Hannover/Berlin – Beim Alkoholkonsum holen Frauen seit Jahren auf – auch weil das Trinken in Gesellschaft zu einer Art Symbol für die Gleichberechtigung geworden ist. Doch gerade junge, gut gebildete Frauen geraten dabei zuweilen in die Abhängigkeit – wie die Journalistin Eva Biringer (32).
Funktioniert hat Eva Biringer immer. „Egal, wie verkatert ich auch war, saß ich immer am Schreibtisch, wenn ich musste. Niemals verpasste ich eine Deadline.“ Die 32-Jährige ist Food-Journalistin, schreibt über Menüs in Sternerestaurants, lernt viel über gute Weine und trinkt auch selbst regelmäßig einen über den Durst. Sie geht gerne feiern, freut sich aber noch mehr darauf, am Ende eines Abends mit Musik auf den Ohren ganz allein für sich einen Drink zu genießen. Dass sie viel trinkt, ist ihr bewusst. Doch irgendwann spürt sie: So kann sie nicht weitermachen.
Eva Biringers kürzlich erschienene Biografie „Unabhängig“ reiht sich ein in Erfahrungsberichte von Frauen in ihren 30ern, die scheinbar alles richtig machen im Leben: exzellenter Abschluss, gut bezahlter Job, manchmal auch Familie. Alkohol gehört zu ihrem Lebensstil wie selbstverständlich dazu. Ein Glas mit Freundinnen, der Aperitif zum Lunch, ein guter Tropfen zur Entspannung am Abend.
Trinken als Ausdruck einer „emanzipierten Persönlichkeit“
„Für Frauen ist das öffentliche Trinken von Alkohol auch ein Mittel, um die Eigenständigkeit zu demonstrieren“, so Heino Stöver, Professor für sozialwissenschaftliche Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences. Dazu passe der mediterran angelegte Lebensstil, bei dem Alkohol auch am Tag oder während des Essens getrunken werde. „Das Trinken gilt als Ausdruck einer emanzipierten Persönlichkeit.“
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Alkohol als gelebte Gleichberechtigung, so sieht es auch Eva Biringer lange Zeit: „Du hast es dir verdient, Sister! Du arbeitest wie ein Mann, hast – zwinker, zwinker – dieselben Rechte wie ein Mann, also kannst du auch saufen wie einer.“ Nachteile bringt ihr der hohe Alkoholkonsum keine, im Gegenteil: „Nicht wenigen Männern imponierte mein recht vorzeigbares Weinwissen und wie viel ich vertrug. Schon allein deswegen wollte ich trinken: weil ich glaubte, mir so Respekt verschaffen zu können, weil ich stolz war, mich in einem männerdominierten Metier zu behaupten.“
Als gesundheitlich riskant gilt für Frauen der Konsum von mehr als zwölf Gramm reinem Alkohol pro Tag, das entspricht etwa einem achtel Liter Wein oder einer kleinen Flasche Bier. Laut dem Epidemiologischen Suchtsurvey, einer seit 1980 regelmäßig wiederholten Querschnittsbefragung in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, hat der gesundheitlich riskante Alkoholkonsum bei Männern in den letzten 20 Jahren stark abgenommen, während er bei Frauen fast gleich blieb und 2018 sogar höher lag als bei den Männern.
Beratungsbedarf nimmt in der Pandemie stark zu
Auch Bildung scheint ein Aspekt zu sein: Frauen mit einem hohen sozioökonomischen Status trinken zu höheren Anteilen in riskantem Maß Alkohol als Frauen aus mittleren oder niedrigen Statusgruppen, so das Ergebnis einer Studie des Robert Koch-Instituts von 2016.
„Beruf und Karriere, Kind, Haushalt – diese Mehrfachbelastung ist für Frauen einfach zu viel“, sagt Gunda Paul vom Deutschen Frauenbund für alkoholfreie Kultur Bundesverband e. V. Hinzu komme häufig fehlendes Selbstbewusstsein sowie mangelndes Vertrauen in die eigenen Werte und Fähigkeiten. „Das sind Dinge, die Frauen hintenanstellen.“ Die meisten Frauen, die sich an die Beratung des Frauenverbands wenden, sind um die 30 Jahre alt. „In den letzten Jahren, gerade auch in der Zeit der Pandemie, hat der Hilfe- und Beratungsbedarf stark zugenommen. Frauen trauen sich vermehrt, mit uns Kontakt aufzunehmen.“
Keine Frage des Charakters
Ein Grund dafür ist sicherlich, dass auch immer mehr Frauen öffentlich darüber sprechen, wie der Alkohol zu einem Problem in ihrem Leben geworden ist. Im Herbst 2021 veröffentlicht die 36-jährige Journalistin Nathalie Stüben ihre Geschichte in dem Buch „Ohne Alkohol – die beste Entscheidung meines Lebens“. Im März dieses Jahres begleitet die NDR-Dokumentation „Erfolgreiche Frauen und die Sucht“ unter anderem die Schauspielerin Mimi Fiedler: „Der Grund, warum ich öffentlich darüber spreche, ist einfach, um diese Krankheit zu entstigmatisieren, damit Menschen verstehen, dass es nicht an ihnen liegt, dass es nichts mit ihrem Charakter zu tun hat.“
Und jetzt Eva Biringer. Auch sie will mit ihrem Buch ein Bewusstsein dafür schaffen, was Alkohol anrichten kann. Gerade Frauen haben mit Schäden an der Leber zu tun, hinzu kommt die gesteigerte Krebsgefahr, warnt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. An sich selbst bemerkte Biringer mit der Zeit vor allem Depressivität und Gereiztheit, Unwohlsein, eine Verschlechterung der Haut. „Lohnt es sich, das in Kauf zu nehmen? Ich möchte dazu einladen, das nüchterne Leben zu erleben“, sagt sie. Und hofft, dass es auch das Umfeld im Land der Winzerinnen und Winzer und der Bierbrauerinnen und Bierbrauer irgendwann unkommentiert hinnehmen wird, dass jemand keinen Alkohol anrührt. „Es sollte einfach normaler sein, nicht zu trinken.“