Über den Krieg in der Ukraine hat 2022 alle Welt gesprochen – zu Recht. Doch andere Krisen rücken dabei in den Hintergrund. Die Hilfsorganisation Care hat dazu eine Untersuchung aufgestellt.
Dürre, Armut, HIVDie zehn vergessenen Krisen – alle auf einem Kontinent
Denkt man in Europa an Krise und Krieg, denkt man direkt an die Ukraine. An die Menschen, die in dem von Russland überfallenen Land in ständiger Todesangst leben, oft ohne Strom und ohne Energie, in kalten Wohnungen, oder die sogar ihr Heimatland verlassen müssen. Der Krieg in der Ukraine ist die Krise, über die im vergangenen Jahr am meisten weltweit berichtet wurde. Das zeigt eine Untersuchung der Hilfsorganisation Care.
Das siebte Jahr in Folge bringt Care seinen „Breaking the Silence“-Bericht heraus und stellt darin die zehn humanitären Krisen vor, über die am wenigsten berichtet wurde. Die Ukraine selbst landete im Bericht über das Jahr 2021 auf Platz zwei der vergessenen Krisen. „Ein paar Wochen nach Veröffentlichung des Berichts war der Krieg zurück in Europa. Heute ist es die humanitäre Krise, über die am meisten berichtet wird“, sagt Andrea Barschdorf-Hager, Geschäftsführerin von Care Österreich, am Mittwoch bei der Pressevorstellung des neuen Berichts.
Für das Jahr 2022 hat die Hilfsorganisation wieder Untersuchungen durchgeführt. Analysiert wurde demnach die Berichterstattung über humanitäre Krisen, von denen mehr als eine Million Menschen betroffen seien und die Hilfe benötigten, erklärt Ninja Taprogge, Co-Abteilungsleiterin Kommunikation und Advocacy bei Care Deutschland. Mehr als acht Millionen Artikel über Krisen in 47 verschiedenen Ländern seien dafür ausgewertet worden. „Dieses Jahr ist der Bedarf an humanitärer Hilfe auf ein Rekordhoch gestiegen“, sagt Barschdorf-Hager. Das heiße in Zahlen: Rund 339 Millionen Menschen auf der Welt bedürften humanitärer Hilfe, 65 Millionen mehr als im Jahr zuvor. Das Ergebnis zeigt zudem: Die zehn vergessenen Krisen 2022 liegen alle auf einem Kontinent – in Afrika.
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Angola: schlimmste Dürre seit 40 Jahren
Im Süden Angolas etwa herrscht die schlimmste Dürre seit 40 Jahren. Die Klimakrise trifft das Land hart – und wird das in Zukunft vermutlich noch mehr tun. Die Ernte verkommt, Viehbestände sterben. Dabei ist Angolas Bevölkerung in großen Teilen von der Landwirtschaft abhängig. Insgesamt 3,8 Millionen Menschen – also gut ein Zehntel – haben in dem Land laut Care nicht genug zu essen, 114.000 Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt. Zu den Folgen der Dürre kommt hinzu, dass Angola sich unter den vier Ländern mit den höchsten Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln wie Getreide und Speiseöl befindet – ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine. Nur ein Beispiel dafür, wie humanitäre Krisen miteinander zusammenhängen. Viele Familien sehen keinen Ausweg und flüchten aus dem Süden Angolas, entweder in andere Regionen des Landes oder etwa in das Nachbarland Namibia. In Angola werden aktuell laut Care rund 16.000 Vertriebene gezählt, 2000 Menschen befinden sich demnach in Notunterkünften. Zudem beherbergt Angola derzeit selbst fast 60.000 Geflüchtete aus Nachbarländern wie der Demokratischen Republik Kongo.
Malawi: Kampf mit Cholera und HIV
„Krisen sind multipel“, sagt Care-Österreich-Geschäftsführerin Barschdorf-Hager, „es gibt immer verschiedene Faktoren.“ So ist es auch in Malawi mit seinen rund 21 Millionen Einwohnenden, das Platz zwei der vergessenen Krisen belegt – und aktuell mit Naturkatastrophen, aber auch Krankheiten wie Cholera und HIV kämpft. Extremwetterereignisse wie Dürren und Wirbelstürme treten in dem südostafrikanischen Land sehr häufig auf. 2019 etwa zerstörte der Wirbelsturm Idai das Zuhause von fast 87.000 Menschen. Anfang 2022 fegte Wirbelsturm Ana über Malawi. Überschwemmungen haben insgesamt mehr als 150.000 Menschen vertrieben, die nun in Notunterkünften leben.
Wie in Angola ist ein Großteil der Bevölkerung von der Landwirtschaft abhängig. Als Folge von Trockenperioden und Überflutungen ist Nahrung knapp. 5,4 Millionen Menschen haben in Malawi nicht genug zu essen, 37 Prozent der Kinder sind mangelernährt. Dazu kommt, dass Malawi derzeit einen der schlimmsten Choleraausbrüche seit Jahren erlebt. Die Sterblichkeitsrate liegt mit 3 Prozent weit über dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgelegten Schwellenwert von 1 Prozent. Auch Krankheiten wie Polio, Malaria und Tuberkulose bringen das Gesundheitssystem an den Rand des Zusammenbruchs. Außerdem sind knapp 10 Prozent der Bevölkerung mit HIV infiziert, darunter auch viele Kinder.
Zentralafrikanische Republik: Gewalt gegen Frauen und Vertreibung
„Ein Land war jedes Jahr in dem Bericht der vergessenen Krisen: die Zentralafrikanische Republik“, sagt Claudine Awute, Vizepräsidentin für Internationale Programme von Care, bei der Pressekonferenz am Mittwoch zugeschaltet aus Nigeria. „Mehr als 3 Millionen Menschen brauchen dort humanitäre Hilfe“, führt sie aus. Das entspricht laut Care-Bericht etwa 63 Prozent der Bevölkerung. Jeder zweite Mensch in dem Land habe nicht genug zu essen.
Neben Naturkatastrophen wie Überschwemmungen erschwert ein bewaffneter Konflikt seit 2013 den Alltag der Bevölkerung. Hunderte Menschen verloren dadurch bereits ihr Leben. Die Zahl der Vertriebenen ist auf mehr als 740.000 gestiegen. Mehr als 350.000 Menschen flüchten in Nachbarländer wie Kamerun. Die Krise trifft vor allem Frauen und Mädchen hart. Früh- und Zwangsehen sind weit verbreitet. Auch Gewalt gegen Frauen nimmt zu. Allein von Januar bis Juni 2022 wurden mehr als 11.700 Fälle registriert – das ist bereits mehr als im gesamten Jahr 2021. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in den Zentralafrikanischen Republik liegt bei nur 53,3 Jahren und ist damit eine der niedrigsten weltweit.
Sambia: Armut und HIV
Im Care-Bericht von 2021 lag Sambia auf Platz eins bei den vergessenen Krisen. Nun ist das Land auf Platz vier gerutscht, „doch das hat wenig damit zu tun, dass sich die Lage in dem südafrikanischen Staat verbessert“, heißt es dort. Die Hälfte der Bevölkerung muss demnach mit weniger als 1,90 Euro am Tag auskommen. 60 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Im Welt-Hunger-Index liegt das Land auf Platz 108 von 121. Etwa 13 Prozent der Menschen leiden unter Nahrungsmittelknappheit, etwa 6,1 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sterben an Unterernährung. Dazu kommt, dass mehr als 10 Prozent der Bevölkerung mit HIV infiziert sind – 2021 starben etwa 19.000 Menschen an Aids.
Wie in vielen Staaten der Subsahara zeigt sich in Sambia die Klimakrise. Trockenperioden halten lange an, die Temperaturen sind extrem hoch. Insektenschwärme und Überschwemmungen vernichten Ernten, was sich wiederum auf den Ernährungsmangel auswirkt. „Es ist eine Gemeinsamkeit der zehn vergessenen Krisen, dass alle mit Folgen des Klimawandels kämpfen“, betont Taprogge von Care.
Tschad: Unruhen und Überschwemmungen
Seit 2015 leiden die Menschen im Tschad unter einem gewaltsamen Konflikt. Mitte Oktober 2022 gingen Tausende von Menschen auf die Straße, um gegen die militärische Übergangsregierung und für demokratische Wahlen zu demonstrieren – Dutzende von Menschen wurden getötet und Hunderte verletzt.
Insgesamt sind in dem Land 6,1 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Vier Millionen Menschen brauchen Nahrungsmittelhilfe, darunter 1,7 Millionen Kinder. Dies geht einher mit einer hohen Kindersterblichkeitsrate in dem Land: Im Tschad stirbt jedes zehnte Kind unter fünf Jahren. Laut dem Index der geschlechtsspezifischen Ungleichheit (Gender Inequality Index) liegt der Tschad zudem bei der Gleichstellung der Geschlechter weit hinten, auf Platz 165 von 191. Im Tschad heiraten mehr als zwei Drittel der Mädchen unter 18 Jahren, viele noch früher.
Burundi: Zwischen Naturkatastrophe und Wirtschaftskrise
Burundi ist eines der ärmsten Länder der Welt und war laut Care mit einer Ausnahme jedes Jahr in der Liste der vergessenen humanitären Krisen zu finden. Von den knapp 13 Millionen Einwohnenden leben mehr als 70 Prozent unterhalb der Armutsgrenze, 1,84 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe. Etwa 52 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind chronisch unterernährt. Auch hier zeigt der Klimawandel seine Folgen: Langanhaltende Dürren führen zu Wassermangel und Ernteausfällen. Das bringt die Menschen in Existenznot, denn für 90 Prozent der Einwohnenden ist die Landwirtschaft ihre Haupteinkommensquelle. Naturkatastrophen und vor allem Überflutungen sind die Hauptursache, warum 85.000 Menschen im Land ihr Zuhause aufgeben müssen.
Burundi befindet sich seit 2015 zudem in einer schweren Wirtschaftskrise. Der Krieg in der Ukraine und die damit fehlenden Importe aus Russland und der Ukraine nach Afrika verschärfen diese Situation. Dazu kommen eine hohe Inflationsrate und steigende Preise für Benzin.
Simbabwe: Klimaschocks vernichten Existenzgrundlagen
Simbabwe kämpft mit sogenannten Klimaschocks: Auf lange Phasen der Dürre folgen in Simbabwe oft schwere Regenfälle, die auf staubtrockenen Böden zu weitreichenden Überschwemmungen führen. Die Wetterextreme vernichten die Existenzgrundlage von großen Teilen der Bevölkerung. Etwa die Hälfte der rund 15,6 Millionen Einwohnenden lebt in extremer Armut. Ernährungsunsicherheit betrifft mehr als 5,8 Millionen Menschen. Etwa 74.000 Kinder sind akut unterernährt. Zudem ist das Gesundheitssystem durch eine hohe Zahl an Infektionen mit Malaria und durch die Versorgung von 1,3 Millionen Menschen, die mit HIV/Aids leben, schwer belastet.
Die Dürre und ihre Folgen bleiben zwar die größte Bedrohung für das Land, aber auch die wirtschaftlichen Bedingungen führen dazu, dass viele Familien ums Überleben kämpfen müssen. Die rasant steigende Inflation erschwert die Situation zusätzlich.
Mali: Ernährungskrise wird durch bewaffnete Konflikte verschärft
„Die Menschen leiden im Stillen. Wir müssen ihnen eine Stimme geben und mehr Hilfe mobilisieren“, sagt Awute vom Care über das Land, in dem viele Krisen aufeinandertreffen. Ein Satz, der sich wohl auf alle dieser vergessenen Krisen anwenden lässt. In Mali leben mehr als drei Viertel der 21 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner in Armut, mehr als 7,5 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe. Die Folgen einer anhaltenden Ernährungskrise werden durch bewaffnete Konflikte verschärft. Zwei Staatsstreiche im August 2020 und im Mai 2021 erschütterten das Land und brachten Instabilität und Verunsicherung. Auf der Flucht vor Gewalt oder als Vertriebene sind Hunderttausende Menschen heimatlos geworden.
Der Klimawandel zeigt sich in dem Land sowohl in häufig auftretenden Dürren als auch in Überflutungen, die dazu führen, dass in der Landwirtschaft Ernten ausfallen und Unterernährung sich weiter verbreitet. Mehr als 300.000 Kinder unter fünf Jahren sind von akuter Unterernährung betroffen. Mali lag im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen (HDI – Human Development Index) zuletzt weit hinten, auf Rang 184 von 189 Plätzen.
Kamerun: bewaffnete Gruppen und mangelndes Trinkwasser
Kamerun wurde in den letzten zehn Jahren wiederholt von humanitären Krisen heimgesucht. Der hohe Norden Kameruns ist seit 2014 durch den Aufstand nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen destabilisiert. 2022 kam es zu Überfällen auf die Zivilbevölkerung und militärische Stellungen. Seit 2016 herrscht zudem im Nordwesten und Südwesten des Landes ein hohes Maß an bewaffneter Gewalt. Viele Menschen mussten sich in anderen Teilen Kameruns in Sicherheit bringen. Rund eine Million Menschen aus Kamerun sind in ihrer Heimat auf der Flucht. Im Jahr 2022 waren insgesamt 3,9 Millionen Menschen in dem Land auf humanitäre Soforthilfe angewiesen – das entspricht etwa 14 Prozent der Bevölkerung.
Die unsichere Lage veranlasst die Bauern und Bäuerinnen auch dazu, ihre Felder aufzugeben. Das führt zu einem Rückgang der Produktion und einem Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel. Die seit Beginn des Krieges in der Ukraine gestiegenen Preise für Saatgut und Düngemittel tragen ebenfalls zur Ernährungsunsicherheit bei. Mehr als 1,8 Millionen Menschen benötigen zudem Zugang zu einer sicheren Trinkwasserversorgung und grundlegenden sanitären Einrichtungen. Durch überfüllte Unterkünfte ohne sauberes Wasser und ohne angemessene Abfallentsorgung sind die Menschen Krankheiten wie Cholera und Malaria ausgesetzt.
Niger: Krise im Herzen der Sahelzone
Niger ist ein Land der Rekorde – und kämpft dennoch mit einer humanitären Krise. Es ist eines der wärmsten Länder, hat die höchste Geburtenrate und das höchste Bevölkerungswachstum weltweit, auch wenn das Land mittlerweile Reformen eingeleitet hat, um das Bevölkerungswachstum einzubremsen. Doch im HDI der Vereinten Nationen, der mit Gesundheit, Wissen und Einkommen drei grundlegende Aspekte der menschlichen Entwicklung erfasst, liegt Niger weit hinten. Naturkatastrophen wie wiederkehrende Wetterextreme, ein hohes Maß an Ernährungsunsicherheit und Unterernährung treffen hier auf einen begrenzten Zugang zu grundlegenden sozialen Dienstleistungen. Armut ist weit verbreitet und Landwirtschaft wird durch die klimatischen Bedingungen eingeschränkt. Viele Familien können sich deshalb selbst kaum durchbringen. Mehr als 4,4 Millionen Menschen sind in dem Land laut Care akut von Ernährungsunsicherheit betroffen, das sind mehr als 17 Prozent der Bevölkerung. Etwa 6,8 Millionen Menschen haben das ganze Jahr über nicht genug zu essen. Fast die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren ist chronisch unterernährt. Zehntausende Menschen sind zudem auf der Flucht vor Angriffen bewaffneter Gruppen aus den Nachbarstaaten nach Niger gekommen.
Auch wenn in der deutschen Politik gerade klar die Krise und der Krieg in der Ukraine im Fokus stehen, werden die afrikanischen Länder nicht ganz vergessen. So reist Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) an diesem Donnerstag nach Äthiopien. Sie will zusammen mit der französischen Außenministerin Catherine Colonna unter anderem Gespräche mit der äthiopischen Regierung und der Regionalorganisation Afrikanische Union (AU) führen.