Strengere Beschränkungen in einem Touristenort, Infizierte in einer Berliner Kneipe: Die zweite Corona-Welle rollt lautlos an.
Das RKI warnt inzwischen offen vor einer Trendumkehr in Deutschland.
Und SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach fordert in einem Interview, dass man sich mehr auf die “Superspreader” konzentrieren müsse.
Die zweite Welle rollt lautlos an. Aber irgendwann bricht sie. Wie das aussehen könnte, ahnte Falko Liecke Anfang der Woche. Da musste der Gesundheitsstadtrat des Berliner Bezirks Neukölln einen Aufruf starten: In einer Kneipe hatte es eine Coronavirus-Infektion gegeben, nun gingen seine Leute die Dokumentationslisten der Gäste im “Brauhaus Neulich” durch. 41 Gäste hatten unvollständige oder falsche Angaben gemacht, eine unbekannte Anzahl hatte sich gar nicht eingetragen.
Das Brauhaus erklärte in einer Stellungnahme im Internet, Gäste auf die Registrierung per QR-Code oder Link hingewiesen zu haben. “Dabei haben wir sehr stark auf die Eigenverantwortung der Gäste gesetzt – was sich im Nachhinein nun leider als Fehler erwiesen hat”, hieß es. “Durch die vielen Lockerungen der letzten Zeit und die allgemeine Stimmung in Berlin ist wohl auch in unserer Location sehr schnell ein falsches Bild entstanden”, das den Ernst der Lage untergraben habe.
Corona nimmt alle Kapazitäten in Anspruch
Für Lieckes Mitarbeiter bedeuten die Versäumnisse mühevolle Nacharbeit. 30 neue Kräfte hat das Gesundheitsamt des Bezirks mit 300.000 Einwohnern bereits bekommen, darunter zehn temporär abgestellte Bundeswehrsoldaten. “Um unsere eigentlichen Aufgaben können wir uns kaum noch kümmern”, sagt CDU-Politiker Liecke.
Corona nimmt alle Kapazitäten in Anspruch – selbst bei einer Infektion in einer einzigen Kneipe. Dabei sind ganze Straßenzüge in Nord-Neukölln eine einzige Kneipenmeile. “Wenn es in vier, fünf Läden gleichzeitig Ausbrüche gibt – dann kommen wir nicht mehr hinterher”, sagt Liecke im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
RKI meldet am Freitag 870 neue Corona-Infektionen innerhalb eines Tages
Die Gefahr ist real. Die Stadt Heide in Schleswig-Holstein musste bereits am Freitag wieder strengere Schutzmaßnahmen einführen. Im öffentlichen Raum gilt wieder die Kontaktbeschränkung, dass sich maximal zwei Personen aus unterschiedlichen Haushalten treffen dürfen, wie Landrat Stefan Mohrdieck mitteilte. Diese Einschränkung gilt auch für öffentliche und private Veranstaltungen in der Dithmarscher Kreisstadt. Testungen sollten ausgeweitet werden.
Auch im Tourismusort Büsum gelten seit Freitag strengere Beschränkungen. So müssen Menschen in zwei Fußgängerzonen einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Eine Kontaktbeschränkung gilt dort aber nicht.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete am Freitag 870 neue Corona-Infektionen innerhalb eines Tages. Die Zahlen bleiben damit auf einem hohen Niveau – am Vortag waren es 902 gewesen. Seit Beginn der Corona-Krise haben sich somit mindestens 208.698 Menschen in Deutschland nachweislich mit dem Virus Sars-CoV-2 infiziert.
Das RKI warnt inzwischen offen vor einer Trendumkehr in Deutschland und nennt als Grund dafür Nachlässigkeit bei der Einhaltung der Verhaltensregeln. Die Frage, wie gut Deutschland auf eine zweite Welle vorbereitet ist, beschäftigt inzwischen alle Experten.
Lauterbach: Auf “Superspreader” konzentrieren
“Mit den steigenden Infektionszahlen rollt ein riesiges Problem auf uns zu”, sagte die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Ute Teichert, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Sie forderte ein bundesweites Freiwilligenregister – eine Art Jobbörse, die im Ernstfall Mitarbeiter vermittle, die bereits geschult seien. Gesundheitsämter könnten nicht warten, bis geplante Maßnahmen der Bundesregierung zur Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes in Kraft träten.
Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach kritisierte das bisherige Vorgehen der Ämter als “völlig ineffizient”. Es werde riesiger Aufwand mit massivem Personaleinsatz betrieben, sagte er dem “Spiegel”. Statt jedem Einzelkontakt nach zu telefonieren, sollten sich die Ämter allein auf “Superspreader” konzentrieren.
Damit gemeint sind hochansteckende Infizierte, die bei Treffen bestimmter Gruppen oft zahlreiche Teilnehmer anstecken. Daher sollte bei jedem Corona-Test abgefragt werden, ob die Person bei einem solchen Event war. Sollte der Test positiv ausfallen, müssten alle anderen Teilnehmer der Veranstaltung in Quarantäne geschickt werden, bevor sie selbst getestet wurden.
Mit einer zweiten größeren Welle an Corona-Infektionen rechnen laut aktuellem ZDF-“Politbarometer” mehr als drei Viertel der Deutschen (77 Prozent), 20 Prozent erwarten dies nicht. Außerdem äußerten nun 51 Prozent die Ansicht, dass die Menschen sich in der Corona-Krise “eher unvernünftig” verhalten. In einer Befragung vom Juni hatten dies 33 Prozent angegeben. Zu Krisenmaßnahmen erklärten 71 Prozent, diese bedeuteten keine starken Einschränkungen für ihr Leben. (rnd)