Berlin – Impfstoffe sind derzeit Mangelware, Millionen Menschen stehen in Deutschland auf Wartelisten. Doch schon in wenigen Wochen könnte sich das Bild verkehren: Aber was passiert, wenn alle geimpft sind, die wollen? Ist Herdenimmunität noch realistisch?
„Schluss mit Biowaffen“ steht auf einem Pappschild, das sich ein Mann vor dem Museum Fridericianum in Kassel umgehängt hat. Darunter prangen die Worte „Stoppt die unerprobte Gen-Impfung“. Blaue Outdoorjacke, lange Haare, der Mann würde in einem Berliner Biomarkt nicht weiter auffallen. Doch er ist einer von rund 20.000 selbsternannten „Querdenkern“, die vor einigen Wochen in Kassel gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen demonstriert haben. Und vor allem gegen die Impfungen.
Radikale Impfgegner mit Einfluss
„Sollen sie sich halt nicht impfen lassen“, meinen entspannte Beobachter achselzuckend. „Wer die Impfung verweigert gefährdet potenziell auch andere“, schimpfen diejenigen, die diese Pandemie endlich hinter sich lassen wollen. Aber ist das eine oder andere überhaupt entscheidend?
Richtig ist: Die radikalen Impfgegner sind eine absolute Minderheit. Doch sie haben Einfluss. Sie tragen mit Falschmeldungen und Verschwörungserzählungen dazu bei, dass die Skepsis gegenüber den in Rekordtempo entwickelten Corona-Impfstoffen in der Bevölkerung weit verbreitet ist. Auch die lebensgefährlichen Thrombosen nach der Impfung mit dem Vakzin des britischen Herstellers Astrazeneca sind nur extrem vereinzelt aufgetreten. Doch das Phänomen überhaupt und das anschließende Durcheinander bei den Empfehlungen für oder gegen diesen Impfstoff hat nicht gerade zur Vertrauensbildung beigetragen. Doch damit ist ein Ziel gefährdet, dass das Ende der Pandemie und eine Rückkehr zur Normalität verspricht: das Erreichen der sogenannten Herdenimmunität.
Durch Herdenimmunität werden nicht nur Geimpfte geschützt
Das Modell geht davon aus, dass die Ausbreitung eines Virus dann gestoppt wird, wenn es nicht mehr genug infizierbare Wirte findet. Die Immunität kann dabei durch eine Impfung oder eine durchgemachte Erkrankung entstehen. Positiver Nebeneffekt: Durch die Herdenimmunität werden auch diejenigen geschützt, für die es keine Impfstoffe gibt oder die wegen Vorerkrankungen nicht geimpft werden können. Denn die Immunen bauen so etwas wie eine schützende Mauer um sie herum.
Wann genau die Herdenimmunität entsteht, hängt direkt davon ab, wie ansteckend ein Virus ist. Das wird in der Wissenschaft mit der Basisreproduktionszahl R0 beschrieben. Je leichter sich das Virus verbreitet, desto mehr Menschen müssen immun sein, um den Schutzeffekt zu erzielen.Einer der Spitzenreiter in Sachen Verbreitung ist das Masernvirus mit einem R0 von bis zu 18: Ein Infizierter steckt also im Schnitt 18 andere Menschen an. Daraus lässt sich mit einer Formel errechnen, dass die Herdenimmunität erst dann erreicht ist, wenn 95 Prozent der Bevölkerung immun sind.
Rund 65 Millionen Geimpfte in Deutschland benötigt
Der Wildtyp von Sars-Cov2 hat eine vergleichsweise kleine Reproduktionszahl von 3. Deshalb war am Anfang der Pandemie stets davon die Rede, dass für eine Herdenimmunität 67 Prozent der Bevölkerung genesen oder geimpft sein müssen. Inzwischen ist in Deutschland allerdings die zuerst in Großbritannien entdeckte Virusvariante Alpha dominant. Sie ist mit einem R0-Wert von rund 6 deutlich ansteckender als der Wildtyp. Deshalb steigt auch der Immunitätsschwellenwert; er liegt nun bei etwa 85 Prozent. Das heißt: In Deutschland müssten rund 70 Millionen Menschen immun sein, also geimpft oder genesen, damit von Herdenimmunität die Rede sein kann. Die Zahl der Genesenen gibt das Robert-Koch-Institut (RKI) mit rund 3,5 Millionen an, wobei ihre Zahl wegen vieler unerkannter Infektionen erheblich höher sein dürfte. Bleibt man aber bei den offiziellen Zahlen, müssen sich in Deutschland also rund 65 Millionen Menschen impfen lassen.
Wird es genügend Menschen geben, die dazu bereit sind? Und wird Herdenimmunität überhaupt noch angestrebt? Es ist auf jeden Fall eine Herausforderung – auch dann, wenn immer mehr Impfstoff zur Verfügung steht. Was auch in Deutschland passieren könnte, zeigt ein Blick in die USA. Dort ist Impfstoff im Überfluss vorhanden – doch die Impfkampagne verliert an Tempo: Die Zahl der täglich verabreichten Spritzen ist von 3,3 Millionen im April auf unter 1,8 Millionen gefallen. Experten räumen inzwischen offen ein, dass die USA auf diese Weise die angestrebte Herdenimmunität zu verfehlen drohen.
USA locken Bürger mit Anreizen zur Impfung
Deshalb greifen Politiker dort zu ungewöhnlichen Mitteln. So hat Gouverneur Mike DeWine im Bundesstaat Ohio angesichts sinkender Impfzahlen vor zwei Wochen eine große Lotterie gestartet, an der sich alle Einwohnerinnen und Einwohner des Bundesstaats beteiligen können, die zumindest eine Spritze gegen Covid-19 erhalten haben. Für die erste Ziehung haben sich 2,7 Millionen Menschen registriert. Gewinner oder Gewinnerin kassiert eine Million Dollar. „Ich weiß, dass einige sagen: „DeWine, du bist verrückt. Das ist Geldverschwendung„“, sagt der Republikaner. „Aber die wirkliche Geldverschwendung ist die Pandemie.“
Innerhalb kurzer Zeit hat DeWine einen Trend gesetzt. Schon länger werden US-Amerikaner mit Einkaufsgutscheinen, Sporttickets, U-Bahn-Karten oder Freibier für die Bereitschaft belohnt, sich immunisieren zu lassen. Nach Ohio hat auch Oregon eine Millionenlotterie gestartet. In Maryland kann man immerhin 400 000 Dollar gewinnen. In New York schlummern sagenhafte 5 Millionen Dollar im Jackpot. Am Montag kündigte die Fluggesellschaft United an, dass sie unter ihren geimpften Kunden fünf Jahrestickets für jeweils 26 Trips zu beliebigen Zielen verlost.
Werbekampagnen statt Lotterien in Deutschland
Wie erfolgreich die Werbeaktionen tatsächlich sind, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen. Experten glauben, dass man überzeugte Impfgegner kaum umstimmen kann, sondern sie durch die Kommerzialisierung in ihrer Haltung eher noch bestärkt. Aber Menschen mit einer abwartenden Haltung könnten laut Umfragen motiviert werden, sich immunisieren zu lassen. In Ohio, wo die Zahl der Impfungen in der zweiten Maiwoche um ein Viertel eingebrochen war, legte sie in der Woche nach dem Start der Lotterie um 28 Prozent zu. Inzwischen zeigt sie eine ganz leichte Abwärtstendenz.
Im Berliner Bundesgesundheitsministerium wird genau beobachtet, was in den USA passiert. An Lotterien denkt hier keiner. Aber es wird zumindest daran gearbeitet, weitere Werbekampagnen für das Impfen zu starten, wenn sich im Sommer trotz des steigenden Angebots die Nachfrage abflachen sollte. Auffällig aber ist: Das Ziel der Herdenimmunität scheint man im Ministerium aufgegeben zu haben. Das wird zwar nicht laut gesagt, doch Minister Jens Spahn hat sich schon lange nicht mehr dazu geäußert.
Noch ein weiter Weg zur Immunität
Warum, zeigt eine Überschlagsrechnung mit Zahlen, die das Gesundheitsministerium in seinem jüngsten „Bericht zum Stand der Covid-19-Impfkampagne“ verwendet hat. Darin schätzt das Ministerium die Impfbereitschaft bei den Erwachsenen über 18 Jahre (68,5 Millionen Menschen) auf 75 Prozent; das wären dann etwa 51 Millionen Impfwillige. Bei den Jugendlichen zwischen 12 und 18 (5,3 Millionen) erwartet das Ministerium eine Rate von 60 Prozent, also 3,2 Millionen Impfbereite. Für Kinder unter 12 (9,2 Millionen) gibt es bisher keinen zugelassenen Impfstoff.
Es bleibt also bei knapp 55 Millionen Impfwilligen, was zusammen mit den Genesenen eine Immunitätsrate von etwas über 70 Prozent ergibt – weit entfernt von den erforderlichen 85 Prozent zum Erreichen der Herdenimmunität.
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Eine Impfpflicht schließt Spahn gleichwohl weiterhin kategorisch aus und verweist auf das Ende November 2020 im Bundestag von ihm gegebene Versprechen: „Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben.“ Auch Belohnungen jeglicher Art für den Piks lehnt Spahn ab. „Dann haben wir sofort eine Neiddebatte am Hals, weil sich diejenigen beschweren, die schon geimpft sind“, heißt es dazu im Ministerium.
Wird die Pandemie also unter diesen Umständen nie zu Ende gehen? Wissenschaftler wie der Virologe Christian Drosten oder RKI-Chef Lothar Wieler haben mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass die Herdenimmunität nicht schlagartig erreicht wird, sondern schrittweise. Sie verweisen auf Erkenntnisse aus Israel, Großbritannien und den USA: Dort ist die Zahl der Infektionen und der Krankenhausaufnahmen parallel zum Impffortschritt gesunken.
Vorbereitungen für Auffrischungsimpfungen laufen
Auch in Deutschland wird die aktuelle Entspannung zum Großteil auf die wachsende Zahl von Geimpften zurückgeführt. Mit anderen Worten: Jeder Geimpfte ist ein Gewinn. Aber das Erreichen der vollen Herdenimmunität ist keine Voraussetzung dafür, die Pandemie in den Griff zu bekommen. In der Bundesregierung heißt es daher auch, es werde keinen „Big Bang“ geben, zu dem man allein wegen des Impffortschritts die Pandemie für beendet erklären könne. Maßstab würden weiterhin die Infektionsrate und die Auslastung der Kliniken sein.“ Dieses Virus wird nicht mehr verschwinden“, hat RKI-Chef Wieler schon oft gesagt.
Im Gesundheitsministerium laufen längst die Vorbereitungen für Auffrischungsimpfungen in den Jahren 2022 und 2023. Dafür hat sich Deutschland allein vom Hersteller Biontech 330 Millionen Impfdosen gesichert. Zudem werden bereits Studien zur Impfung von Kindern im Alter von sechs Monaten bis elf Jahren durchgeführt. Vielleicht wird die Herdenimmunität dann doch irgendwann erreicht – was dann, ganz solidarisch, auch den Impfgegnern zugute käme.