Berlin – Der Jubel im Willy-Brandt-Haus ist riesig. Es ist ein besonderer Moment am Sonntagabend um 18 Uhr – nach all den Jahren voller Wahlniederlagen und schlechter Umfragen, in denen die SPD das ausgelassene Feiern fast schon verlernt hatte.
Bei ersten Hochrechnungen sind Zahlen zu sehen, die noch zu Beginn des Sommers kaum ein SPD-Mitglied für möglich gehalten hätte – und Außenstehende erst Recht nicht. Viele Arme in der Parteizentrale werden nach oben gerissen. Bei manchem Jubelnden fällt die Siegerpose so heftig aus, dass Teile des Bauches sichtbar werden – weil das T-Shirt so weit hochrutscht. Es sind so viele Menschen hier an diesem Abend, dass viele auch vor dem Haus feiern – bei Currywurst und Bier.
SPD hat sehr vieles sehr richtig gemacht
Der Erste aus der Parteispitze, der in einem solchen Moment auf dem Platz steht, ist immer der Generalsekretär. „Die SPD ist wieder da“, sagt er im Fernsehinterview. Klingbeils Fernsehbilder werden gefeiert. Auch wenn man im Atrium der Parteizentrale gar nicht verstehen kann, was er sagt. Klingbeil spricht sowohl von einem Wahlerfolg von 400000 SPD-Mitgliedern – das ist seine Botschaft nach innen. Er hat auch eine Botschaft dabei, die sich nach außen richtet. Er sagt, die SPD habe den Auftrag zur Regierungsbildung. „Wir wollen, dass Olaf Scholz Kanzler wird“, sagt Klingbeil.
Die SPD hat in den zurückliegenden Wochen und Monaten sehr vieles sehr richtig gemacht. Der Wahlkampf ist gut gelaufen, außergewöhnlich gut sogar. Es gab keine ernsthaften Pannen oder Schnitzer in der Kampagne, und der Kandidat hat abgeliefert. Das letzte Mal, dass die SPD das von sich behaupten konnte, war 2002. Damals hieß der Spitzenkandidat noch Gerhard Schröder und war Bundeskanzler.
Abwärtstrend ins Gegenteil verkehrt
Scholz wird als vorläufiger Retter der SPD in die Geschichtsbücher eingehen, das hat er jetzt schon sicher. Er hat den Abwärtstrend der Genossen nicht nur gestoppt, sondern ins Gegenteil verkehrt. Die 20,5 Prozent, die Martin Schulz vor vier Jahren geholt hat, scheinen inzwischen sehr weit weg. Die spannende Frage ist nun, ob es Olaf Scholz gelingt, eine Koalition zu schmieden und Kanzler zu werden. Falls ja, müsste der Eintrag in die Geschichtsbücher noch ein bisschen warten.
Hinter den Sozialdemokraten liegt ein unglaubliches Jahr. Bis in den Sommer hinein sah es so aus, als wären sie bei dieser Wahl abgeschrieben. Viele hatten das Gefühl, es gehe für die Partei auf den Abgrund zu. Gleichzeitig fehlte es an Energie, sich gegen den Kanzlerkandidaten oder die Parteispitze aufzulehnen. Und überhaupt: Zu diesem Zeitpunkt hätte auch keiner so gewusst, was da eigentlich noch helfen sollte.
Wenig Nervosität, kein Übermut
Sie waren auf das Schlimmste gefasst – und dann kam alles anders. Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock und Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet machten so viele Fehler, dass Olaf Scholz und die Sozialdemokraten plötzlich zurück im Spiel waren. Erst überholte die SPD die Grünen, dann die Union. Bei den persönlichen Werten überflügelte Scholz die Konkurrenten weit.
Scholz und sein Team sind in schlechten Zeiten nicht übermäßig nervös und in guten Zeiten nicht übermütig geworden. Auch als die Umfragewerte über viele Monate bei etwa 15 Prozent einbetoniert waren, haben sie stets eisern an der Erzählung festgehalten, die Menschen im Land würden sich erst in den Wochen vor der Wahl intensiv damit auseinandersetzen, dass Angela Merkel abtritt. Dann werde Bewegung in die Sache kommen. Damit sollten sie Recht behalten.
Der eine oder andere finde Scholz vielleicht langweilig, hieß es in der SPD immer wieder. Doch das sei nicht entscheidend. Wenn Menschen die Wahl hätten, welcher Pilot in ihrem Flieger am Steuer sitzen solle, würden sie sich für Erfahrung und Kompetenz entscheiden. Das werde den Ausschlag geben.
Eine Partei rauft sich zusammen
Die SPD ist in diesem Wahlkampf so geschlossen aufgetreten, wie man sie seit vielen Jahren nicht mehr kannte. Ausgerechnet Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans – also diejenigen, die Scholz im Kampf um den Parteivorsitz besiegt haben – haben Scholz zum Kandidaten gemacht. Das ist einerseits ein Zeichen dafür, dass die Parteivorsitzenden keine starke Alternative hatten. Andererseits zeigt es aber auch, dass es Scholz und den SPD-Chefs gelungen ist, sich zusammenzuraufen. Geholfen hat dabei, dass die Pandemie Scholz zu einem ausgabefreudigen Finanzminister gemacht hat. Das hatte sich die SPD-Linke immer von ihm gewünscht.
Ihre Geschlossenheit und neue Stärke wird der SPD in dem nun anstehenden Machtpoker um das Kanzleramt helfen. Scholz wird die scheidende Amtsinhaberin Angela Merkel nur beerben können, wenn er eine Mehrheit über Parteigrenzen hinweg hinter sich versammelt.
Lindner fehlt Fantasie für Ampel
Der einfachste Weg ins Kanzleramt würde für Scholz nun über eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP führen. Die Grünen wären schnell mit im Boot, aber FDP-Chef Christian Lindner zeigte sich im Wahlkampf wenig begeistert von der Idee. Ihm fehle die Fantasie, welches Angebot Scholz der FDP denn machen könnte, damit sie in ein solches Bündnis eintritt, hat Lindner wiederholt zu Protokoll gegeben.
Der FDP-Chef schielt stattdessen auf ein Jamaika-Bündnis, also eine Regierung aus Union, FDP und Grünen. Bereits im Vorfeld der Wahl hat Lindner darauf hingewiesen, dass in der Geschichte der Bundesrepublik nicht immer die stärkste Partei die Regierung angeführt hat. Willy Brandt wurde 1969 als Zweitplatzierter Kanzler, Helmut Schmidt 1976 und 1980 ebenfalls.
Reserve-Option GroKo
Die FDP oder die Grünen – eine der Parteien wird über ihren Schatten springen müssen, wenn Ampel-Bündnis oder Jamaika-Koalition Realität werden sollen. Zieren sich beiden zu lange, und käme es deshalb zu einem Patt, gäbe es noch eine dritte Option: Die große Koalition.Das seit acht Jahren regierende Bündnis aus CDU, CSU und SPD war schon oft totgesagt und stand im Wahlkampf lange ohne Umfragemehrheit da. Doch nun würde es rein rechnerisch für eine Fortsetzung reichen.
Die Widerstände gegen die GroKo sind vor allem politischer Natur. Weder Union noch SPD streben eine Neuauflage an. SPD-Vize Kevin Kühnert hat gar mit seinem Rücktritt gedroht, falls es erneut zu Schwarz-Rot kommen sollte. Als „Reserve-Option“ liegt ein solches Bündnis nun aber auf dem Tisch.
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Erledigt hat sich mit dem Wahlabend hingegen die Debatte um R2G, also eine Regierung aus SPD, Grünen und Linkspartei. Scholz hatte ein solches Bündnis ohnehin nicht gewollt und nur aus strategischen Gründen nicht ausgeschlossen. Einerseits wollte er dem linken Parteiflügel der SPD nicht vor den Kopf stoßen. Andererseits hätte die Verhinderung eines Linksbündnisses ein Argument für FDP-Chef Christian Lindner sein können, um die Liberalen in eine Ampel-regierung zu führen. Nun muss es auch ohne die Drohkulisse gehen.
Das Schöne an der Demokratie, so sagte es Scholz beim Wahlkampfabschluss in Köln, sei, dass die Wählerinnen und Wähler entschieden. Das stimmt, es gilt aber nur für das Ergebnis. Jetzt sind die Parteien am Zug.