jeden Tag durch ihren Ort. Und hält fest, was seit der letzten Nacht wieder dazugekommen ist. Ein „Fk the Police“ am Einfamilienhaus im Postweg. Eine aufgestemmte Haustür. Ein aufgedrücktes Fenster in der Holzweilerstraße. „Fuck RWE“ auf den Fensterrrahmen gemalt. „ACAB“, in gelb auf die Fenster gemalt, die englische Abkürzung für „Alle Polizisten sind Bastarde“.
Barbara Oberherr weiß nicht, wer das gewesen ist. Aber sie weiß, dass sich am vergangenen Wochenende Zehntausende Menschen zum Protest gegen das Abbaggern von Lützerath getroffen haben. Und dass es am Rand ihres Dorfes, auf dem Sportplatz, jetzt ein großes Camp der Klimaaktivisten gibt. „Die Klimaaktivisten sind Gäste in unserem Dorf“, sagt sie. „Und von Gästen erwarte ich Respekt.“ Entschieden sagt sie das. So, dass klar ist, dass sie sich wehren will.
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Es geht in dieser Geschichte um einen Konflikt. Den zwischen Dorfbewohnern und Klimaaktivisten. Es geht aber auch ein Gefühl: Das Unwohlsein, sich plötzlich fremd zu fühlen im eigenen Dorf. Den Eindruck zu haben, dass sich andere plötzlich der eigenen Welt bemächtigen. Und es geht um einen Konflikt, der auch innerhalb der Dörfer selbst verläuft, rund um eine offene Frage: Was soll denn nun werden aus den Orten, die der Tagebau nun nicht mehr bedroht?
Selbst der Friedhof von Keyenberg ist fast leer
Keyenberg, nicht weit von Mönchengladbach, das war mal ein Ort von 900 Menschen. Ein Dorf im Schatten des Braunkohletagebaus Garzweiler II, jahrzehntelang auf der Todesliste der Schaufelbagger. Die meisten Bewohner verließen den Ort, beugten sich dem, verkauften, zogen fort, nach Keyenberg (neu), selbst der Friedhof ist fast leer, der Großteil der Gräber umgebettet.
Dann aber, vergangenen Herbst, wurde der Ort Teil eines Deals. Lützerath, der Weiler in der Nähe, sollte der letzte Ort sein, der für die Braunkohle geopfert wird. So vereinbarten es RWE, Landes- und Bundesregierung. Fünf andere Dörfer aber sind dafür gerettet: Kuckum, Oberwestrich, Unterwestrich, Berverath. Und Keyenberg. Aber was heißt schon gerettet, wenn selbst die Toten den Ort verlassen haben?
Ein Haus als Demonstration gegen die Leblosigkeit
Das Haus von Barbara Oberherr an einer der Durchgangsstraße von Keyenberg ist eine Art Demonstration gegen die Leblosigkeit ringsum, gegen von Ruß und Dreck stumpfe Scheiben, heruntergelassene Rollläden, ergraute Fassaden. Bei ihr stehen Blumenkästen auf der Fensterbank, blühen blaue Stiefmütterchen in roten Kübeln neben der Haustür. Daneben ein Schild, „Energiesparer NRW“, wegen der Photovoltaikanlage oben auf ihrem Dach. Viele der verbliebenen Keyenberger seien ihrem Beispiel gefolgt, inzwischen produziert der Ort mehr Strom, als er verbraucht. „Was die Klimabewegung fordert, leben wir längst“, sagt Oberherr. „Wir sind schon einen Schritt weiter.“
Das ist ihr wichtig: Dass sie selbst den Klimaschutz ernst nimmt. Ernster als viele andere. Dass es darum nicht geht. Barbara Oberherr hatte lange Zeit nichts mit dem Widerstand gegen die Braunkohle zu tun. Mit ihrem Mann wohnte sie auf einem Hof in Keyenberg, Familienbesitz seit Generationen. Seit Jahrzehnten im Bewusstsein, dass die Bagger näher kamen. Und mit der vagen Hoffnung, dass sie irgendwann doch stehen bleiben. Bis vor fünf Jahren die Dorfspaziergänge begannen, eine Protestform gegen die Abbaggerung, und sie eine kurze Rede halten sollte. Sie, die nie irgendwo eine Rede gehalten hatte.
Aber dann sagte sie einen Satz, der den Menschen im Gedächtnis bleiben sollte. Und den sie fortan auf vielen Demonstrationen sagte, wie ein Erkennungszeichen: „Ich habe Keyenberg zu retten – und wir alle einen Planeten.“ So wurde Barbara Oberherr zu einem der Köpfe des Widerstands gegen die Braunkohle.
Immer mehr Menschen reisten zu den Protesten an, aus ganz Deutschland, zusammen rangen sie Politik und RWE ihre Dörfer und den früheren Kohleausstieg ab. „Wir sind den Aktivisten dankbar“, sagt Oberherr deshalb auch. Aber die Dankbarkeit, findet sie, hat auch Grenzen. Barbara Oberherr ist die einzige, die sich offen, mit Namen und Gesicht, gegen das Camp in ihrem Ort stellt. Aber sie ist nicht die einzige, die sich daran stört.
Mit ihrer Dörfergemeinschaft Zukunftsdörfer, einer von ihr mitgegründeten Initiative, hat sie eine Art Resolution gegen das Camp der Klimaaktivisten in Keyenberg verfasst. Mit der Gewissheit, in den Dörfern bleiben zu dürfen, könnten sie nun endlich zur Ruhe kommen, heißt es darin. „Wir wehren uns strikt gegen diese Fremdbestimmung.“ Mehr als 100 Unterschriften stehen darunter auf den Zetteln, die Barbara Oberherr auf dem Esstisch in ihrem Haus ausgebreitet hat, alle aus Keyenberg, wie sie versichert.
Sie spreche, so rechnet sie, für 70 Prozent der verbliebenen Keyenberger. Es gibt auch einen offenen Brief, verfasst von, so steht es darin, 45 Menschen aus den „sogenannten Geisterdörfern“, gerichtet an die Stadt Erkelenz und die Polizei.
Um Aktivisten, die in Gärten zelten wollten, geht es darin, um fehlende Toiletten bei Großdemonstrationen und die für alle sichtbaren Folgen, um „vermummte Trupps“, die nachts durch die Dörfer zögen und von Aktivistinnen und Aktivisten, die im Netz und offen gegen Polizei und Staat hetzten. Sie lebten seit langem mit Großdemos und Klimaaktivisten als Nachbarn. „Aber was nun geschieht, hat einen neuen, bedrohlichen und für uns beängstigenden Stand erreicht.“
Sie trauten sich nicht, offen aufzutreten, schreiben sie. Aber wer auf der Straße in Keyenberg fragt, hört zumindest einen ähnlichen Tenor. Ein Bewohner zum Beispiel, der gerade sein Elternhaus ausräumt, zeigt auf das Loch, das er seit ein paar Tagen in der Haustürscheibe klafft, notdürftig verborgen hinter einem gelben Hundewarnschild. „Klimaaktivismus ist ja toll, aber für die Menschen interessieren die sich kein bisschen“, sagt er resigniert.
Essensgruppe, Shit Brigade: Das Camp bei Lützerath war strukturiert
Stimmt das? „Unser aller Camp“ liegt am Rand von Keyenberg, eine Zeltstadt auf dem Sportplatz. Den Zugang überwacht die Polizei aus einem Transporter in Sichtweite. Greta Thunberg wohnte hier, als sie Lützerath besuchte. 1000 Essen haben sie hier in den vergangenen Tagen täglich ausgegeben, ein Hinweis auf die Größe, das Camp ist Sammelpunkt für Unterstützer und Auffangstation für die, die die Polizei aus Lützerath getragen und geführt hat. Das Camp wirkt ähnlich strukturiert, mit Essensgruppe und Shit Brigade, nur ohne Baumhäuser.
Lamin zum Beispiel ist 18, sechs Monate war er zuvor in Lützerath, bis ihn die Polizei aus seinem Baumhaus räumte. „Wir sind traurig, dass der Kampf um Lützerath verloren ist“, sagt er. Aber hier, auf dem Keyenberger Sportplatz, seien zum Glück nun wieder viele zusammengekommen, die „hierarchiefrei und bedürfnisorientiert“ zusammenleben wollten. Wie es für ihn selbst weitergeht? Er wolle sich weiter für Klimagerechtigkeit einsetzen. „Aber ich muss für mich noch entscheiden, wo ich am wirksamsten sein kann, um dem kapitalistischen System den Kampf anzusagen.“
Es ist jedenfalls in jeder Hinsicht ein weiter Weg von Lamin im Zeltcamp bis zu Barbara Oberherrs Esstisch in Keyenberg. Auch wenn gerade nur ein paar Hundert Meter zwischen ihnen liegen. Und die Beschwerden? Davon hätten sie nichts gehört, sagt Florian Özcan, einer der Sprecher des Camps. „Wir wollen einen guten Kontakt zu den Menschen in den Dörfern“, versichert er. Sie würden auf die Menschen zugehen, verspricht er, das sei ihnen wichtig. Er wirkt aufrichtig bestürzt über den Frust in den Dörfern.
Aber klar ist wohl auch, dass bei 1000 Menschen sehr unterschiedliche Menschen aus sehr unterschiedlichen Gruppen in so einem Camp zusammenkommen. „Bitte leise, hier wohnen Menschen“, steht auf einem Schild der Aktivisten auf dem Weg zum Dorf. Es ist in Kniehöhe angebracht, man kann es leicht übersehen. Das Bündnis aus linken Aktivisten und ursprünglichen Bewohnern, die sich selbst als bürgerlich beschreiben, war schon immer ein Kennzeichen des Widerstands gegen den Tagebau.
In Lützerath zum Beispiel hatte der letzte Bauer, Eckhardt Heukamp, mit Grünen oder linkeren Gruppen eigentlich nichts am Hut. Im Schatten des Baggers jedoch fand er auf seiner Wiese mit ihnen doch zusammen. Aber in den fünf Dörfern ist dieser Kampf jetzt gewonnen.
Zwei Gruppen kämpfen auf ihre Art
Im Schatten des Camps ist „Wie hast du's mit den Aktivisten?“ jetzt zur Gretchenfrage von Keyenberg geworden. Seit einem halben Jahr gibt es deshalb neben Barbara Oberherrs „Dörfergemeinschaft Zukunftsdörfer“ noch die „Dörfergemeinschaft KulturEnergie – Dörfer der Zukunft“.
Was nach Monty Python klingt, ist Folge eines tiefen Zerwürfnisses. David Dresen aus Kuckum hat selbst jahrelang gegen die Braunkohle gekämpft, laut ihm vertritt diese zweite Initiative knapp 30 Familien aus den fünf Dörfern. Über den Streit um das Camp in Keyenberg sagt er: Auch wenn es weniger Verunreinigungen als bei Schützenfesten gebe, seien Schmierereien an Hauswänden „einfach unnötig“. Aber er betont auch: „Wir sind der Klimabewegung zu Dankbarkeit verpflichtet, denn ohne ihre Hilfe wären unsere Dörfer niemals gerettet worden.“
Was beide Gruppen unterscheidet, ist ansonsten nicht leicht zu erklären. Barbara Oberherr will ein Dorf, das sich selbst versorgt, ein Musterdorf gegen die Klimakrise, und eine neue Tiny-House-Siedlung als Anziehungspunkt. Die andere Gemeinschaft setzt neben Ökologie auf Kultur. Weit größer als die Unterschiede scheint aber ein gemeinsames Problem: Wie holt man in Dörfer, deren Häuser seit Jahren verlassen sind und verfallen, neue Menschen? Und eine gemeinsame Sorge: Dass sie bei den neuen Plänen nicht gehört werden. Und dass das kommt, was alle nicht wollen: Abriss der meisten Häuser, leblose Gewerbegebiete, Renditeprojekte von Großinvestoren.
Bürgerbeteiligung soll am 2. Februar beginnen
Die Stadt versichert, dass es nicht so kommt. Am 2. Februar soll ein Prozess der Bürgerbeteiligung beginnen, mit einer Versammlung in der Stadthalle. Drei Ideen sollen dort präsentiert werden, Zukunftsmodelle, mehr ist noch nicht bekannt. Die gesamte Bürgerschaft könne sich zur Zukunft der städtischen Flächen äußern und Ideen einbringen, verspricht Bürgermeister Stephan Muckel. Wobei das Problem schon da beginnt, dass die meisten Häuser RWE gehören. Das Camp der Klimaaktivisten jedenfalls ist bislang bis Ende Februar genehmigt. Vorläufig.
Sie wollen, sagen sie, „hier, in dieser Region, weiter für Klimagerechtigkeit in Aktion gehen“. Abends, als es dunkel wird, versperren Polizeitransporter die Kreuzung in Keyenberg. Zuckt Blaulicht zwischen alten Höfen und Fassaden. Schauen Polizisten aus ihren Wagen kleinen Gruppen von Aktivisten nach, die durch den Ort ziehen.
„Das ist der andere Kampf, den wir kämpfen“, sagt Barbara Oberherr in ihrem Haus. Der Kampf, was aus ihrem Dorf wird. Und wer dort bestimmen wird. Vorbei, will sie sagen, ist es noch längst nicht. „Mal sehen, wie lange unsere Kraft reicht.“