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Der Moralist der NationWie Jan Böhmermann sich neu erfunden hat

Lesezeit 9 Minuten
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Jan Böhmermann

  1. Mit solidem Journalismus wurde seine Sendung „ZDF Magazin Royale“ zum Stachel im Pelz der Nation.
  2. Der „uncoole Spaddel aus dem gymnasialen Milieu“ (Jan B. über Jan B.), ist ein Mensch gewordenes Druckventil.
  3. Auch steckt in ihm mehr Ulrich Wickert, als ihm lieb sein dürfte. Ein Porträt.

Er sei doch nur ein „unseriöser Quatschvogel“, sagt Jan Böhmermann gern in branchenunüblicher Demut. Ganz so, als staune er noch immer selbst über die Wirkung manches seiner Worte und die Wucht seines Schaffens. Da steht er, der optisch unscheinbare Polizistensohn aus Bremen, und hat wieder mit einem Tweet im Affekt, einem bösen Satz in einem Interview oder einer 20-minütigen TV-Enthüllung in seiner Sendung „ZDF Magazin Royale“ an den Grundfesten der Republik gerüttelt. Warum? Weil er es kann.

Nun endet die zweite Saison nach der Neuausrichtung seiner Show. Und so viel kann man zu Beginn der Sommerpause 2022 festhalten: Die Runderneuerung der Figur Jan B. ist gelungen. So viel Relevanz war nie. Und so viel Quote auch nicht. Seit der „Entquatschung“ seiner Show, seit der Hinwendung zu mehr Journalismus und Tiefgang im Herbst 2020 liegt die Zuschauerzahl zumeist bei rund 2,5 Millionen. Für einen TV-Agenten, der aus der Nische kam, ist das ein spektakulärer Wert.

Jan Böhmermann hat eine solide Chancenverwertung

Gewiss: Nicht jede Show lieferte einen echten Scoop, nicht jedes Themenspecial elektrisierte die Nation gleichermaßen – aber die Trefferquote ist hoch. Im Fußball würde man sagen: Böhmermann hat eine solide Chancenverwertung. Geleitet von heiligem Zorn kritisierte er vor der Bundestagswahl im Herbst 2021 die Manipulation von Wikipedia-Artikeln über Bundestagsabgeordnete, schalt die Autofahrernation Deutschland („Warum hört der Fahrradweg hier auf?“), zerpflückte genüsslich die Zuschusskultur für die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung und schilderte präzise die unseriösen Geschäftspraktiken der Deutschen Vermögensberatung.

Er verhandelte den Machtverlust des Axel-Springer-Verlags, die Allmachtsphantasien des rechtslastigen deutsch-amerikanischen Großinvestors Peter Thiel, das Schlagerimperium von Florian Silbereisen, die Folgen des Instagram-Schönheitswahns auf das reale Leben junger Mädchen und das ungute Treiben von Putins nützlichen Idioten in deutschen sozialen Medien. Und wenn es bei alledem eine Ursünde gibt, die Böhmermann verlässlich triggert, dann ist es die Scheinheiligkeit.

Ein Politmagazin, gefangen im Körper einer Late-Night-ShowZuletzt entlarvte er Heuchelei und mutmaßliche Betrugsversuche in der Firma des Influencers und High-End-Aussteigers Fynn Kliemann und kritisierte die Nähe des TUI-Konzerns zum russischen Oligarchen und Tui-Großaktionär Alexej Mordaschow. Möge der Shiny Floor im Kölner Studio noch so schillern, möge das Rundfunktanzorchester Ehrenfeld noch so beherzt aufspielen – Böhmermanns „ZDF Magazin Royale“ ist im Kern ein Politmagazin, gefangen im Körper einer Late-Night-Show. Im vergangenen Jahr gab es dafür den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis.

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Jan Böhmermann deckte fragwürdige Geschäftstaktiken von Fynn Kliemann auf.

Die Sendung werde „zwischen ultrascheiße und sehr gut pendeln“, hatte er zum (Neu-)Start nach dem Wechsel vom Zwergsender ZDF neo ins „große“ ZDF dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) gesagt. Wie anno dazumal Gerhard Löwenthal in seinem „ZDF Magazin“ wolle auch er nach den „schadhaften Stellen unserer Demokratie fahnden“. Das ist exakt, was er nun tut. Das sieht nicht nur nach Arbeit aus. Das ist Arbeit. „Nützt ja nichts, Unterhaltung muss gemacht werden“, sagt er – denn „pain equals comedy“. Schmerz also sei der Rohstoff des Humors, oder anders: Der Witz wohnt als Parasit auf dem Leid. Verbindlichkeit war Böhmermanns Sache nie. Aber die besten und klügsten Zornesreden seiner aktuellen Sendungen sind wie eine Happy Hour fürs Gehirn.

„Bei uns soll es um Themen gehen, die erst noch welche werden“

„Bei uns soll es um Themen gehen, die erst noch welche werden“, sagte er im Gespräch mit dem RND. „Das ist wie in einem Computerspiel: Das sind die Themen, die auf mich zufliegen, die mich irgendwie berühren und die wir in der Redaktion sowieso bearbeiten – und die schlage ich dann weg mit dem virtuellen Baseballschläger.“

Böhmermanns Baseballschläger

Nicht alles, was Böhmermanns Baseballschläger erwischt, ist nagelneu. Und es gab schon in früheren Jahren große Aufreger aus dem Hause Böhmermann – vom griechisch-deutschen Stinkefingerskandal bis zum Staatsaffäre um das Erdogan-Schmähgedicht, von den Verarschungspraktiken der RTL-Show „Schwiegertochter gesucht“ bis zum Nachbau eines „Yellow Press“-Klatschmagazins voller lechzender Mutmaßungen über die publizistisch Verantwortlichen der Knallpresse selbst (der Erlös von 55.139,38 Euro ging als Spende an medienpädagogische Projekte).

Doch alles ist mit Verve vorgetragen, telegen eingekleidet und journalistisch astrein untermauert. Fynn Kliemann mag vielleicht nicht der Oberbösewicht der Nation sein und Böhmermanns Abneigung gewiss auch von persönlichem Groll befeuert – aber warum soll man nicht auch die Lügen der Hipsterbubble entlarven?

Das besondere Verdienst liegt ohnehin nicht in der Enthüllung, sondern in der Aufbereitung. Das muss man erst mal schaffen, den bundesweiten Mangel an Psychotherapieplätzen durch die ungesunde Machtverteilung im Gesundheitswesen einem memegesättigten, kickgewöhnten Publikum so nahezubringen, dass es nicht nach sechs Minuten Zahlengewitter überfordert aussteigt. Gut zwei Dutzend Menschen umfasst das Redaktionsteam, das Böhmermann munitioniert.

Wichtigste Protagonistin dabei ist Hanna Herbst, seit Juni 2020 als Chefin vom Dienst verantwortlich für die journalistischen Inhalte. Der früheren „Vice“-Chefredakteurin in Österreich macht kaum jemand etwas vor, wenn es darum geht, einem jungen Publikum vermeintlich schwere Kost leichtgängig vorzusetzen – vorgetragen in lockerem Parlando, maximal entkrampft und trotzdem präzise und relevant. 2021 wählte sie das „Medium Magazin“ zur Unterhaltungsjournalistin des Jahres. „Fernsehen ist Gruppenarbeit“, sagt Böhmermann. Deshalb heißt die Show noch immer nicht „Die Jan Böhmermann Show“.Er mahnt, hadert, wütet und schießt sich ein auf Dummheit und Bigotterie

Das „ZDF Magazin Royale“ klingt also wie Late Night und sieht aus wie Late Night – aber was Böhmermann in 30 Minuten abliefert, ist sehr viel journalistischer und strenger, als es sein früheres „Neo Magazin Royale“ jemals war. So richtig lustig ist das alles nicht gemeint, dafür eben aufklärerisch. Böhmermann schlägt weite Bögen, schilt die Reichen und Mächtigen des Landes, die Blender und Heuchler. Er mahnt, hadert, wütet und schießt sich ein auf Dummheit und Bigotterie. Gewiss wirkt es gelegentlich pastoral, wenn er mit umwölktem Blick strenge, ernste Sätze sagt („Die ungleiche Verteilung von Geld und Gütern ist neben dem Klimawandel das größte Problem der Gegenwart“). Aber eines wird man dem Mann kaum vorwerfen können: im Unrecht zu sein.

Jan Böhmermann, der „uncoole Spaddel aus dem gymnasialen Milieu“ (Jan B. über Jan B.), ist ein Mensch gewordenes Druckventil. So wie Wall-E, der kleine Müllroboter aus dem Pixar-Film, der den Unrat der Erde zu kompakten Quadern komprimiert, verpresst und verdichtet Böhmermann die Problemzonen der Zeit zu informativen, in ihren besten Momenten gar aufklärerischen Fernsehereignissen. Aus dem nischigen Entertainer, der lange fernab vom Mainstream aus den Memes und Albernheiten der Zeit eine kulturelle Heimat für Nerds und Schülersprecher schuf, ist innerhalb von eineinhalb Jahren eine Instanz geworden – weniger Rattazong, mehr Relevanz.

„Ich bin kein Zyniker“

Ist Böhmermann ein Moralist? Im Gespräch im Studio in Köln widerspricht er dieser Zuschreibung nicht. „Ich bin vor allem kein Zyniker“, sagt er. „Moral ist eine Leitplanke, die wir brauchen, um das mit dem Leben und dem Zusammenleben überhaupt hinzubekommen. Jeder Mensch braucht Dinge, an die er fest glaubt, damit er nicht der Versuchung erliegt.“ Er macht eine kurze Pause. Und grinst. „Oha, jetzt wird es biblisch.“

„Sich nicht in diesen dunklen Sumpf hinabziehen lassen“Es komme darauf an, „sich nicht in diesen dunklen Sumpf hinabziehen zu lassen“, sagt er. „Das passiert ja nicht auf einer rationalen Ebene. Leute, die sich radikalisieren, tun das ja auf derselben Ebene, auf der Moral stattfindet, also im Persönlichen, Emotionalen. Und Moral kann vor dem unbemerkten Abgleiten in die Menschenfeindlichkeit schützen.“ Und woher kommt dieser echte Zorn, der immer wieder zu spüren ist? Kurze Nachdenkpause. „Johannes B. Kerner kann Gefühle verkaufen, wo er gar keine hat“, sagt er. „Bei mir ist es leider andersherum.“

Es sei „nicht schön, dass ein unseriöser Comedyclown wie ich mit einer größeren Reichweite als die „Bild„-Zeitung in der Tasche herumläuft und schreiben kann, was er möchte“, hat er dem RND gesagt. Nicht wenige würden dem Satz gewiss zustimmen – all jene nämlich, die den ZDF-Moderator seit Jahren als unerträglichen Klugscheißer bepöbeln. Böhmermann! Dieser öffentlich-rechtliche Gutmensch! Dieser neunmalkluge Niedermacher mit dem lockeren Blockdaumen bei Twitter. Möge der Mann bitte schweigen.

In ihm steckt mehr Ulrich Wickert, als ihm lieb sein dürfte

Doch er schweigt nicht. Und das ist gut so. Böhmermann zerlegt beherzt, was ihm missfällt. Der Satiriker hat seine Wirkungskraft erweitert: Er ist längst kein Comedyclown mehr. Böhmermann ist Gesellschaftskritiker. In ihm steckt mehr Ulrich Wickert, als ihm lieb sein dürfte. Auch wenn es nach wie vor enorm lustig ist, wenn sich ein Mann mit der Figur eines Tänzers mit der Deutschrapszene anlegt („Polizistensohn“) oder – noch bei ZDF neo – Befindlichkeitssänger wie Max Giesinger und die anderen weinerlichen Jaulepopjungs des Deutschpop angreifen will und dabei aus Versehen einen Hit schreibt („Menschen Leben Tanzen Welt“), den heute Menschen auf ganz realen Hochzeiten hören wollen und der in den Vapiano-Restaurants ironiefrei in Dauerschleife lief.

Am 23. Februar 1981 kam Böhmermann als Sohn eines Polizeibeamten im Bremer Stadtteil Gröpelingen zur Welt und wuchs im Stadtteil Vegesack auf. Seine Mutter gehörte zur deutschen Minderheit in Polen und kam Anfang der 1970er-Jahre nach Deutschland. „Sie kannten hier niemanden und mussten sich durchbeißen. Das trainiert den Humor“, sagt er. Sein Vater starb an Leukämie, als Böhmermann 17 Jahre alt war. „Das Kämpferische kommt von meinem Vater. Der hatte einen wahnsinnig starken Gerechtigkeitssinn und ist deswegen Bulle geworden, glaube ich.“

Erste journalistische Erfahrungen sammelte Böhmermann als Lokalreporter in Bremen, bewarb sich dann an mehreren Schauspielschulen. In Hannover wurde er angenommen, trat das Studium aber nicht an. Er arbeitete zunächst als Moderator und Komiker im WDR-Radio („Lukas“ Tagebuch“). Bekannt wurde er dann ab 2009 als Ensemblemitglied der Sendung von Harald Schmidt in der ARD. In den drei „unpädagogischen, sehr lehrreichen“ Jahren bei der „Harald Schmidt Show“ wurde er quasi zur Feuilletonvariante von Oliver Pocher – schmerzfrei und dickfellig, aber deutlich klüger, böser und lustiger.

„Ich mache das nicht, damit ich auf der Straße erkannt werde“Was ihn treibt, kann er schwer benennen. Einfacher ist es da schon, zu erklären, was ihn nicht antreibt: die Sehnsucht nach Liebe. „Ich mache das nicht, damit ich auf der Straße erkannt werde oder weil es ein großes Loch in mir gäbe, in das Menschen tonnenweise Liebe oder Aufmerksamkeit werfen müssten, damit ich zufrieden bin“, sagt er.

Sendepause bei Twitter

Nun also: Sommerpause. Das bedeutet auch: Sendepause bei Twitter, seinem „Ventil für Impulse, Spiegel meiner Ratlosigkeit, Speicherort für das Innerste, Ideen oder Quatsch, zugleich geheimen Tagebuch und unter Starkstrom stehenden Megafon“. Sechs Stunden verbringt er mit der Twitter-App (am Tag meines Besuches sind es exakt sechs Stunden und 43 Minuten – und da war erst Nachmittag). „Es gibt Momente, in denen ich mich davon lösen muss“, sagt er. „Damit mir Twitter nicht zum Beispiel meinen ganzen Sommer zerschießt. Ich mache Twitter im Juni immer aus, und in den Sommerferien lese ich höchstens abends ein bisschen mit, wie in einer Zeitung. In dieser Zeit nehme ich mir immer fest vor, nicht zu twittern, weil ich keine Dinge auslösen will, die total anstrengend sind für andere und mich.“

Mehr als 14.000 Trolle und Idioten hat er „handgeblockt“. Er wolle kein „Gift“ in seinem Feed, sagt er. Hat er sich ein Ziel gesetzt, wann Schluss mit Fernsehen sein soll? Mit 50 wie bei Stefan Raab? „Das ist im engsten privaten Kreis versprochen und wird auch passieren“, sagt er. „Aber das ist noch lange, lange hin.“ Jetzt erst einmal: Ferien. Jedenfalls fast: Bei ZDF neo soll es ab Juli neue Folgen der Kochsendung „Böhmi brutzelt“ geben, in denen Böhmermann mit prominenten Gästen kocht und redet.