Berlin – Mit der vierten Welle kommt das Déjà-vu. Zurück sind die rasant steigenden Fallzahlen. Zurück ist die besorgniserregende Sieben-Tage-Inzidenz, die seit Tagen immer weiter über den Schwellenwert von 50 klettert. Wieder da sind auch die düsteren Prognosen: In vier bis sieben Wochen könnte die 200 bis 500 erreicht werden.
Die Folgen sind dieselben, bereits jetzt spürbar: Es müssen wieder mehr Corona-Patienten im Krankenhaus, vor allem die 35- bis 59-Jährigen trifft es jetzt, behandelt werden.
Wie ist es möglich, dass uns das schon wieder passiert? Obwohl inzwischen rund 60 Prozent der Menschen im Land vollständig geimpft sind? Und: Wird überhaupt alles so schlimm kommen, wie viele es jetzt an die Wand malen?
Es wird wieder ungemütlich
Im Vergleich zu vielen anderen Ländern der Welt ist die deutsche Impfquote geradezu luxuriös: Durchgeimpft waren gestern 59,2 Prozent der Bevölkerung, mindestens einmal geimpft waren 64,2. Es war immerhin das Versprechen der Politik an die Bürger: Wir organisieren den Impfstoff, ihr gebt uns durch das Einhalten der Maßnahmen mehr Zeit dafür und lasst euch impfen, wenn der Stoff da ist. Ab einer Impfquote von 70 bis 80 Prozent sollte sich spätestens das Licht am Ende des Tunnels zeigen.
Man kalkulierte damit, dass dann der Großteil der Menschen immun wäre, immer weniger sich ansteckten. Das Leben würde normal, irgendwann ohne Abstand, Masken, Kontaktverzicht. Stattdessen werden Spätsommer, Herbst und Winter wohl erneut ungemütlich.
Altbekannte Ängste und Sorgen kommen wieder an die Oberfläche. Die Sorge um die Kinder ist wieder da. Können Schülerinnen und Schüler im Präsenzunterricht geschützt werden? Was bringen die Tests, was bringt Lüften, und braucht es doch Wechselunterricht? Das bange Gefühl lässt sich nicht verdrängen, dass notfalls auch Schulschließungen wieder denkbar werden.
Deutschland könnte die Kontrolle in der Tat noch einmal entgleiten. Modellberechnungen zeigen, dass das nicht unbedingt passiert, aber dass es ein mögliches Szenario ist. In der vierten Welle könnten wieder viele Menschen erkranken und auch sterben. Es könnten auch so viele Menschen ausfallen oder in Quarantäne sein, dass die kritische Infrastruktur gefährdet ist und das Gesundheitssystem an seine Grenzen kommt.
Und doch: Die Pandemie steht unter anderen Vorzeichen als noch vor wenigen Monaten gedacht. Und damit die Art und Weise, wie nun die vierte Welle verläuft und wie das alles endet. Schließlich hat sich das Virus selbst verändert.
Wie schnell Delta andere Virusvarianten verdrängt hat, überrascht sogar Experten und Expertinnen. Es war immer klar, dass Sars-CoV-2 mutieren muss, wenn es in der Welt bestehen will. Dafür sorgt der steigende Selektionsdruck durch die Impfungen und die Genesenen. Aber so viel schneller als die gerade angelaufenen Impfkampagnen und in diesem Ausmaß? Eigentlich untypisch.
„Sars-CoV-2 ist glücklicherweise relativ lahm und verändert sich nicht so schnell wie manch andere Viren“, sagte noch Ende Dezember der Zoonosen-Experte Fabian Leendertz. „Mutationen sind nach heutigem Kenntnisstand kein großes Problem, auch nicht für die anstehenden Impfungen.“ Es kam dann, wie so oft in dieser Pandemie, anders. Gleich vier Varianten wurden im ersten Halbjahr 2021 als besorgniserregend klassifiziert: neben Delta auch Alpha, Beta und Gamma.
Delta bereitet der Welt aktuell am meisten Sorgen. Die Mutante ist hochgradig infektiös, mehr noch als im Frühsommer zu erwarten war. Fachleute rechneten für Deutschland damit, dass die Variante im Herbst dominant würde. Die Variante verdrängte Alpha dann aber doch schon im Sommer. Seit Mitte August machen mehr als 98 Prozent der untersuchten Proben von Infizierten die Delta-Variante aus.
Delta hat Tricks parat, die der Herdenimmunität einen Strich durch die Rechnung machen: Die Variante erhöht die Viruslast bei Infizierten wieder. Das führt schneller zu mehr Ansteckungen – wie es gerade die rasant steigenden Fallzahlen zum Beginn der vierten Welle zeigen. Delta macht Menschen noch schneller ansteckend als das Ursprungsvirus. Die erkennen das womöglich gar nicht, weil sich eine Infektion wie ein harmloser Schnupfen äußert. Noch beunruhigender ist jedoch: Delta verringert den Immunschutz bei Geimpften und Genesenen.
Die gute Nachricht ist dabei: Die zugelassenen Impfstoffe funktionieren weiterhin. Wer vollständig geimpft ist, wird bei einer Delta-Infektion in den meisten Fällen nicht schwer krank, muss nicht ins Krankenhaus, muss nicht beatmet werden, ist nicht vom Tod bedroht. Und auch die leichten Erkrankungen kommen deutlich seltener vor.
Ein Land im Impfdilemma
Die schlechte Nachricht: Durch Delta ist es wahrscheinlicher geworden, dass man sich trotz Impfung noch infiziert – und andere anstecken kann. Das ist das Dilemma der vierten Welle: Die Impfstoffe sind weiterhin der beste Weg, um sich persönlich vor Covid-19 zu schützen. Doch das allein reicht für den Schutz der Gesamtbevölkerung nicht aus.
Die Mathematikerin Prof. Anita Schöbel fasst es nüchtern zusammen: „Herdenimmunität durch die Impfungen können wir leider nicht erreichen.“ Die Impfung sei „nicht das 100-Prozent-Allheilmittel, das alle Probleme in der Pandemie löst“, sagt die Wissenschaftlerin, die Pandemieszenarien berechnet.
Unbestritten ist, dass nur die Impfung vor dem Schlimmsten, also schwerer Krankheit und Tod, bewahrt. Delta aber klaut nun wichtige und von der Politik einkalkulierte Zeit. Die wäre nötig gewesen, um die Impfungen in Deutschland so weit voranzubringen, dass sich wirklich alle, die es wollen, schützen können. Stattdessen ist das Land in zwei Gruppen gespalten: Für Geimpfte stuft das RKI die Gesundheitsgefahr nur noch als moderat ein. Ungeimpfte hingegen stecken sich mit noch viel höherer Wahrscheinlichkeit an als im vergangenen Herbst.
„Die jetzigen Infektionen und steigenden Werte bedrohen natürlich besonders alle Ungeimpften und bisher nicht Infizierten“, betont der Wissenschaftler Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie. Die Zahlen „sollten wirklich ein Warnsignal und Motivator sein, sich impfen zu lassen“.
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach wird noch drastischer: „Wir müssen uns auf die Ungeimpften konzentrieren. Von ihnen geht die größte Gefahr für andere aus. Sie stecken sich gegenseitig an und sind für die hohen Inzidenzen verantwortlich. Wenn wir einen weiteren Lockdown verhindern wollen, müssen sich Ungeimpfte vorsichtiger verhalten oder impfen lassen.“
Bei den Älteren gibt es laut RKI-Erhebung (Stand: 24. August) noch größere Impflücken: Rund 63 Prozent der 18- bis 59-Jährigen und 83 Prozent der über 60-Jährigen sind bislang durch die Impfung geschützt. Der größte Anteil Ungeschützter findet sich bei den Jüngeren. Bei den 12- bis 17-Jährigen sind erst 18 Prozent vollständig geimpft.Und genau das bringt ganz neue Probleme mit sich.
Neue Angst um die Kinder
Wenn die Sommerferien zu Ende sind, so erwarten es Corona-Expertinnen und -Experten, wird es unter Schülern und Schülerinnen mehr Infektionen geben. Bei einer tolerierten Ausbreitung des Virus werde es „fast zwangsläufig“ auch in dieser Gruppe zu schweren Verläufen kommen, fürchtet die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek. Deshalb sollten sich noch so viele Erwachsene wie möglich impfen lassen. „Das ist wichtig für den Eigenschutz, aber eben auch, um diejenigen zu schützen, die sich nicht beziehungsweise noch nicht impfen lassen können. Dazu zählen insbesondere auch Kinder.“
Denn Delta macht, anders als Alpha es noch tat, vor den jüngeren Ungeimpften nicht Halt. Nicht vor den unter 12-Jährigen, für die es keinen zugelassenen Impfstoff gibt. Und auch nicht vor den Jugendlichen, die erst seit Mitte August eine klare Impfempfehlung von der Ständigen Impfkommission bekommen haben. Immerhin scheint das kindliche Immunsystem auf die Attacken von Sars-CoV-2 besser vorbereitet zu sein. Jüngere erkranken deutlich seltener schwer an Covid-19 als Ältere.
Aber, auch darauf verweist Karl Lauterbach: „Wir müssen davon ausgehen, dass bis zu 5 Prozent der an COVID-19 erkrankten Kinder auch an Long Covid erkranken. Wir sind kurz davor, ein Massenexperiment an unseren eigenen Kindern zu erleben. Das müssen wir unbedingt verhindern.“
Und so ist man wieder beim Déjà-vu. Geimpfte wie Ungeimpfte sollten versuchen, sich möglichst nicht anzustecken. Das Ziel: die Zahl der Infektionen geringer zu halten als es das Virus will. Durch die altbekannten präventiven Maßnahmen. Lüften, Testen, Abstand und Maske tragen. Und wenn das nicht reicht: Verzicht auf große Treffen und Schließungen von Geschäften, Restaurants, Sportklubs.
Viele Menschen können so vor Krankheit und Tod bewahrt werden. Jetzt die Kontrolle abzugeben würde hingegen bedeuten, dass die Infektionen bei Ungeimpften und verdeckter auch unter den Geimpften sehr schnell massiv steigen würden. Darin sind sich Expertinnen und Experten einig. Zudem könnten noch schneller noch infektiösere Virusvarianten entstehen, die den Immunschutz noch mehr gefährden. Das Coronavirus nutzt es aus, wenn sich eine große Zahl von Menschen gleichzeitig ansteckt.
Auch für Forscherin Schöbel steht fest: „Weitreichende Öffnungsschritte sollte man auf jeden Fall erst machen, wenn wirklich alle ein Impfangebot hatten und auch zu ihrer Zweitimpfung gekommen sind.“
Wird das alles also niemals enden? Das Virus wird trotz Impfungen nicht mehr verschwinden. Aber die dramatische Abfolge von Infektionswellen wird irgendwann enden. Dafür müssen so gut wie alle Menschen immun sein – die meisten hoffentlich durch die Impfung, der Rest durch eine natürliche Infektion. Es kommt dann deutlich seltener zu schweren Verläufen und Todesfällen.
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Es könnte aber auch passieren, dass der Immunschutz bei Geimpften weiter sinkt. Es könnte sein, dass das Virus Menschen noch kränker machen wird als sowieso schon. Mit Prognosen, wann Deutschland immun und die pandemische Phase in der Welt vorbei ist, halten sich Experten und Expertinnen deshalb bedeckt. Das optimistischste Szenario: Corona äußert sich irgendwann als harmloser Schnupfen bei Kindern. Dafür muss das Virus nun aber weitgehend so bleiben wie es ist.