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„Politische Pornografie“Warum Fake-Bilder im Internet so gefährlich sind

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In Sozialen Medien kursiert seit Monaten ein gefälschtes Zitat des CDU-Politikers Erwin Rüddel.

Berlin – „Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor die Wahrheit sich die Schuhe anzieht“, hat Mark Twain geschrieben. Gut 150 Jahre ist das her, am Prinzip jedoch hat sich nichts verändert: Das süße Gift der Lüge verbreitet sich rasend schnell - die mitunter sperrige Wahrheit kommt kaum hinterher. Das galt im Dampfmaschinenzeitalter bei Mark Twain, das galt in den Propagandaschlachten des Kalten Krieges und das gilt im Digitalzeitalter erst recht.

Seit drei Monaten kursiert in sozialen Medien ein gefälschtes Zitat des CDU-Gesundheitspolitikers Erwin Rüddel. Der Mann war bis zum Regierungswechsel Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Bundestag. Rüddel hat dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) seinerzeit ein Interview gegeben, in dem er unter anderem folgenden Satz sagte: „Ich rechne mit vollständiger Normalität ab März 2022. Bis dahin müssen die Ungeimpften abwägen, was ihnen wichtig ist.“

Hunderte teilten das gefälschte Zitat

Das RND verbreitete das korrekte Zitat auch als sogenanntes Sharepic - als typografisch gestaltetes Zitat. Bereits kurz nach dem Gespräch jedoch tauchte eine Fälschung des Sharepics auf, in der Rüddel in RND-Optik das folgende Fake-Zitat in den Mund gelegt wird: „Ich rechne mit vollständiger Normalität ab März 2022. Bis dahin müssen die Ungeimpften der Endlösung zugeführt werden.“ Hunderte teilten das angebliche Zitat.

Rüddel dementierte. Das RND dementierte. RND-Chefredakteur Marco Fenske sprach von einer „widerlichen Zitatbox“, bei der es sich klar um eine Fälschung handle. „Wir werden den Fall bei der Zentralstelle für Hasskriminalität zur Anzeige bringen.“ Dennoch taucht das Fake-Zitat wie ein digitaler Kastenteufel seither immer wieder auf.

Am Sonntag verbreitete auch der Verschwörungsideologe, OnlyFans-Kanalbetreiber und frühere Schlagersänger Michael Wendler das falsche Bild in seinem Telegram-Kanal, einem wilden Sammelbecken für Coronaskeptiker, für die Wirklichkeit verlorene Schwurbler und guffelnde Katastrophentouristen. „Erwin Rüddel (CDU), spricht von Endlösung für ungeimpfte!“, schrieb Wendler dazu.

Das süße Gift der Emotion

Nein. Tut er nicht. Aber es wird gewiss niemanden verwundern, dass „der Wendler“ („Egal“) als Galionsfigur der Realitätsverweigerung keine Quellenrecherche vornimmt, bevor er seinen knapp 140.000 Followern auf der Knalltütenplattform Telegram wieder irgendeinen grellen Fake-Unsinn aufnötigt. Schließlich lebt er davon. Der Fall wirft jedoch ein Schlaglicht auf das mediale Dilemma, vor dem Urheber korrekter Zitate angesichts von populären Fälschungen stehen: Jede Berichterstattung leistet nicht nur der Wahrheit, sondern auch der möglichen Verbreitung von Fälschungen Vorschub. Und eine wirkungsvolle Korrektur von derlei Unfug ist sehr schwer.

Dazu müsste die Richtigstellung sich ähnlich explosiv verbreiten wie die Fälschung. Das jedoch widerspricht den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie, weil die Aufklärung nicht halb so emotional und spannend ist wie eine geschickte Lüge. Wir versuchen, diese Logik zu durchbrechen. Etwa mit diesem Text, den wir verlinken, wo immer wir Fake-News entdecken. Selbstverständlich gehen wir weiterhin auch juristisch gegen deren Verbreitung vor.

Fake News leben vom süßen Gift der Emotion. Sie sind politische Pornografie. Sie wirken wie ein Brandbeschleuniger für Ängste, Vorurteile, Selbstbestätigung. Das ist es, was sie so reizvoll und gefährlich zugleich macht. Es ist ein durchaus lukratives Geschäftsmodell nicht nur für intellektuell unbewaffnete Schlagersänger, sondern auch für klickhungrige Spalter und rechtsradikale Hetzer. Und paradoxerweise trauen Menschen ausgerechnet den Medien, die sie sonst als systempropagandistische Lügenpresse verunglimpfen, bereitwillig als Quelle für jedweden Unfug, sobald der Inhalt ins eigene Weltbild passt.

Der Mensch ist prädestiniert dafür, auf Blödsinn hereinzufallen

Die unbekannten Urheber von Fälschungen wie dem Fake-Zitat des CDU-Politikers machen sich dabei eine menschliche Eigenschaft zunutze: das Konsistenzmotiv. Wer sich zu einem Thema erst einmal eine Meinung gebildet hat, versucht, diese zu behalten und zu verteidigen - oft entgegen jeder Vernunft. Menschen nehmen tendenziell zur Kenntnis, was sie zur Kenntnis nehmen wollen. Warum? Das psychologische Ziel ist, vor sich selbst Bestand zu haben, innere Konflikte zu vermeiden und das eigene „Wissen“ möglichst frei von Widersprüchen zu halten. Damit ist der Mensch in seiner Denkweise geradezu prädestiniert dafür, auf emotionalen Blödsinn hereinzufallen.

In normalen Zeiten hilft die Sturheit des Geistes, die innere Balance zu wahren. In komplexen, zerrissenen Zeiten wie diesen wirkt derlei Dickfelligkeit verheerend auf die Verfasstheit der Gesellschaft. Humanistische Bildung und Aufklärung tun seit 200 Jahren ihr Möglichstes, um diesem Effekt entgegenzuwirken und die gefährdete Kulturtechnik des Erkenntnisgewinns zu stabilisieren, geraten bei manchem Zeitgenossen aber einfach an Kapazitätsgrenzen.

„Wahrheit ist, womit deine Zeitgenossen dich davonkommen lassen“

Denn unsere Einstellungen definieren unsere Identität. Das macht Menschen tendenziell unempfänglich für neue Erkenntnisse. Und genau deshalb werden all jene, die im Zorn über vermeintliche Endlösungsphantasien das falsche Zitat von Rüddel weiter verbreiten, die Tatsache, dass Rüddel den Satz nie gesagt hat, geflissentlich ignorieren. Die Nichtwahrnehmung der Wahrheit dient eben am Ende eines komplexen inneren Werteabgleichs der eigenen Psychohygiene. Keine professionelle Korrektur der Welt, keine Klage und kein noch so dringlicher Appell wird die Popularisierung einer cleveren Erfindung dauerhaft stoppen können, wenn sie einmal viral gegangen ist in einer Wahrnehmungsblase, zu der die Wahrheit keinen Zutritt hat.

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Hinzu kommt: Wahrheit ist ein abstraktes, fragiles Idealkonstrukt. Oder, wie der US-Philosoph Richard Rorty sagt: „Wahrheit ist, womit deine Zeitgenossen dich davonkommen lassen.“ In komplexen Zeiten mit bruchstückhafter Information und zersplitternder Kommunikation sind Menschen eben gern bereit, als wahr zu empfinden, was sie glauben wollen. Sie suchen Verbindendes im Unverbindlichen. Es ist exakt diese Erkenntnis, die sich Populisten zu eigen machen, die den Wahrheitsbegriff systematisch aushöhlen.

Das führt dazu, dass jede noch so absurde Behauptung wie die von der „Endlösung“ plötzlich wirkt, als könne sie doch einen Funken Wahrheit enthalten. Wenn nichts mehr „wahr“ ist, ist die Lüge auch keine Lüge mehr. Deutungsmacht ist reale Macht. Wir erleben eine tiefe Krise des Arguments. Die Verfechter dieser postmodernen Wahrheitsauflösung behaupten dabei gern, letzte Mythen auf den Müll zu werfen und den Denkraum zu weiten.

Die Symptome des Postfaktischen haben epidemische Ausmaße angenommen

Die Symptome des Postfaktischen haben nicht erst in der Coronakrise epidemische Ausmaße angenommen. Die frühere Piratenpolitikerin Marina Weisband, aufgewachsen in Kiew, fühlt sich an sowjetrussische Methoden erinnert: „Wenn ich Ihnen sage: ‚Der Himmel ist grün‘, dann ist es gar nicht so sehr mein Ziel, dass Sie mir auf Anhieb glauben“, schrieb sie jüngst. „Mein Ziel ist es vielmehr, so häufig zu behaupten, der Himmel sei grün, bis Ihre Ressourcen, den Widerspruch auszuhalten, erschöpft sind und Sie einlenken und sagen: ‚Das ist Ihre Meinung. Ich denke, der Himmel ist blau. Es gibt wohl keine Möglichkeit, die Farbe des Himmels objektiv festzustellen.‘ Steter Tropfen höhlt den Schädel.“

Nur Menschen, denen die Gepflogenheiten der Politik fremd und die Mechanismen der Mediendemokratie unbekannt sind und die genau deshalb ein ideales Publikum für digitale Rattenfänger sind, können ernsthaft annehmen, ein CDU-Politiker könnte im Zusammenhang mit Ungeimpften das Wort „Endlösung“ in den Mund genommen haben.

„Alles, was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch“, schrieb René Descartes. Das gilt bis zum Beweis des Gegenteils - erst recht für Sharepics mit Politikerzitaten zur Coronakrise. Allein: Es muss auch jemand wissen wollen.