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Corona, Lehrermangel, Geflüchtete„Das System Schule steht massiv unter Stress“

Lesezeit 8 Minuten
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Karin Prien im Dezember 2021

  1. Deutschland steht vor der Herausforderung, die geflüchteten Kinder aus der Ukraine in den Schulen zu integrieren.
  2. Corona stellt die Schulen nach wie vor vor andauernde Schwierigkeiten.
  3. Über diese und weitere Themen spricht die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Bildungsministerin in Schleswig-Holstein, Karin Prien (CDU), im Interview.

Frau Prien, die Corona-Pandemie hat Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern sowie Eltern viel abverlangt. Jetzt kommt mit der Integration der Geflüchteten aus der Ukraine schon die nächste Herausforderung. Sind die Schulen darauf gut genug vorbereitet?Karin Prien: Das System Schule steht noch immer massiv unter Stress. Die Corona-Pandemie ist noch nicht vorbei. Wir gehen gerade Schritte in Richtung Normalität. Die Herausforderung, viele junge Menschen aus der Ukraine zu integrieren, kommt auf die bisherigen Aufgaben obendrauf. Weder die Politik noch die Schule kann sich ihre Herausforderungen aussuchen.

Sie sind Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Mit wie vielen geflüchteten Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine rechnen Sie deutschlandweit?

Prognosen sind schwierig. Die Bundesregierung geht davon aus, dass eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland kommen könnte. Davon werden sicherlich 40 Prozent Schülerinnen und Schüler sein. Das wären dann bis zu 400.000 junge Menschen, denen wir im deutschen Schulsystem erst einmal gerecht werden müssen. Das ist eine Größenordnung, auf die wir uns – bei allen Unsicherheiten – erst einmal einstellen müssen.

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Wie viele Lehrerinnen und Lehrer bräuchte man dann zusätzlich?

Wir rechnen, dass man ungefähr 60 Lehrkräfte pro 1000 Schüler braucht. Für 400.000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine bräuchten wir also 24.000 Lehrer. Jedenfalls, wenn man im Bereich der Willkommensklassen weiter mit kleinen Gruppengrößen arbeitet.

Diese Lehrkräfte gibt es doch gar nicht. Es gibt schon jetzt gravierenden Lehrermangel.

Seit 2015 haben wir sehr viele Lehrkräfte ausgebildet, die Deutsch als Zweitsprache unterrichten. Hier können wir noch zusätzliche Ressourcen gewinnen. Wir müssen zum Beispiel dafür werben, dass Teilzeitkräfte mit höheren Stundenzahlen arbeiten. Wir müssen Seniorlehrkräfte oder Pensionäre gewinnen, damit sie zeitweise zurück in die Schulen kommen. Studierende sollen Praktika machen. Und wir wollen Lehrkräfte einbinden, die selbst aus der Ukraine geflüchtet sind.

Was erwarten Sie sich davon?

Die ukrainischen Lehrkräfte sind ideal geeignet, Kinder und Jugendliche aus ihren Ländern in Willkommensklassen zu betreuen. Wer könnte es besser schaffen, für die jungen Menschen in der traumatischen Situation der Flucht eine Ansprechperson zu sein? Wir vergeben jetzt befristete Verträge und müssen flexibler als sonst sein, indem wir im Ausnahmefall auf Deutschkenntnisse verzichten.

Über welche Größenordnung reden wir?

Die großen Ballungsräume wie Berlin oder Hamburg werden sicher einige Hundert ukrainische Lehrkräfte anziehen können. In Schleswig-Holstein sind wir froh, dass wir inzwischen über 60 Bewerbungen haben.

Die Ukraine hat klargemacht: Aus ihrer Sicht sind die Kinder nur zum Übergang hier und sollten möglichst sogar nach ukrainischem Lehrplan unterrichtet werden. Bekommen wir so eine gelungene Integration hin?

Nein, das funktioniert so nicht. Integration ist untrennbar damit verbunden, dass die Kinder und Jugendliche Deutsch als Bildungssprache lernen. Niemand weiß, wie lange die Menschen bleiben. Bei Kindern, die Anfang nächsten Schuljahres noch hier sind, könnten es mehrere Jahre sein. Wenn wir Fehler der Vergangenheit vermeiden wollen, müssen wir es von Anfang an so angehen, als blieben sie länger hier. Das sind wir den ukrainischen Kindern schuldig.

Die Wünsche der Ukraine weisen Sie also zurück?

Ich habe großes Verständnis dafür, dass die Vertreter der Ukraine Angst vor der Vernichtung der ukrainischen Identität haben. Es ist gut, wenn Kinder und Jugendliche etwa im Einzelfall Kontakt zu ihrer alten Schule haben und online zusätzlich ukrainische Angebote wahrnehmen können. Richtig ist auch, herkunftssprachliche Angebote zusätzlich möglich zu machen. Auch können die ukrainischen Communities zusätzliche kulturelle Angebote machen. Wir werden in Deutschland aber kein paralleles Schulsystem für die Ukraine aufbauen.

In den Jahren 2015/2016 empfanden viele auch die Situation an den Schulen chaotisch. Können Sie den Menschen versprechen, dass es diesmal besser läuft?

Ja. Wir sind viel besser vorbereitet. Das gilt für ganz Deutschland. Ich kann aber auch den Menschen in meinem Bundesland versprechen: Kein Kind wird einen Nachteil haben.

In der Gesellschaft und in den Schulen greifen die Lockerungen der Corona-Politik. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation an den Schulen?

Ich bin zuversichtlich, dass wir fast überall in Deutschland mit vergleichsweise großer Sicherheit und eher überschaubaren Corona-Problemen bis zu den Sommerferien kommen. Wir gehen jetzt die notwendigen Schritte in Richtung Normalität.

Lehrergewerkschaften beklagen hohe Inzidenzen unter den Schülern und viele Krankheitsfälle in den Kollegien.

Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich die Maskenpflicht als wirksame Schutzmaßnahme in den Schulen gern länger als Option beibehalten hätte. Aber das hat die Ampelkoalition mit dem neuen Infektionsschutzgesetz leider verhindert. Bis zum Herbst muss das Infektionsschutzgesetz so angepasst werden, dass den Ländern die Anordnung der Maskenpflicht in den Schulen wieder landesweit als Basisschutz möglich ist. Sonst können wir nicht ausschließen, im Herbst und Winter in ein Problem mit sprunghaft ansteigenden Infektionszahlen, insbesondere für den Fall einer neuen Variante, an den Schulen zu laufen.

Müssen die Schülerinnen und Schüler am Ende den Preis dafür zahlen, dass die Politik sich nicht auf eine allgemeine Impfpflicht verständigt hat?

Ich bedauere es sehr, dass es nicht zur gesetzlichen Impfpflicht gekommen ist. Jeder geimpfte Erwachsene trägt dazu bei, das Infektionsgeschehen gering zu halten und so auch den Schulbetrieb sicherer zu machen.

Brauchen wir also einen neuen Anlauf für die Impfpflicht?

Das politische Fenster, das es für eine Einführung der Impfpflicht gab, war Ende vergangenen Jahres. Diese Chance haben Olaf Scholz und die Ampelkoalition ungenutzt gelassen, weil sie untereinander uneins waren. Jetzt ist die Impfpflicht im Bundestag gescheitert und politisch erst mal verbrannt.

Die Union hätte der Impfpflicht doch zur Mehrheit verhelfen können.

Die Ampel beherrscht das politische Handwerk nicht. Man kann die Impfpflicht nicht zur Gewissensfrage erklären, weil man keine eigene Mehrheit hat – und dann auch noch erwarten, dass die Union die Bundesregierung rettet. Die Union ist Opposition mit der damit verbundenen Rolle. Sie ist keine Mehrheitsbeschafferin für die Regierungskoalition.

Kann es im Herbst und Winter erneut zu Wechsel- oder Distanzunterricht kommen?

Ich habe in der Pandemie gelernt, nichts auszuschließen. Gottseidank haben wir aber endlich einen gesellschaftlichen Konsens, dass die Schulen so lange wie möglich geöffnet bleiben müssen. Erneuter Wechsel- oder Distanzunterricht darf für die Politik nur das äußerste Mittel sein. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass wir es noch mal nutzen müssen.

Sind die Schulen digital mittlerweile so aufgestellt, dass Fernunterricht kein Problem wäre?

Die Schulen sind zunehmend technisch gut ausgestattet. Aber die Digitalisierung muss natürlich kontinuierlich und nachhaltig sowohl technisch als auch pädagogisch weiterentwickelt werden. Es geht aber nicht nur um Technik, sondern auch um zunehmend um Inhalte und neue Unterrichtskonzepte wie zum Beispiel Deeper Learning. Viele Lehrkräfte müssen sich noch ein Stück weit neu erfinden. Die meisten wollen das auch – aber natürlich nicht alle. Wir müssen Lehrkräften und Schulen geeignete Fortbildungen zur digitalen Professionalisierung anbieten und sie auch zur Teilnahme verpflichten.

Brauchen wir digitale Lernmittelfreiheit?

Digitale Lernplattformen und Inhalte müssen Gegenstand der Lernmittelfreiheit sein. Jedes Kind braucht einen Zugang zu einem digitalen Endgerät und zum schnellen Internet. Für Kinder, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II oder nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, muss der Staat aufkommen. Hier muss der Bund auch über den 31.12.2022 schnell Klarheit schaffen. Schulträger ergänzen unter andetem mit Landes- und Bundesmitteln das Angebot mit Leihgeräten für Schüler mit entsprechendem Bedarf. Eltern, die es sich leisten können, sollten ihre Kinder möglichst nach einheitlichen Standards ausstatten.

Welche Note würden Sie für das Krisenmanagement der Kultusminister in der Corona-Krise geben – generell, aber auch für sich selbst?

Ich denke, niemand sollte sich selbst bewerten. Die Schwierigkeit ist doch auch, dass der Unterricht trotz Corona an vielen Schulen gut geklappt hat – und an anderen eben nicht so gut. Viele Lehrkräfte haben in der Pandemie einen tollen Job gemacht. Gleichzeitig haben wir in der Pandemie so deutlich wie noch nie gesehen: Eine Schule zu führen ist eine gewaltige Managementaufgabe, besonders in Krisensituationen. Wir müssen Schulleiter in Zukunft dafür besser aus- und fortbilden.

Müssen wir uns – angesichts der Folgen von Corona – auf ein schlechteres Abschneiden bei der Pisa-Studie einstellen?

Ich gehe davon aus, dass wir die Folgen der Corona-Krise bei der Pisa-Studie in allen europäischen Ländern sehen werden. Deutschland wird im Vergleich nicht zwingend schlechter platziert sein, aber unsere Punktzahlen werden zurückgehen.

Wie viele Jahre wird es dauern, bis ein Fünftklässler von heute die Rückstände aus der Corona-Zeit aufgeholt hat?

Das hängt davon ab, wie schnell die Aufholmaßnahmen umgesetzt werden. Bei den Kindern, die gravierende Lernrückstände haben, kann das zwei, drei Jahre dauern. Diesen langen Atem brauchen wir. Der Bund muss das Corona-Aufholprogramm für Kinder und Jugendliche über 2022 hinaus verlängern.

Sie waren stets für ein offenes Wort auf Twitter bekannt, sind dort aber Opfer von Hass geworden – und haben sich verabschiedet. Fehlt Ihnen etwas?

Die Abstinenz von Twitter zwingt dazu, über öffentliche Äußerungen länger nachzudenken. Das tut mir momentan gut. Mir fehlt aber manchmal auch diese Möglichkeit, mich so schnell und unmittelbar öffentlich zu äußern. Mein Abschied von Twitter ist sicher nicht für immer. Ich werde zurückkommen.