„Wir werden viel verzeihen müssen“Das sind die zehn größten Fehler der Corona-Politik
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Köln – Fast ein Jahr ist es her, als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bereits ahnte, dass er – wie die gesamte Politik – möglicherweise in einigen Monaten feststellen würde, nicht „in jeder Lage immer richtig“ gelegen zu haben. Es war Ende April, das Corona-Virus war seit genau zwei Monaten in Deutschland nachgewiesen, Großveranstaltungen wurden bereits abgesagt, Bund und Länder standen unmittelbar vor dem ersten Lockdown-Beschluss. Spahn sagte, eine vergleichbare Lage habe es in der Geschichte der Bundesrepublik nie gegeben – weshalb man Fehler einkalkulieren müsse: „Wir werden viel verzeihen müssen“, betonte der Minister mit Blick in die Zukunft. Doch davon abgesehen, dass es sehr wohl frühzeitige Experten-Warnungen vor einer Pandemie durch neuartige Corona-Viren geben könnte - die frühesten bereits Anfang 2013 - und Europa darauf trotzdem schlecht vorbereitet war: Wenn man hinterher immer klüger sein soll, muss man die im Rückblick erkannten Fehler auch benennen. Ein Überblick aus heutiger Sicht:
1. Alltags- und Hygienemasken wurden zu spät eingesetzt
In Asien waren Mund-Nasen-Masken lange vor Corona weit verbreitet, etwa in der Erkältungssaison. Doch deutsche Experten und Politiker führen nach Ausbruch der Epidemie eine lange Debatte über Sinn- und Unsinn von Masken, später über die Machbarkeit von Maskenpflichten. Selbst Charité-Chefvirologe Christian Drosten äußert sich anfangs skeptisch, sodass auch die Politik zweifelt: Sind nicht Abstand und Hygiene viel wichtiger, würden aber vernachlässtigt, wenn man sich durch Masken in falscher Sicherheit wägt? Zudem ist der Markt anfangs leergekauft, sodass unter Medizinpersonal und Risikogruppen bald Maskenmangel herrscht.
Auch die Bundesregierung versäumt es, rechtzeitig ausreichend Masken für Kliniken und Ärzte auf dem Weltmarkt zu sichern. Den Mangel wollen Wissenschaftler und Politiker nicht verstärken – bis zu Weltgesundheitsorganisation und Robert-Koch-Institut, die keinen Nachweis für Infektionsschutz durch Masken sehen. Das hat sich grundlegend geändert: Neuere Übersichtsstudien zeigen, dass Masken die Infektionsrisiken um rund 80 Prozent senken. Brisant: Die Erkenntnisse sind nicht neu. Seit Juni 2020 rät auch die WHO zu Masken, im öffentlichen Raum sind sie nun vielerorts Pflicht. Doch die Anfangsdebatte wirkt nach: Viele Menschen bleiben skeptisch, die Maskenpflichten umstritten – und: Viele Todesfälle wären wohl vermeidbar gewesen, sagen Virologen heute.
Früh ist klar, dass sich vor allem ältere Menschen infizieren – doch kluge Konsequenzen werden daraus nicht gezogen. Die Politik will „die Alten nicht wegsperren“, auch in der Öffentlichkeit wird viel von Solidarität gesprochen und wenig von Schutzkonzepten. Auf massive Corona-Ausbrüche mit vielen Toten in Alten- und Pflegeheimen im Frühjahr 2020 wird reagiert, indem man sie von der Außenwelt isoliert. Es fehlt an Erfahrung mit dem Virus, Schnelltests gibt es noch nicht, aber viel Angst.
In ganz Deutschland reagieren die Politik, aber auch die Heimbetreiber hilflos: mit pauschalten Besuchsverboten. An der hohen Sterblichkeit von Senioren ändert das nichts: Ende 2020 waren 88 Prozent der Corona-Toten über 70 Jahre alt. Ob mit Corona oder aus anderen Gründen: Die Menschen in den Heimen starben ohne Begleitung von Angehörigen. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sagte dazu am Jahresende: „Im Frühling sind viele Menschen allein gestorben, weil die Heime abgeriegelt wurden. Das ist ein Schaden, den wir nicht wiedergutmachen können. Irreparabel. Nicht korrigierbar. Da können wir Verantwortlichen in der Politik die Angehörigen nur um Verzeihung bitten.“
Die magische Zahl der Wochen-Inzidenz von 50 Neuinfektionen, die Bund und Länder lange als Schwelle für Lockdown oder Lockerung sehen, ist nicht erfunden: Sie ist der Schätzwert, wie lange die Gesundheitsämter Infektionsketten noch nachverfolgen können. Und zwar schon seit dem ersten Lockdown. Das heißt: Ein Jahr lang hat wurden die zuständigen Behörden nicht genug gestärkt, um auch höhere Infektionszahlen nachverfolgen zu können. Zwar gibt es längst Meldungen darüber, dass Zusatzpersonal, Freiwillige und Bundeswehrsoldaten die Ämter verstärken – aber anderswo bleiben die Behörden vor Ort überlastet. Zentrale Steuerung gibt es nicht. So bleibt auch unklar, wie die Infektionslage wirklich ist.
Weder Massentests noch Kohortenstudien haben erforscht, wie das Virus die Bevölkerung bereits durchdrungen hat, wer auch ohne Impfung schon immun ist. Besonders bitter: Die Corona-Warn-App wurde nie der erhoffte „Game Changer“, sondern eher ein Rohrkrepierer - trotz 23 Millionen Downloads und 69 Millionen Euro Entwicklungskosten. Ernsthafte Anstrengungen, ihre Fähigkeiten zu erweitern, gibt es nach einigen Nachbesserungen nicht mehr.
4. Vergessenes Risiko der Reise-Rückkehrer
Reisetätigkeit ist der ultimative Pandemietreiber. Ohne Autos, Flugzeuge, Eisenbahnen und Schiffe hätte es das Virus nie in dem Tempo um die ganze Welt geschafft. Insofern ist kaum zu begreifen, wie passiv die Bundesregierung zusah, als sich mit der Aufhebung der weltweiten Reisewarnung am 15. Juni Millionen Deutsche zum Urlaub ins Ausland aufmachten. Das Robert-Koch-Institut hat inzwischen eine Studie vorgelegt, die die Auswirkungen der Reisen auf das Infektionsgeschehen zweifellos belegt.
Zwischen Mai und Juni 2020 waren weniger als zwei Prozent der neuen Corona-Fälle auf eine Infektion im Ausland zurückzuführen. Während der Hauptferienzeit im August schoss der Wert auf 48 Prozent hoch. Die Politik reagierte hektisch und viel zu spät auf das nahende Desaster. Erst am 6. August verkündete Gesundheitsminister Spahn eine Testpflicht für Reiserückkehrer aus Risikogebieten. Bis die Teststrecken an den Flughäfen aufgebaut waren, waren die Ferien vielerorts wieder vorbei – und die Infektionszahlen stiegen.
5. Flatterhafte Krisen-Kommunikation
Das neueste Beispiel stammt aus dieser Woche: Erst vorigen Dienstag verspricht Bundesgesundheitsminister Spahn, dass ab 1. März alle Bürger kostenlose Corona-Schnelltests nutzen können - an diesem Montag wurde diese Erwartung bereits enttäuscht: Nicht umsetzbar, vorerst auf Eis gelegt. Noch enttäuschender läuft das Impfprogramm: Nicht unbedingt, weil es - wie ja zu erwarten war – an Impfstoff mangelt, sondern weil EU-Kommission und Bundesregierung im Dezember mit viel Tamtam den Start der Immunierungen als Anfang vom Ende der Pandemie feierten. Da war die Enttäuschung darüber noch frisch, dass es zu Weihnachten nun doch kaum Lockerungen der Kontaktbeschränkungen gegeben hatte, obwohl das doch zuvor der Anreiz für die Bürger gewesen war, sich im Oktober und November in den „Lockdown light“ zu begeben. Dabei hatte doch Gesundheitsminister Spahn noch am 1. September gesagt: „Man würde mit dem Wissen von heute keinen Einzelhandel mehr schließen. Das wird nicht noch mal passieren.“ Zum Jahreswechsel wurde dann auch der gute Vorsatz gebrochen, die Schulen und Kitas auf keinen Fall wieder so rigoros zu schließen wie im Frühjahr. So hatten es Bund und Länder versprochen - und nun gebrochen. Der Stufenplan für weitere Öffnungsschritte, der auch schon längst vorliegen sollte, fällt in der Liste der Enttäuschungen kaum noch auf. Der eigentliche Fehler: Statt tatsächliche Krisenpläne zu erstellen, bleibt die Politik beim Prinzip Hoffnung - und deren Enttäuschung.
6. Die ewige Kakophonie der Ministerpräsidenten-Konferenz
Weil für den Infektionsschutz überwiegend die Länder zuständig sind, fallen die zentralen Entscheidungen seit Beginn der Krise in der Ministerpräsidenten-Konferenz, die sich regelmäßig mit Kanzlerin Merkel abstimmt. Abgesehen davon, dass die „MPK“ im Grundgesetz gar nicht vorgesehen ist, leidet sie unter drei Problemen: Erstens gibt es zwischen den Treffen keinen Krisenstab, der Entscheidungen vor- oder nachbereitet. Zweitens gab und gibt es widerstreitende Positionen. So präsentierte sich Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) anfangs als Verfechter eines harten Lockdowns; die Gegenposition nahm NRW-Regierungschef Laschet ein – beide konkurrieren um die Kanzlerkandidatur der Union.
Drittens werden mühsam errungene Kompromisse gleich nach Ende der MPK wieder aufgeweicht. Schulschließungen, Bußgeld für Maskenverweigerer, Beherbergungsverbote – oft ist unklar, wo was gilt. So entsteht ein oft chaotisches Bild, das der Akzeptanz der Maßnahmen schadet: egal, wie sie gerade ausfallen.
7. Im Oktober wurde der harte Lockdown versäumt
Am 28. Oktober war das Verhältnis zwischen Merkel und den 16 Ministerpräsidenten auf dem Tiefpunkt: Eine Beschlussvorlage des Kanzleramtes sprach vom „schrittweisen Herunterfahren des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens“. Das gefiel vielen Länderchefs gar nicht. Insbesondere Thüringens Bodo Ramelow (Linke) kritisierte „besonders eingriffsintensive Maßnahmen“ und stellte fest: „Ich bin keine nachgeordnete Behörde des Kanzleramtes.“
Der Grüne Winfried Kretschmann in Stuttgart fühlt sich an die Beschlüsse nicht gebunden; etliche weitere Regierungschefs nicht schon wieder flächendeckend Einzelhandel, Kitas und Schulen schließen. Gemeinsam verhinderten sie einen Herbst-Lockdown mit Auflagen wie im Frühjahr. Doch schon Anfang Januar sagte derselbe Ramelow, er habe noch am selben Tag erschrocken festgestellt, dass die Infektionszahl allein in Thüringen binnen 24 Stunden um rund 400 gestiegen sei, und schloss: „Die Kanzlerin hatte Recht, und ich hatte Unrecht.“ Rückblickend findet nicht allein er, man hätte schon im Herbst entschlossener handeln müssen und nicht erst Mitte Dezember.
8. Die Planlosigkeit bei den Schulen
Es dürfte kaum einen Bildungspolitiker in Deutschland geben, der nicht zugeben würde, dass die Schulen auf eine Pandemie schlecht vorbereitet waren. Beim Thema digitale Schule hinkt Deutschland um Jahre hinterher. Doch auch als die Krise da war, hat die Politik das Tempo zu wenig erhöht. Die Milliarden aus dem Digitalpakt Schule kommen nur schleppend bei den Schulen an. Generell ist es 2020 nur unzureichend gelungen, in Sachen Schule und Corona vorauszuplanen: Das hat auch mit dem Bildungsföderalismus zu tun, bei dem sich immer erst 16 Ministerpräsidenten und Kultusminister verständigen müssen. Ferien verschieben? Der Gedanke kam immer zu spät. Lehrer in den Sommerferien verpflichtend im digitalen Unterrichten fortbilden? Schade, es gab nicht ausreichend Angebote. Lehrer, Schüler und Eltern erfuhren oft sehr kurzfristig, wie es an den Schulen weitergeht – oder eben nicht. Die Situation wäre für Familien in jedem Fall schwierig geworden. So war aber kaum berechenbar, wann sie wie schwierig sein würde.
9. Verschleppte Wirtschaftshilfen
Zugegeben: es ist keine kleine Aufgabe, ganze Wirtschaftszweige über Monate mit Staatsmitteln am Leben zu erhalten. Man benötigt viel Geld, klare Regeln, eine funktionierende Verwaltung. Ersteres hat die Politik schnell zur Verfügung gestellt. Doch am Rest haperte es. Die vollmundige Ankündigung aus dem Oktober, den vom Lockdown betroffenen Unternehmen schnell und unbürokratisch zu helfen, konnte Wirtschaftsminister Peter Altmaier nicht einhalten – im Gegenteil. Noch heute warten viele Unternehmen auf Auszahlung der „Novemberhilfe“, von den beantragten 5,2 Milliarden Euro wurden 1,4 Milliarden noch nicht überwiesen.
Für den Monat Dezember stehen noch Zahlungen in Höhe von rund 2 Milliarden Euro aus. Die Überbrückungshilfe für den Januar kann erst seit Mitte Februar beantragt. Der Ärger in der Wirtschaft ist riesig – und Altmaier steht unter Beschuss. Inzwischen hat sich der Minister für die schleppende Auszahlung entschuldigt. In der vergangenen Woche lud er außerdem zu einem Corona-Wirtschaftsgipfelein, die Gemüter zu beruhigen.
10. Impfstoff zu zögerlich bestellt, zugleich die Hoffnung auf den Impfstoff zu hoch geschraubt
Wo Angebot und Nachfrage regieren, kann eine hohe Nachfrage auch das Angebot erhöhen. Was den Impfstoff angeht: Hätten die Erfinder mit den Impfstoff-Lizenzen sich sicher ein können, dass sie das bezahlt bekommen, hätten sie ihre Produktionskapazitäten sicher früher erhöht. Doch während etwa die USA bei den Bestellungen klotzten und versuchten, bei jedem potenziellen Hersteller genug zum Durchimpfen der Bevölkerung zu bestellen, übte sich die Europäische Union in Bescheidenheit - Motto: Ist ja eh noch nicht so genug Impfstoff produziert, Nachbestellen geht ja immer. Dabei hätte man dem Mangel womöglich vorbeugen können, indem man frühzeitig Staatsgeld in den Aufbau von Produktionskapazitäten steckt - angesichts der Milliardenkosten für den Lockdown eine gute Investition. Das räumte inzwischen auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ein. Ergo: Die europäische Zögerlichkeit - hier Skepsis wegen des Preises, dort wegen der Logistik einzelner Vakzine, dazu etwas Standortpolitik - rächt sich in diesem Fall.