Debatte um Nachfolge von 9-Euro-TicketVon einer Verkehrswende kann keine Rede sein
- Bund und Länder feilschen um Milliarden für den öffentlichen Nahverkehr und einen Anschlussfahrausweis für das 9-Euro-Ticket.
- Die Zeit drängt und die Gefahr wächst, dass ein neues Billigticket nicht rechtzeitig zu Neujahr an den Start kommt.
- Was es jetzt braucht, ist ein wirklich kraftvolles Bekenntnis zu einem guten und sozialen öffentlichen Nahverkehr. Ein Kommentar
Der Sommer ist vorbei, der Herbst des Missvergnügens beginnt, und die Verklärung beginnt. Wisst ihr noch, damals, mit dem 9-Euro-Ticket? Als der öffentliche Nahverkehr für drei Monate allen und jeder offenstand, unabhängig von Geldbeutel und Tarifkenntnissen? So schön wird es nie wieder werden, seufzen die Fans des Fahrkartenschnäppchens. So voll wird es hoffentlich nie wieder, bangen hingegen Bahn-Mitarbeitende und Rollstuhlfahrende.
Nur noch wenige Wochen Zeit haben die Fachverantwortlichen in Bund und Ländern, um Preis und Regeln für ein Nachfolgeticket ab 2023 festzuzurren.
Lindners Aussagen zeugen von Unkenntnis
Der Anfang sieht alles andere als gut aus. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) kämpft mit einem als ökonomische Vernunft verkleideten ideologischen Furor gegen günstige Mobilität für den ärmeren Teil der Gesellschaft. Seine Wortschöpfung von „CO2-intensiven Freizeitfahrten“, die ein günstiges Ticket „provoziere“, trieft vor Verachtung.
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Und sie zeigt zudem seine Unkenntnis, denn auch während der Gültigkeit des Sommerschnäppchens fuhren ja kaum zusätzliche Züge und Busse - schlicht, weil es sie im auf Kante genähten deutschen Nahverkehrssystem nicht gibt.
Bund und Länder streiten und vergessen dabei, was eigentlich wichtig ist
Nun wird gefeilscht und gezerrt zwischen Bund und Ländern, über Zuständigkeiten und Zuschüsse, dabei müsste etwas anderes im Zentrum stehen: Beim Ausbau des Nahverkehrs muss geklotzt und nicht gekleckert werden. Es muss alles gleichzeitig und so schnell wie möglich besser werden: Bessere Takte, neue Linien und ein günstiges Ticket über alte Tarifgrenzen hinweg. Das schafft Verkehrswende, Energieeinsparungen und soziale Stabilität - durch Mobilität.
Aber Lindner und sein Verkehrsminister Volker Wissing haben den Bundesanteil für ein Nachfolgeticket auf 1,5 Milliarden Euro gedeckelt und damit den Schwarzen Peter an die Länder gegeben. Denn die Finanziers des öffentlichen Nahverkehrs sehen sich explodierenden Sprit- und Energiekosten gegenüber, zudem fehlt immer mehr Personal, um Züge, Busse und Straßenbahnen zu fahren.
Allein um das jetzige Angebot aufrechtzuerhalten, brauchen die Länder nach Berechnungen des Brandenburger Verkehrsministers Guido Beermann (CDU) 1,65 Milliarden Euro zusätzlich vom Bund. Saar-Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) ist es wichtiger, das Angebot zu verbessern, als ein neues Günstig-Ticket an den Start zu bringen.
Bekenntnis zum öffentlichen Nahverkehr? Fehlanzeige
So wird der Nachfolger des sozialen Sommermärchens zerredet, bevor es ihn überhaupt gibt. Dabei wäre es jetzt an der Zeit, sich zum öffentlichen Nahverkehr zu bekennen - und damit aufzuhören, Stadt und Land gegeneinander auszuspielen. Der größte Profiteur eines günstigen, bundesweiten Ticket wäre nämlich der ländliche Raum - ein Ausbau des Angebots natürlich vorausgesetzt.
Menschen, die jenseits der aktuellen Metropolen-Tarifgrenzen wohnen, könnten endlich für einen günstigen Preis in die Stadt pendeln. Das hätte einen positiven Einfluss auf die Grundstückspreise im erweiterten suburbanen Raum. Naherholungs-Regionen profitierten von mehr Besuchern und weniger Autoverkehr an den Wochenenden.
Nachfolgeticket muss flexibel sein
Ob ein neues bundesweites Ticket - das trotz allen Feilschens hoffentlich kommt - nun 49, 59 oder 69 Euro pro Monat kostet, ist dabei zweitrangig. Um sichere Einnahmen zu schaffen, könnte es an ein Jahresabo geknüpft werden. Es sollte aber zwingend nicht personengebunden, sondern übertragbar sein und, wie aktuelle Abomodelle, auch die Mitnahme von Kindern am Wochenende ermöglichen.
Was nach technischen Tarifdetails klingt, macht den Unterschied zwischen einem guten, aber nicht wirklich günstigen Nahverkehrs-Abo - und einem sozialen Nahverkehr für alle. Was auch immer Christian Lindner davon halten mag.